Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Syrer in wehrdienstfähigem Alter

Aktenzeichen  M 7 K 17.30759

Datum:
5.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 43216
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 3 S. 2, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

1 Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht vorliegend aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger, der sich jedenfalls im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Aus den Erkenntnisquellen geht übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle – insbesondere den Flughafen Damaskus – zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird.  (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
4 § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG kommt in Betracht, wenn der Betroffene das Mandats- bzw. Einsatzgebiet des UNRWA gezwungenermaßen verlässt, was auch dann bejaht werden kann, wenn Anlass hierfür der Umstand ist, dass er sich in „einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dieser Organisation unmöglich ist, ihm in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen“. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Dezember 2016 wird in Nr. 2 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
1. Soweit der streitgegenständliche Bescheid in Nr. 2 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers ablehnt, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer u.a. Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2 Buchst. a.).
Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer unterstellten Rückkehr in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist anzunehmen, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Dies kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch aus Ereignissen resultieren, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Eine solche begründete Furcht vor Verfolgung besteht vorliegend aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger, der sich jedenfalls im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 juris Rn. 23 ff.; BayVGH, U.v. 14.2.2017 – 21 B 16.31001 – juris Rn. 20 ff.; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris Rn. 31 ff.). Das Gericht geht nach der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ drohen. Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber für den Erhalt ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei einer Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung, als Oppositionellen behandeln und einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterziehen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 – a.a.O. Rn. 25).
Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Prinzipiell rekrutiert das syrische Regime dabei alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund. Seither kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung v. 18.1.2018; BayVGH, U.v. 12.12.2016 – a.a.O. Rn. 61 ff.).
Aus den Erkenntnisquellen geht weiter übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle – insbesondere den Flughafen Damaskus – zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Dabei ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Nach verschiedenen aktuellen Erkenntnisquellen sind dabei Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden.
Aus den verstärkten Mobilisierungsversuchen ergibt sich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger für die Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit für die Wiederherstellung und den Erhalt der Macht von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. An diese unterstellte oppositionelle Gesinnung knüpft bei einer Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und der Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 3e AsylG steht dem Kläger den o.g. Erkenntnisquellen folgend – und auch nach Ansicht der Beklagten, da § 3e AsylG auch im Rahmen des gewährten subsidiären Schutzes zu prüfen war (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) – nicht zur Verfügung. Auch dafür, dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3, Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.
Ob der Kläger als Palästinenser zugleich auch § 3 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AsylG unterfällt – was aufgrund seiner Flucht aus Damaskus zumindest nicht ausgeschlossen ist – brauchte daher nicht näher aufgeklärt zu werden. Demnach ist ein Ausländer, der den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen gemäß Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention – GFK – genossen hat, dem aber ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen endgültig geklärt worden ist. Diese Regelung bezieht sich auf die Palästina-Flüchtlinge, die in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Gaza-Streifen oder im Westjordanland (W. Bank) leben und vom UNRWA betreut werden. Die einschlägigen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention sind dabei nach Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 GFK „ipso facto“ anwendbar, d.h. unmittelbar und ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft bedürfte, mithin unabhängig davon, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegen, denn § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG ist eine Rechtsfolgenverweisung (vgl. grundsätzlich EuGH, U.v. 19.12.2012 – C-364/11 – juris Rn. 71 ff.; OVG Saarl., U. v. 18.1.2018 – 2 A 521/17 – juris Rn. 20; U.v. 26.4. 2018 – 1 A 603/17 – juris Rn. 19 ff.). Insbesondere kommt § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG in Betracht, wenn der Betroffene das Mandats- bzw. Einsatzgebiet des UNRWA gezwungenermaßen verlässt, was auch dann bejaht werden kann, wenn Anlass hierfür der Umstand ist, dass er sich in „einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dieser Organisation unmöglich ist, ihm in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen“ (vgl. EuGH, U.v. 19.12.2012 – juris Rn. 63).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben