Verwaltungsrecht

Zumutbare Anforderungen an die Beschaffung eines Identitätspapiers (hier: Tazkira)

Aktenzeichen  AU 6 K 17.235

Datum:
2.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 3, § 5, § 8, § 25 Abs. 5, § 25a
BayVwZVG Art. 21 a BayVwZVG.

 

Leitsatz

1 Als zumutbare Mitwirkung an der Beschaffung eines Identitätspapiers gilt es, in der den Bestimmungen des deutschen Passrechts, insbesondere den § 6 und § 15 PassG, entsprechenden Weise an der Ausstellung mitzuwirken und die Behandlung eines Antrags durch die Behörden des Herkunftsstaats nach dessen Recht zu dulden, sofern dies nicht zu einer unzumutbaren Härte führt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2 Zumutbar ist es danach insbesondere, in einem Antrag alle Tatsachen anzugeben, die zur Feststellung der Identität der Person und seiner Eigenschaft als Staatsangehöriger seines Herkunftsstaats notwendig sind und die entsprechenden Nachweise zu erbringen (BayVGH BeckRS 2014, 51259). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine positive Integrationsprognose erfordert eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat in dem für die Sach- und Rechtslage entscheidungserheblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung weder einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis noch auf erneute Verbescheidung seines Antrags. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Gem. § 8 Abs. 1 AufenthG finden auf die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Allein aus der nur befristet erteilten Aufenthaltserlaubnis kann sich der Kläger nicht auf schützenswertes Vertrauen in ihre Verlängerung berufen.
2. Ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 8 Abs. 1, § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG scheitert schon daran, dass die freiwillige oder zwangsweise Ausreise des Klägers nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen dauerhaft unmöglich ist. Eine Unmöglichkeit läge nur dann vor, wenn etwaige Hindernisse nicht in absehbarer Zeit beseitigt würden oder wegfielen (siehe Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25 AufenthG, Rn. 103 f.).
a) Die zwangsweise Ausreise des Klägers im Zuge einer Sammelabschiebung war bereits für den 31. Mai 2017 vorgesehen, weshalb der Kläger sich bereits ab 29. Mai 2017 in Ausreisegewahrsam befand. Die insoweit nötigen Heimreisedokumente lagen vor und die afghanischen Behörden stimmten der Rückübernahme des Klägers zu. Die Abschiebung vom 31. Mai 2017 fand allein wegen der Absage des Fluges nicht statt. Daher ist zu erwarten, dass eine Abschiebung des Klägers in absehbarer Zeit tatsächlich möglich ist. Ein Abschiebungsstopp gem. § 60a Abs. 1 AufenthG besteht nicht.
b) Selbst wenn – wie nicht – eine Unmöglichkeit der Ausreise vorliegen sollte, weil der Kläger über keinen Pass oder ein sonstiges identitätsnachweisendes Dokument verfügt, besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gem. Art. 25 Abs. 5 AufenthG, da der Kläger dieses etwaige Ausreisehindernis selbst verschuldet hat, Art. 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG. Der Kläger ist seinen bestehenden Mitwirkungs- und Initiativpflichten nicht nachgekommen.
Als zumutbare Mitwirkung an der Beschaffung eines Identitätspapiers gilt es, in der den Bestimmungen des deutschen Passrechts, insbesondere den § 6 und § 15 PassG, entsprechenden Weise an der Ausstellung mitzuwirken und die Be-handlung eines Antrags durch die Behörden des Herkunftsstaats nach dessen Recht zu dulden, sofern dies nicht zu einer unzumutbaren Härte führt. Dies gilt erst recht entsprechend, wenn – wie hier – nicht die Beschaffung eines Passes verlangt wird, sondern nur einer Tazkira. Zumutbar ist es danach insbesondere, in einem Antrag alle Tatsachen anzugeben, die zur Feststellung der Identität der Person und seiner Eigenschaft als Staatsangehöriger seines Herkunftsstaats notwendig sind und die entsprechenden Nachweise zu erbringen (vgl. zur Passbeschaffung BayVGH, B.v. 14.4.2014 – 10 C 12.498 – juris Rn. 8 m.w.N.). Die Zumutbarkeit beurteilt sich darüber hinaus nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BayVGH