Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Ausreise bzw. längeren Aufenthalts im Ausland trotz Militärdienstpflichtigkeit

Aktenzeichen  M 22 K 17.33254

Datum:
28.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20386
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 1, Abs. 2, § 28 Abs. 1a
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Es ist davon auszugehen, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird und diese anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten u.a. darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Hinsichtlich des für die Beurteilung der Gefahrenprognose relevanten Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit kommt es darauf an, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung bzw. für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Auskunftslage rechtfertigt die Einschätzung, dass der syrische Staat wehrdienstpflichtigen Männern, die unerlaubt ausgereist sind bzw. sich länger insbesondere im westlichen Ausland aufgehalten haben, eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellen wird. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4 Es muss davon ausgegangen werden, dass die Wehrdienstentziehern und Deserteuren drohende menschenrechtswidrige Behandlung, auch wenn sie daneben eine Disziplinierung im Hinblick auf den Erhalt des Bestands und der Kampfkraft des Militärs bezweckt, zumindest auch der Einschüchterung und der Bestrafung für die unterstellte regimefeindliche Gesinnung dient. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom … wird in Nr. 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg, da der Kläger Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
– aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
– außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
– dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
– in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
§ 3 Abs. 2 und 3 AsylG beinhalten Exklusionsklauseln u.a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).
Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutzes regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 AufenthG (weitere Ausschlussklauseln bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit; für den Fall des Satzes 3 nur, wenn das Bundesamt von einer Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht).
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen beim Kläger vor.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG) bzw. die durch die Ausreise (mit-)bedingt sind. Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend im Hinblick auf die Gefährdungen in Zusammenhang mit einer Rückkehrerbefragung (bzw. sonst für den Fall eines Aufgriffs des Klägers durch syrische Sicherheitsbehörden) gegeben, wobei für die Gefahrenbewertung entscheidend ist, das zu erwarten wäre, dass dem Kläger wegen der Flucht in das Ausland bzw. wegen des Verbleibens dort trotz Militärdienstpflichtigkeit eine oppositionelle Haltung zugeschrieben würde und er deshalb Verfolgungshandlungen zu gewärtigen hätte. Für den Fall, dass der Kläger in sein Heimatland zurückkehren müsste, wäre danach davon auszugehen, dass er einer beachtlich wahrscheinlichen Gefährdung, Opfer menschenrechtswidriger Handlungen zu werden, ausgesetzt wäre (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und diese Gefährdung im Sinne von §§ 3a Abs. 3 und 3b Abs. 2 AsylG jedenfalls an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmlale anknüpfen würde.
Dazu ist Folgendes auszuführen:
In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von jedenfalls 42 Jahren. Es liegen aber auch Berichte vor, wonach das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile auf 45 Jahre oder älter angehoben wurde, wobei es hierzu keine offizielle Regelung zu geben scheint. Je nach Gebiet und Fall sollen danach Reservisten auch im Alter von 50 bis 60 Jahren noch zum aktiven Dienst einberufen werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe – SFH –, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 4 f.; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA –, Länderinformationsblatt Syrien, vom 05.01.2017 S. 24). Anlass hierfür dürften die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs in den ersten Kriegsjahren gewesen sein. Bereits im März 2012 wurde eine Quasi-Reisesperre für Männer im wehrdienstpflichtigen Alter erlassen. Die Ausreise bedarf danach der Bewilligung durch die Armee. Darüber hinaus ist eine Kaution zu hinterlegen (vgl. SFH vom 23.03.2017, S. 13 f.). Insbesondere seit 2014 wurden die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten erheblich intensiviert (SFH vom 23.03.2017, S. 2 f.; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28.03.2015, S. 2 ff.). Es kommt auch immer wieder zu Verhaftungskampagnen und Razzien mit dem Ziel, wehrdiensttaugliche Männer zwangszurekrutieren und Wehrdienstentzieher bzw. Deserteure aufzugreifen. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert (SFH vom 28.03.2015, S. 2 ff.; SFH vom 23.03.2017, S. 6 ff.; BFA vom 05.01.2017, S. 23). Die Strafpraxis in Fällen der Wehrdienstentziehung und bei Desertion ist soweit ersichtlich durchgängig von Willkür geprägt (vgl. SFH vom 23.03.2017, S. 10 ff.).
