Verwaltungsrecht

Zumutbarkeit einer vorübergehenden Trennung von Eheleuten für die Dauer des Visumverfahrens

Aktenzeichen  10 CE 20.129

Datum:
4.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4494
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 2, § 28 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Allein der Umstand, dass Eheleute eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, reicht für eine Unzumutbarkeit auch unter Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus, wenn bisher regelmäßiger Kontakt nur über kurze Zeiträume stattgefunden hat und nicht dargelegt wurde, weshalb ein Ehepartner auf die Lebenshilfe des anderen angewiesen ist (Rn. 7). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 E 19.1950 2019-12-23 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) zu verpflichten, von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über das Klageverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg (Au 6 K 19.1949) abzusehen, ansonsten die für die Abschiebung zuständige Behörde anzuweisen, von aufenthaltsbeenden Maßnahmen für den vorgenannten Zeitraum abzusehen.
Die beim Verwaltungsgericht anhängige Klage richtet sich gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. Oktober 2019 und begehrt dessen Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldungsbescheinigung. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem angefochtenen Beschluss vom 23. Dezember 2019 abgelehnt.
Der Anordnungsgrund ist nicht entfallen, weil der Antragsteller nicht wie vorgesehen am 22. Januar 2020 in die Türkei abgeschoben werden konnte, denn der Antragsgegner hat erklärt, an seiner Absicht festzuhalten, den Antragsteller alsbald – nach einer Überprüfung der aktuellen Reise- bzw. Transportfähigkeit – abzuschieben.
Die vom Antragsteller in seiner Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof in seiner Prüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben. Er hat weiterhin keinen zu sichernden Anspruch glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller trägt vor, der Duldungsanspruch ergebe sich aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Seine Ehefrau habe glaubhaft gemacht, dass sie nicht nur sentimental an seiner Anwesenheit ein schützenswertes Interesse habe; sie könne ihr Recht auf Ehe und Familie durch die zeitweise räumliche Trennung nach seiner Rückkehr in die Türkei nicht ausüben. Sie könne es sich als alleinerziehende Mutter nicht leisten, durch Besuche in der Türkei das eheliche Leben aufrechtzuerhalten. Dass bisher regelmäßiger Kontakt nur über kurze Zeiträume stattgefunden habe, sei lediglich der Verhinderung der Umverteilung durch die Ausländerbehörden geschuldet. Der Wunsch, sich häufiger zu sehen, sei vom Antragsteller und seiner Ehefrau aktenkundig vorgetragen worden. Seine Ehefrau benötige ihn zur Unterstützung in ihrem Leben. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das Visumverfahren eine Prüfung erfordere, die nur durch seinen Aufenthalt im Ausland gewährleistet werden könne. Die Urkundenprüfung sei hier aufgrund der bekannten Identität des Antragstellers und der in Deutschland geschlossenen Ehe tatsächlich eine bloße Förmelei; es sei gerade kein erheblicher Bewertungsaufwand erkennbar, den die Ausländerbehörde nicht auch zumutbar bei einem Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet im Inland bewältigen könnte. Im Ganzen sei es nicht einzusehen, weshalb der Antragsteller nicht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Inland geduldet verbleiben könne.
Dieser Vortrag kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage stellen; es hat zu Recht festgestellt, dass der Antragsteller zur Einholung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug auf das Visumverfahren verwiesen werden kann und seine Abschiebung nicht aufgrund von Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK rechtlich unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
Allein der Umstand, dass die Eheleute eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, reicht für eine Unzumutbarkeit auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe und Familie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2014 – 19 CS 14.1576 – juris Rn. 41, B.v. 21.7.2015 – 10 CS 15.859 u.a. – juris Rn. 67; B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.993 u.a. – juris Rn. 5). Die (nachträgliche) Einholung des erforderlichen Visums zum Familiennachzug ist auch nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen. Will ein ohne das erforderliche Visum eingereister Asylbewerber nach erfolglosem Abschluss seines Asylverfahrens einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel erlangen, hat er daher grundsätzlich – nicht anders als jeder andere Ausländer – ein Sichtvermerksverfahren im Heimatland durchzuführen und muss ggf. ebenso gewisse Verzögerungen bei der Einleitung und Durchführung des Visumverfahrens hinnehmen (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2016 – 10 C 16.818 – juris Rn. 11; B.v. 20.6.2017 – 10 C 17.744 – juris Rn. 11). Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall die Dauer des Visumverfahrens nicht als besonderer Umstand des Einzelfalls zu werten ist, der die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar macht. Es hat auch zutreffend darauf abgestellt, dass dem Antragsteller eine vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau zumutbar ist. Zwar drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück, wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist. Dabei kommt es insbesondere nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR – 2625/10 – juris Rn. 15; B.v. 1.8.1996 – 2 BvR 1119/96 juris Rn. 5). Das Verwaltungsgericht hat in seinen ausführlichen Erwägungen unter anderem darauf hingewiesen, dass der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben seine Ehefrau immer (nur) für ein- bis zweitägige Aufenthalte kurz besucht habe und sie ansonsten über Telefon, Internet und WhatsApp kommunizierten. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Ausländerbehörde die Umverteilung verhindert habe. Nach Aktenlage hat die Ehefrau erst am 26. Juni 2019 – also fast eineinhalb Jahre nach der am 29. Januar 2018 erfolgten Eheschließung – der Sache nach einen Antrag auf Umverteilung gestellt. Die Ehefrau ist auch nicht darauf verwiesen, die eheliche Lebensgemeinschaft in der Türkei führen zu müssen; es geht lediglich um die Dauer des Visumverfahrens, wie in jedem ähnlich gelagerten Fall des Familiennachzugs auch. Mit dem pauschalen Hinweis, die Ehefrau benötige ihn zur „Unterstützung in ihrem Leben“, wird nicht dargelegt, weshalb sie auf seine Lebenshilfe angewiesen sein sollte. Soweit der Antragsteller nicht einsehen will, weshalb er nicht „bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens“ im Inland verbleiben könne, ist darauf hinzuweisen, dass ihm auch im Klageverfahren wegen des Verstoßes gegen die Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und wegen der Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz Nr. 1 AufenthG zusteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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