a.a.O. Rn. 9), wobei der Ausländer an allen Handlungen mitwirken muss, die die Behörden zulässigerweise von ihm verlangen. Die behördlichen Hinweise müssen so gehalten sein, dass für den Ausländer hinreichend erkennbar ist, welche Schritte er zu unternehmen hat; ein bloßer allgemeiner Verweis auf bestehende Mitwirkungspflichten oder die Wiedergabe des Gesetzestextes wird diesen Anforderungen nicht gerecht. In aller Regel ist die Behörde angesichts ihrer organisatorischen Überlegenheit und sachlichen Nähe, ihrer Kontakte und Kenntnisse besser in der Lage, die bestehenden Möglichkeiten zu erkennen und die entsprechenden Schritte in die Wege zu leiten. Daher hat in erster Linie die Ausländerbehörde nach Möglichkeiten für die Beseitigung von Hindernissen zu suchen. Der Ausländer ist aber auch gehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen. Eine Grenze bildet dabei die Frage, welche Möglichkeiten ihm bei objektiver Betrachtungsweise bekannt sein können. Der Ausländer und die Behörde müssen sich gemeinsam um die Beseitigung von Hindernissen kümmern; ihre Pflichten stehen in einem Verhältnis der Wechselseitigkeit. Keine Seite kann von der anderen verlangen, dass diese allein sich um die Beseitigung bestehender Hindernisse bemüht (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2011 – 19 C 11.1664 – juris Rn. 6). Ein Ausreisepflichtiger darf auch nicht völlig untätig und passiv bleiben und nur darauf warten, welche weiteren Handlungen die Behörde von ihm verlangt. Er kann sich folglich auch nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten stützen, die ihm konkret vorgegeben werden (VGH München, U.v. 23.3.2006 – 24 B 05.2889). Vielmehr ist auch der ausreisepflichtige Ausländer gehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen, um nach Möglichkeiten zu suchen, das bestehende Ausreisehindernis zu beseitigen. Hierzu gehört etwa die Beschaffung von Identitätsnachweisen im Heimatland über Dritte, die Benennung von Zeugen usw. Der Ausländer hat sich zumindest Gedanken darüber zu machen (und diese dann auch in die Tat umzusetzen), welche Möglichkeiten für ihn bestehen, noch offene Punkte aufzuklären und zu beweisen (Initiativpflicht, siehe BayVGH, B.v. 19.12.2005 – 24 C 05.2856 – juris Rn. 38).
Der Beklagte hat den Kläger mehrfach über die Verpflichtung zur Beschaffung eines Identitätspapiers belehrt und ihn wiederholt darauf hingewiesen, dass die Beschaffung von Dokumenten u.a. über Verwandte oder Vertrauensanwälte erfolgen kann. Insbesondere wurde der Kläger mehrfach in persönlichen Gesprächen aufgefordert, sich zur Identitätsklärung das Original der Tazkira von seinem Großvater schicken zu lassen und zur Passbeschaffung einen Antrag beim afghanischen Generalkonsulat auf Erteilung einer Tazkira zu stellen. Indes hat der Kläger – auch nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2014 – seine Tazkira nie vorgelegt und auch keinerlei Nachweise (z.B. Mitteilungen an oder seitens des Großvaters) darüber erbracht, dass er sich um deren Erhalt überhaupt bemüht hat bzw. dass die Tazkira verloren gegangen ist.
Dieses Verhalten wiegt umso schwerer, als er zumindest mittelbar im Kontakt zu seinem Großvater stand, war dieser doch fähig, eine Kopie der Tazkira an den damaligen Klägerbevollmächtigten zu faxen. Auch war es dem Kläger Ende Juli 2017, also kurz vor der mündlichen Verhandlung und knapp sechs Jahre nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland, plötzlich möglich, eine Kopie der Tazkira seines Vaters vorzulegen. Der Kläger verfügt also durchaus über Kontakte zu Verwandten väterlicherseits und über Möglichkeiten, Dokumente aus der Heimat oder von Verwandten zu beschaffen. Dass der Kläger nun zum ersten Mal mit der Vorlage einer Kopie der väterlichen Tazkira eine Initiativhandlung zur Klärung seiner Identität und Passbeschaffung gezeigt hat, ist zwar positiv zu bewerten, kann aber für sich allein die schwerwiegenden Pflichtverletzungen der letzten sechs Jahre nicht soweit abmildern, dass ihn kein Verschulden i.S.d. § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG mehr trifft.
Seine Initiativpflicht hat der Kläger auch dadurch verletzt, dass er nur ein einziges Mal aufgrund seiner Zusicherung gegenüber dem Beklagten am 25. September 2014 im afghanischen Generalkonsulat einen Pass beantragt hat. Über diesen Antrag haben die afghanischen Behörden ersichtlich nicht entschieden. Nach Eintritt der Volljährigkeit und Abwarten einer angemessenen Frist hätte es dem Kläger oblegen, sich beim afghanischen Generalkonsulat über den Zwischenstand bezüglich seines Antrags zu erkundigen. Auch wäre er im Rahmen seiner Initiativpflicht gehalten gewesen, einen neuen Antrag zu stellen, sobald durch angemessenen Zeitablauf ersichtlich war, dass die afghanischen Behörden nicht mehr über seinen ersten Antrag entscheiden würden. Dies umso mehr, weil sich die Voraussetzungen der Passerteilung seitens der afghanischen Behörden immer wieder ändern und mittlerweile deutlich vereinfacht worden sind (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.7.2017 – Au 6 K 17.535 – Rn. 40 ff.). Inzwischen ist davon auszugehen, dass die Vorlage einer Kopie der Tazkira oder der dort vermerkten Registrierungsnummer für die Antragstellung genügt und es dem Kläger daher möglich wäre, nur mit seiner Kopie einen Antrag zu stellen. Die in der mündlichen Verhandlung geäußerte bloße Absicht, in Zukunft erneut eine Tazkira beantragen zu wollen, genügt nicht, insbesondere nicht in Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger den entsprechenden Aufforderungen des Beklagten nur ein einziges Mal im Rahmen der gerichtlichen Zusicherung im Jahre 2014 nachgekommen ist. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Kläger bisher keinen neuen Antrag gestellt hat.
c) Eine Ausreise ist ferner auch nicht deshalb rechtlich unmöglich gem. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, weil der Ausreise des Klägers schutzwürde Belange in Form familiärer Bindungen oder seines Privatlebens gem. Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK entgegenstünden.
Ein langjähriger Prozess der Verwurzelung des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland besteht nicht, er ist kein sog. „faktischer Inländer“. Maßgebliche Anhaltspunkte für eine Integration des Ausländers in Deutschland sind eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommen (VGH Kassel, B v. 15.2.2006 – 7 TG 106/06 – NVwZ-RR 2006, 826/827 m.w.N.).
Der Kläger erfüllt diese Anforderungen nicht. Er hat keinerlei Familie in Deutschland: Seine Kernfamilie lebt weiterhin im Iran, Großvater und Onkel in Afghanistan. Er beherrscht die deutsche Sprache nach knapp sechsjährigem Aufenthalt in Deutschland nur in Grundzügen. Er hat weder Ausbildungsnoch Arbeitsplatz und lebt seit seiner Einreise durchgehend von Sozialleistungen. Eine sonstige soziale Eingebundenheit des Klägers in die hiesigen Lebensverhältnisse ist nicht ersichtlich. Insbesondere spricht auch die Tatsache, dass nach über fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland die Teilnahme des Klägers an einem Integrationskurs im Beginnermodul 1 erforderlich war, gegen seine Verwurzelung.
Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger eine Berufsschule besucht hat und dort einen Abschluss gemacht hat. Schon während seiner Berufsschulzeit von November 2013 bis Juli 2015 gelang es dem Kläger nicht, ein gutes Sprachniveau zu erwerben, sondern lediglich Niveau A2. Sein Abschlussjahr 2014/2015 war von häufigen Fehlzeiten gekennzeichnet. Seinen Berufsschulabschluss hat der Kläger bereits im Juli 2015 gemacht und sich in der Zeit bis zum Beginn des zweiten Integrationskurses Ende Mai 2017 soweit ersichtlich nicht mehr um den Erhalt seiner Sprachkenntnisse bemüht. Des Weiteren ist auch zu berücksichtigen, dass dem Kläger eine Reintegration im Heimatland möglich ist. Dabei ist nicht entscheidend, dass sich der Kläger seit seinem Vorschulalter nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Betroffene eine der beiden Landessprachen (hier: Dari) spricht und als lediger junger Mann die Chance hat, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen (so auch BayVGH, B v. 29.6.17 – 13a ZB 17.30597). Der Schutz seines Privatlebens macht eine Ausreise nach Afghanistan folglich nicht rechtlich unmöglich.
3. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 a AufenthG zu, denn es ist nicht gewährleistet, dass sich der Kläger in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik einfügen kann, § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG.
Erforderlich wäre insoweit eine positive Integrationsprognose. Hierfür muss die begründete Erwartung bestehen, dass der ausländische Heranwachsende sich in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung (vgl. nur OVG Lüneburg, U.v. 19.3.2012 – 8 LB 5/11).
Nach zutreffender Auffassung des Beklagten, der sich das Gericht anschließt, fällt die Integrationsprognose beim Kläger negativ aus.
Positiv sprechen zwar für die künftige Integration des Klägers sein Abschluss der Berufsschule, das Vorhandensein von ihn unterstützenden „Pateneltern“ und die Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit. Diese Umstände vermögen es indes nicht, die gegenläufigen Umstände auszugleichen. Dabei fallen insbesondere seine nach fast sechsjährigem Aufenthalt nur geringen Sprachkenntnisse negativ ins Gewicht. Ohne hinreichende Sprachkenntnisse ist eine soziale und wirtschaftliche Integration erheblich erschwert, insbesondere eine erfolgreiche Bewerbung auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz.
Der Kläger hat sich zudem auch nicht ausreichend um einen Ausbildungsplatz oder eine Beschäftigung bemüht. Er hat keinerlei Nachweise über erfolgte Bewerbungen oder gar Vorstellungsgespräche eingereicht, sondern nur ab April 2016 Gespräche mit den zuständigen Behörden über seine weitere berufliche Laufbahn geführt. Der Kläger hätte mit Abschluss der Berufsschule im Juli 2015 selbst Initiative zeigen müssen und sich um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bemühen und sich bewerben müssen. Dass er erst achteinhalb Monate nach seinem Schulabschluss überhaupt ein Erstgespräch zu seiner beruflichen Zukunft führte, legt ebenfalls nahe, dass der Kläger sich nicht ernsthaft um eine wirtschaftliche Integration bemüht hat. Reine Absichtserklärungen, sich künftig unter Hilfestellung seiner „Pateneltern“ um einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz bemühen zu wollen, genügen angesichts seines bisherigen passiven Verhaltens nicht, um eine positive Integrationsprognose stellen zu können.
Entgegen dem Vorbringen des Klägerbevollmächtigten steht auch der verpflichtende Integrationskurs einer zumindest teilweisen Erwerbstätigkeit nicht entgegen. Der Kurs dauert jeweils Montag bis Freitag von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr. Dem Kläger wäre es zuzumuten, nachmittags zumindest einen Halbtagsjob anzunehmen, wollte er berufliche Erfahrung sammeln.
Gegen eine positive wirtschaftliche Prognose spricht auch, dass der Kläger bereits seine schulische Ausbildung nicht mit anhaltendem Engagement angegangen ist. Schon im vorbereitenden Sprachkurs fehlte der Kläger in erheblichen Umfang unentschuldigt. Ab Ende des Jahres 2014 wies er auch in der Berufsschule erhebliche unentschuldigte Fehlzeiten auf. Diese Verhaltensweise hat der Kläger insbesondere auch mit Erreichen der Volljährigkeit nicht abgelegt. So hat er sich im Februar 2017 vom ersten verpflichtenden Integrationskurs eigenmächtig abgemeldet, obgleich er zur Teilnahme verpflichtet war (§ 8 Abs. 3 Satz 2, § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Dem stand auch nicht entgegen, dass der Kläger eine Ausreiseaufforderung nebst Grenzübertrittsbescheinigung erhielt. Dies hätte den Kläger nur dann vom Besuch des Integrationskurses abgehalten, wenn er seiner Verpflichtung zur Ausreise nachgekommen wäre. Der Kläger ist jedoch weder ausgereist noch nahm er am Integrationskurs teil.
Der Integrationskurs ist auch keine schulische oder berufliche Ausbildung oder ein Hochschulstudium i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Dies ergibt sich in systematischer Hinsicht schon daraus, dass das Gesetz selbst explizit zwischen Integrationskurs und schulischer oder beruflicher Ausbildung unterscheidet. So besteht kein Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs, wenn der junge Erwachsene eine schulische Ausbildung aufnimmt oder fortsetzt (§ 44 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Durch dieses Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen schulischer Ausbildung einerseits und Integrationskurs andererseits wird deutlich, dass der Integrationskurs selbst gerade keine schulische Ausbildung ist. Dies gilt auch für eine berufliche Ausbildung (vgl. § 44a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Der Integrationskurs dient zudem überwiegend dem Erlernen der deutschen Sprache als Zweitsprache und dem Erwerb von Basiswissen über die deutsche Geschichte, Kultur, Rechtsordnung u.v.m. (§ 43 Abs. 2 AufenthG). Durch diese Zielsetzung unterscheidet er sich deutlich von einer schulischen oder beruflichen Ausbildung, die primär dem Erwerb speziellerer Allgemein- und Fachkenntnisse dienen.