Es ist schließlich davon auszugehen, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird und diese anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten u.a. darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Generell gilt im Übrigen, dass Rückkehrer der Willkür der Grenzbeamten schutzlos ausgeliefert sind. Die Sicherheitsorgane haben freie Hand, wie sie mit Rückkehrern verfahren, und es gibt keine Schutzmechanismen, wenn eine Person verdächtigt oder deshalb misshandelt wird. Vor diesem Hintergrund sind Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden (SFH vom 21.03.2017, Syrien: Rückkehr, S. 7 ff.; BFA vom 05.01.2017, 41 f.; zur Situation in Syrien allgemein und zur Bewertung des Risikos einer menschenrechtswidrigen Behandlung aus Anlass einer Rückkehrerbefragung siehe weiter UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung vom November 2015; UNHCR, Feststellung des internationalen Schutzbedarf von Asylsuchendenden aus Syrien – „illegale Ausreise“ und verwandte Themen, Februar 2017; Auswärtiges Amt – AA –Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 03.02.2016; AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage – Foltergefahr, Haftbedingungen – siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. auch AA, Lagebericht vom 27.09.2010, S. 19 f.; AI-Jahresberichte 2012 bis 2016 – dort auch zur Praxis des Verschwindenlassens).
Was den für die Beurteilung relevanten Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angeht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“; vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.1/10 – juris). Es kommt danach darauf an, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung bzw. für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Gefordert ist insoweit eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des sich aus den gegebenen Umständen ableitbaren Gefährdungs- bzw. Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und in Ansehung des anzunehmenden Verfolgungsrisikos eine Rückkehr folglich nicht zumutbar erscheint (vgl. auch BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris und U.v. 1.6.2011 a.a.O., juris Rn. 24).
Auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnisse ist hier nach Auffassung des Gerichts allein die Einschätzung gerechtfertigt, dass eine entsprechende Verfolgungsgefahr gegeben ist – das Ansinnen einer Rückkehr in Ansehung der drohenden Risiken einem besonnenen Menschen also nicht zuzumuten wäre – und daher für die Prüfung davon auszugehen ist, dass dem Kläger für den Fall seiner Rückkehr nach Syrien allein wegen der Ausreise bzw. einem längeren Aufenthalt im Ausland trotz Militärdienstpflichtigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohen würden.
Weiter rechtfertigen diese Erkenntnisse unter Berücksichtigung der den Konflikt wesentlich mitprägenden Umstände – vor allem der ideologischen Radikalisierung der verschiedenen Parteien, der seit jeher bestehenden Unduldsamkeit des syrischen Regimes gegenüber als oppositionell eingestuften Bestrebungen oder auch nur Meinungen sowie der Politik des Regimes, Bevölkerungsgruppen mit Blick auch auf Umstände, die dies nicht nahelegen, mangelnde Unterstützung zu unterstellen (siehe dazu UNHCR vom November 2015, insbes. S. 12 ff.) – auch die Einschätzung, dass der syrische Staat wehrdienstpflichtige Männer, die unerlaubt ausgereist sind bzw. sich länger insbesondere im westlichen Ausland aufgehalten haben, eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellen wird – dies ausdrücklich feststellend UNHCR vom Februar 2017, S. 23 mit Fußnote 113 –, und zwar ungeachtet des Umstands, ob die Absicht, sich dem Wehrdienst zu entziehen, der Grund für das Verlassen des Landes war und, so dies der Fall gewesen sein sollte, dass sicherlich eine Vielzahl der Betroffenen primär von nicht politischen Motiven zu ihrem Handeln bewogen wurde und dies den syrischen Behörden natürlich auch bekannt ist. Angesichts dessen muss davon ausgegangen werden, dass die Wehrdienstentziehern und Deserteuren drohende menschenrechtswidrige Behandlung, auch wenn sie daneben eine Disziplinierung im Hinblick auf den Erhalt des Bestands und der Kampfkraft des Militärs bezweckt, zumindest auch der Einschüchterung und der Bestrafung für die unterstellte regimefeindliche Gesinnung dient und daher in einem solchen Fall die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen.
So verhält es sich auch im zu entscheidenden Fall, da der Kläger noch im wehrdienstpflichtigen Alter ist und irgendwelche Umstände, die eine von Vorstehendem abweichende Gefahrenprognose nahelegen könnten, nicht ersichtlich sind.
Eine interne Schutzmöglichkeit für Rückkehrer (vgl. § 3e AsylG) besteht derzeit in Syrien nicht (siehe dazu die oben angeführten Erkenntnismittel, die auf die aktuelle Situation in Syrien eingehen).
Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder Satz 3 AufenthG entgegenstehen könnte.
Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass der Kläger Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG beanspruchen kann.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläu-figen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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