Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Syrien

Aktenzeichen  M 13 K 16.32252

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 139164
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3a Abs. 1, § 3b Abs. 2, § 3c Nr. 1, § 28 Abs. 1a
VwGO § 101 Abs. 2, § 113 Abs. 5 S. 1, § 154 Abs. 1

 

Leitsatz

Bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien droht in Anknüpfung an eine wegen Ausreise trotz bevorstehenden Militärdienstes (unterstellte) oppositionelle Gesinnung die beachtlich wahrscheinliche Gefahr, bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziff. 2. des Bescheides des Bundesamtes für … vom 3. August 2016 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die zulässig erhobene Klage kann aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten, das für die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 für alle Verwaltungsstreitsachen wegen Verfahren nach dem Asylgesetz erklärt worden ist, nach § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die Klage hat in der Sache Erfolg, da dem Kläger ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), neu gefasst durch das Gesetz zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2008 (BGBl I S. 3474), ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich außerhalb seines Herkunftslandes aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe befindet. Diesem Flüchtling wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG), soweit nicht bestimmte, in § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG geregelte Exklusionsklauseln den Flüchtlingsschutz ausschließen.
Als Verfolgungshandlung, die den Flüchtlingsschutz im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auslösen, gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG entweder Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder solche Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in vorstehend beschriebener Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
Neben der staatlichen Verfolgung (§ 3c Nr. 1 AsylG) kann die Verfolgungshandlung auch von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den vorgenannten Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob der Flüchtling tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen beim Kläger vor. Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.
a) Das erkennende Gericht geht (wie auch eine Vielzahl anderer Gerichte; vgl. etwa HessVGH, B.v. 21.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A.; VGH BW, B.v. 19.6.2013 – A 11 S 927/13 und B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; OVG LSA, U.v. 18.7.2012 – 3 L 147/12; VG Düsseldorf, GB.v. 10.8.2016 – 3 K 7501/16.A; VG Regensburg, U.v. 6.7.2016 – RN 11 K 16.30889; VG Köln, U.v. 26.6.2014 – 20 K 4130/13.A; VG Frankfurt, U.v. 26.9.2014 – 3 K 1489/13.A; VG Augsburg, U.v. 25.11.2014 – Au 2 K 14.30422; alle in juris) auf der Grundlage einer Gesamtschau der Erkenntnis zu den Verhältnissen in Syrien davon aus, dass Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten hätten und bereits diese Befragung eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslösen würde (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG; zur Situation in Syrien siehe Auswärtiges Amt – AA -, Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 3.2.2016 zur Gefahr von Sanktionen und Übergriffen gegenüber Rückkehrern; Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.2.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage – Foltergefahr, Haftbedingungen – siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. AA, Lagebericht vom 27.9.2010, S. 19 f., AA, Ad hoc-Ergänzungsbericht vom 7.4.2010 sowie Amnesty International – AI -, Bericht vom 14.3.2012, „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“; siehe zur aktuellen Situation weiter die AI-Jahresberichte 2012 bis 2015 – dort auch zur Praxis des „Verschwindenlassens“; dazu, dass das Fehlen von „Referenzfällen“ einer prognostischen Wertung in diesem Sinne nicht entgegensteht, vgl. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 – 14 A 2708/10.A – juris).
b) Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen dabei auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. im Einzelnen BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Soweit das Auswärtige Amt in einer aktuellen Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 3. Februar 2016 ausführt, dass keine Erkenntnisse dazu vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten, so bedeutet dies nicht, dass eine derartige Behandlung von Rückkehrer aus dem westlichen Ausland unwahrscheinlich ist. Denn es sind nach der Auskunft Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Diese stehen überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern), aber auch in Zusammenhang mit einem (nicht abgeleisteten) Militärdienst.
Auch dürfte nach Meinung des Gerichtes insofern von einer Verschärfung der Gefährdungslage für Rückkehrer auszugehen sein, weil sich die Gewinnung von Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten aus Sicht des syrischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund der Parteinahme einer Vielzahl westlicher Staaten für Teile der Opposition (der syrische Bürgerkrieg weist auch Elemente eines Stellvertreterkrieges auf) als bedeutsamer als zu Beginn der Unruhen darstellen dürfte.
c) Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzu-nehmende) Gefährdung des Klägers (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 – 3 N 91.13; a.A. OVG NRW, B.v. 13.2.2014 – 14 A 215/14.A; alle in juris).
d) Eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht.
Da eine geordnete Rückkehr aus Deutschland im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) stets nur über den vom syrischen Regime kontrollierten Flughafen in Damaskus unter vorheriger Ankündigung bei den syrischen Behörden erfolgen würde, besteht die wahrscheinliche Gefahr, im Falle einer Rückkehr bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein.
e) Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegenstehen könnte.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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