Dass der Kläger derzeit den zweiten Integrationskurs mit Engagement und unter etwaiger Verbesserung seiner Sprachkenntnisse besucht, führt noch nicht zu einer positiven Integrationsprognose i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Demgegenüber überwiegt deutlich der gegen eine künftige Integration sprechende Umstand, dass nach knapp sechsjährigem Aufenthalt und Hauptschulabschluss des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch ein Integrationskurs im Modul 1 notwendig ist und dass der Kläger trotz Verpflichtung zur Teilnahme den Integrationskurs zunächst abbrach und erst seit 24. Mai 2017 wieder besucht.
Der Kläger ist ferner in Deutschland auch nur in sehr geringem Maße sozialisiert. Er hat keinerlei Verwandte in Deutschland. Das Vorhandensein von „Pateneltern“ in … seit Januar 2017 führt ebenfalls noch nicht zu einer positiven Integrationsprognose. Der Kontakt besteht erst seit knapp sieben Monaten und bezieht sich derzeit hauptsächlich auf Unterstützung in organisatorischen Angelegenheiten, beispielsweise der Ordnung der bisher „chaotischen Buchhaltung“ und der Begleitung zu einer Schuldnerberatung. Dass sich das Leben des Klägers bisher „zu Unordnung und leichtem Chaos entwickelt“ hat, er die Hilfe Dritter in Hinblick auf seine Buchhaltung benötigt und zudem erhebliche Schulden hat, spricht vielmehr ebenfalls dagegen, dass sich der Kläger in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland wird einfügen können. Eine positive Zukunftsprognose ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger einen Wohnortwechsel hin zu den „Pateneltern“ beantragt hat. Insoweit ist allein ein Antrag nicht ausreichend, um die zukünftige positive Entwicklung des Klägers zu unterstützen. Ein Wohnortwechsel selbst ist weder absehbar noch hinreichend in Aussicht gestellt. Eine gelegentliche Hilfsbereitschaft gegenüber einer älteren Dame begründet weder eine enge persönliche Beziehung noch ein besonderes soziales Engagement, das geeignet wäre, die erheblichen gegenläufigen Umstände auszugleichen. Die soziale Integration des Klägers ist damit nach sechs Jahren Aufenthalt noch misslungen ohne hinreichende Anzeichen auf eine baldige Änderung, so dass insoweit nicht von einer positiven sozialen Integrationsprognose ausgegangen werden kann.
4. Auch besteht kein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach sonstigen Normen.
Im Hinblick auf § 25b AufenthG fehlt es bereits an der nötigen Aufenthaltsdauer von acht Jahren. Einem Anspruch aus § 25 Abs. 3 AufenthG steht entgegen, dass die Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im Bescheid vom 23. November 2012, dass keine Abschiebehindernisse gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestehen, bestandskräftig und die Ausländerbehörde hieran gebunden ist (§ 42 Satz 1 AsylG; hierzu BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C-14/05 – juris Rn. 12 f.).
5. Ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. auf erneute Verbescheidung besteht auch deshalb nicht, weil der Beklagte zutreffend die Regelerteilungsvoraussetzungen gem. § 5 AufenthG verneint und ermessensfehlerfrei nicht von ihrer Anwendung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen hat.
Der Kläger ist nicht im Besitz eines Passes oder Passersatzes gem. § 3, § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG. Sein Lebensunterhalt ist ebenfalls nicht gesichert, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da der Kläger dauerhaft von Sozialleistungen lebt und mangels Ausbildung und Bewerbungen auch keine positive Prognose dafür besteht, dass er in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes sichern wird. Ob durch die Heimreisedokumente die Identität des Klägers bereits gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG geklärt ist, ist somit nicht entscheidend.
Der Beklagte hat auch sein Ermessen gem. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Dieses hat sich bei Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen maßgeblich an Zumutbarkeitserwägungen zu orientieren (Maor in: BeckOK AuslR, § 5 AufenthG, Rn. 43). Der Beklagte hat im Wesentlichen auf die fehlende Mitwirkung und Initiative des Klägers in Hinblick auf die Passbeschaffung und die Identitätsklärung abgestellt und auf die fehlenden bisherigen Bemühungen des Klägers, eine Ausbildung oder Arbeit zu finden. Sowohl die Mitwirkung und Initiative bzgl. der Passbeschaffung als auch das Bemühen um eine berufliche Entwicklung wären dem Kläger zumutbar gewesen. Insofern sind Ermessensfehler nicht ersichtlich (§ 114 VwGO).
6. Daher war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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