Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 2 K 17.35274

Datum:
7.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 5174
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5
AsylG § 77 Abs. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Die allgemeine Versorgungslage ist in Afghanistan für alleinstehende arbeitsfähige junge Männer nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.  (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. März 2017 wird in Nr. 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2018 entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand erschienen ist, da in der Ladung zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen worden war, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beteiligten sind form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes ist im verfahrensgegenständlichen Umfang rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Zur Begründung wird auf die zutreffende Begründung in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG); lediglich ergänzend wird ausgeführt:
1. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG kommt nicht in Betracht, da dem Kläger keine gegen Art. 3 EMRK oder ein anderes Grundrecht nach der EMRK verstoßende Behandlung droht.
Die allgemeine (Versorgungs-)Lage in Afghanistan stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar. Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (vgl. jüngst VGH BW Urt. v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17; siehe auch BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167; BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem humanitären Gründe „zwingend“ sind. Eine solche Situation ist bei dem Kläger vorliegend nicht gegeben; besondere Umstände, die hier eine andere Beurteilung gebieten würden, sind nicht gegeben.
Solche Umstände ergeben sich insbesondere nicht aus dem Vortrag, der Kläger habe sein ganzes Leben im Iran verbracht und nie in Afghanistan gelebt. Zum einen geht das Gericht das Gericht mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, auch für solche Rückkehrer jedenfalls dann, wenn sie – wie der Kläger – eine der Landessprachen (hier: Dari) sprechen, die Chance besteht, insbesondere in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen. Maßgeblich ist zudem, dass der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen beherrscht, nicht, ob ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ gegeben ist (BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 7; B.v. 20.12.2016 – 13a ZB 16.30129 – juris Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, U.v. 5.12.2017 – A 11 S 1144/17 – juris). Dem Kläger ist es auch im Iran gelungen, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und Geld für seine Reise nach Europa zu sparen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass es ihm auch in Afghanistan gelingen wird, sein Existenzminimum zu sichern. Zum anderen bestehen erhebliche Zweifel an dem Vortrag des Klägers vor dem Bundesamt, er sei nie in Afghanistan gewesen. Zunächst hat der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, jedenfalls einmal für einen Zeitraum von 10 Tagen in Herat gewesen zu sein, um dort einen Studentenpass zu beantragen. Dies sei – so der Kläger auf mehrfache Nachfrage des Gerichts sowie seiner Bevollmächtigten – im Jahr 2006 gewesen. In dem im Original vorgelegten Studentenpass ist aber auch ein iranisches Visum enthalten, dessen Gültigkeit mit „10.07.2007 bis 09.08.2007“ angegeben ist. Der Kläger vermochte nicht zu erklären, was es mit diesem Visum auf sich hatte, wenn er doch nach eigenen Angaben im Jahr 2006 in Afghanistan gewesen sein will, dort den Pass beantragt und 10 Tage vor Ort gewartet haben will, um den ausgestellten Pass sodann mitzunehmen. Es drängt sich vielmehr die Annahme auf, dass der Kläger mehrfach in Afghanistan war. Hinzu kommt vorliegend: Laut Akten des Bundesamts wird der Kläger mit dem Geburtsjahr 1992 geführt. In der Übersetzung einer Heiratsbescheinigung wird das Geburtsjahr des Klägers mit 2002 angegeben. Die Bevollmächtigte des Klägers schließlich hat als Geburtsjahr 1986 angegeben. Legt man den Vortrag der Klägerseite zu Grunde, dass es sich bei den Angaben „1992“ und „2002“ um Umrechnungsfehler handle, so liegt dem zu Grunde, dass das mit dem Jahr 1371 angegebene Geburtsjahr des Klägers im islamischen Kalender korrekt ist. Die Umrechnung eines islamischen Kalenderjahrs in ein gregorianisches Kalenderjahr kann aber – bei aller Vergröberung – als Faustregel durch die Addition der Zahl 621 erfolgen. Danach kommt man aber beim Kläger gerade schon zu dem Jahr 1992 und jedenfalls bei Weitem nicht zum klägerseits angegebenen Jahr 1986. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vortrag des Klägers insgesamt unglaubhaft, da er dann bei Aufnahme seines Studiums im Iran – hierzu hat der Kläger angegeben, er habe ab 2004 studiert – erst etwa 12 Jahre alt gewesen sei.
Nichts anderes folgt auch aus dem Vortrag des Klägers, im Iran lebten seine Frau und die gemeinsame Tochter, für die er unterhaltspflichtig sei. Zutreffend verweist die Bevollmächtigte des Klägers auf die wohl herrschende Rechtsprechung, nach der jedenfalls bzw. nur einem jungen, gesunden, erwerbsfähigen Mann ohne Unterhaltslasten die Rückkehr im Lichte des Art. 3 EMRK zumutbar ist. Allerdings versteht das Gericht das Bestehen einer Unterhaltspflicht in dem Sinne, dass der Rückkehrer entweder mit seiner Familie nach Afghanistan zurückkehrt oder bei einer Rückkehr dort wieder auf sie treffen wird. Lebt die Familie dagegen schon jetzt in einem anderen Land, steht dies einer Rückkehr im Lichte des Art. 3 EMRK nicht entgegen. Abgesehen davon gibt es erhebliche Zweifel an dem Bestehen einer Unterhaltspflicht des Klägers. Unter Verweis auf die oben ausgeführten Zweifel an der Jahresangabe 1986 ist vom Jahr 1992 als Geburtsjahr und damit davon auszugehen, dass der Kläger in Bezug auf seine Identität unrichtige Angaben gemacht hat. Das Gericht glaubt dem Kläger daher auch nicht, dass im Iran seine Frau und Kind leben.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.
Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht aufgrund der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan keine extreme Gefahr infolge einer Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG führen könnte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte, der sich das erkennende Gericht anschließt, ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (stRspr, z.B. jüngst VGH BW Urt. v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17; im Übrigen siehe BayVGH, B.v. 12.4.2018 – 13a ZB 18.30135 – juris; B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31652 – juris; B.v. 21.8.17 – 13a ZB 17.30529 – juris; B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254 – juris; BayVGH, B.v. 23.1.2017 pro – 13a ZB 17.30044 – juris; B.v. 27.7.2016 – 13a ZB 16.30051 – juris; B.v. 15.6.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17 m.w.N..; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; VGH BW, U.v.11.4.2018 – A 11 S 924.17 – juris Rn. 470; U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241.17 – juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 73 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 – 1 A 144/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – juris).
Auch aus den aktuellsten Erkenntnismitteln, namentlich den Berichten des AA vom 31. Mai 2018, der EASO vom Juni 2018, der UNAMA (Midyear Update 1. Halbjahr 2018) und des UNHCR vom 30. August 2018, ergibt sich nichts anderes. Hierzu wird vollinhaltlich auf die vorstehenden Ausführungen unter Nr. 1 verwiesen werden. Nachdem das Gericht davon ausgeht, dass für den Kläger eine interne Schutzmöglichkeit in Herat besteht und deren Voraussetzungen über diejenigen im Rahmen des Vorliegens einer extremen Notlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinausgehen, ist auch ein Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift abzulehnen.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG aufgrund von etwaigen gesundheitlichen Einschränkungen liegt ebenfalls nicht vor. Der Kläger hat insofern auch nichts vorgetragen.
2. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG bestehen schließlich ebenfalls keine Bedenken.
3. Soweit sich der Kläger gegen die Aufhebung der Anordnung in Nr. 6 des Bescheids (Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots) richtet, ist sie begründet. Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Bescheid enthält insoweit keine hinreichend bestimmte Befristung, da sie „auf Abschiebung ab dem Tag der Abschiebung“ formuliert ist. Das ergibt offensichtlich keinen Sinn. Dass in den Gründen insoweit auf 30 Monate abgestellt wird, kann dem insoweit völlig unbestimmten Bescheidstenor aber nicht zur Rechtmäßigkeit verhelfen.
Nach alledem war die Klage mit Kostenfolge für den Kläger abzuweisen, da die Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (§ 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; vgl. BayVGH, B.v. 11.10.2018 – 21 B 18.30691 – juris Rn. 24). Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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