Verwaltungsrecht

zur Ausreisefrist in der Abschiebungsandrohung nach unzulässigem Zweitantrag

Aktenzeichen  RO 4 S 20.30992

Datum:
1.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 16388
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 2
RL 2011/95 EU Art. 2 lit. a
RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 6
GRCh Art. 47
AsylG § 36 Abs. 1, Abs. 3 S. 8, Abs. 4 S. 1, § 71a Abs. 1

 

Leitsatz

1. Den Konflikt zwischen der von Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL geforderten umfassenden Suspendierung der Rückkehrentscheidung und der bloßen Vollzugshemmung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG kann das Bundesamt nur dadurch auflösen, dass es die Vollziehung der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzt. (Rn. 26)
2. Das Bundesamt verstößt gegen § 36 Abs. 1 AsylG, wenn es den Zeitpunkt der gerichtlichen Ablehnung des Eilantrags als Beginn der Ausreisefrist bestimmt. Das auch im Verfahren nach § 36 Abs. 4 AsylG zu prüfende Erfordernis der subjektiven Rechtsverletzung ist in einem solchen Fall erfüllt, weil das Bundesamt nicht lediglich eine zu lange Ausreisefrist gesetzt, sondern wegen der unterlassenen Aussetzung die subjektiv-öffentliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs verletzt hat. (Rn. 28)
3. Es bestehen ernstliche Zweifel, dass die Vollzugshemmung nach § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG allein genügt, um die von Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL verlangte Suspendierung aller Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung zu bewirken. Diese Zweifel kann das Bundesamt nicht dadurch beseitigen, dass es den Beginn der Ausreisefrist auf den Zeitpunkt der ablehnenden gerichtlichen Eilentscheidung verschiebt. (Rn. 30)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 4.6.2020 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.5.2020 wird hinsichtlich dessen Nr. 3 angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsandrohung.
Der am …1989 in … (Iran) geborene Antragsteller besitzt die iranische Staatsbürgerschaft, gehört zur Ethnie der Kurden und bezeichnet sich als konfessionslos. Er reiste am 26.8.2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 2.9.2019 um Asyl nachsuchte.
Eine Abfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in der EURODAC-Datenbank erbrachte das Ergebnis, dass dem Antragsteller bereits am 10.11.2015 in Norwegen Fingerabdrücke abgenommen worden waren und er dort Asyl beantragt hatte. Ein Wiederaufnahmeersuchen vom 17.9.2019 akzeptierten die norwegischen Behörden unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Zugleich erklärten sie, der Antrag des Antragstellers auf internationalen Schutz sei am 25.4.2017 abgelehnt worden. Ein hiergegen eingelegter Rechtsbehelf sei erfolglos geblieben, womit das Asylverfahren am 3.8.2018 endgültig negativ abgeschlossen worden sei. Das Bundesamt lehnte daraufhin am 24.9.2019 den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) feststellte und ordnete die Abschiebung nach Norwegen an. Nachdem die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO verstrichen war, erklärte das Bundesamt, dass nunmehr eine Entscheidung im nationalen Verfahren ergehen werde.
Bei seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 23.9.2019 hatte der Antragstellung die Ablehnung seines Antrags in Norwegen bestätigt. Zu seinem Zweitantrag äußerte er schriftlich, dass sein Leben im Iran aufgrund eines politischen Konflikts in Gefahr gewesen sei. Nach Abweisung seiner Klage gegen die norwegische Asylentscheidung sei er nach Belgien gegangen, wo ihn die Polizei verhaftet und nach Norwegen überstellt habe. Er empfinde sein Schicksal nach wie vor als ungeklärt, sehe für sich in Norwegen keine Perspektive und sei mit der Hoffnung auf einen neuen Anfang nach Deutschland gereist. Der Antragsteller legte einen Arztbrief des Klinikums Bamberg vom 20.9.2019 vor, aus dem sich die Diagnosen „Anpassungsstörung“ und „Abklärung bei Verdacht auf Suizidalität“ ergeben.
Mit Bescheid vom 28.5.2020, zugestellt am 30.5.2020, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Nr. 2). Die Behörde forderte den Antragsteller auf, Deutschland binnen einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls werde er in den Iran oder einen anderen Staat abgeschoben, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 3). Daneben ordnete sie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung an (Nr. 4).
Zur Begründung verweist der Bescheid auf § 71a Asylgesetz (AsylG). Bei Zweitanträgen sei ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn Wiederaufgreifensgründe vorlägen, andernfalls sei der Asylantrag unzulässig. Der Antragsteller habe nichts vorgetragen, was eine für ihn günstigere Entscheidung in der Sache möglich erscheinen lasse, insbesondere keine Tatsachen geltend gemacht, die nicht bereits Gegenstand des in Norwegen geführten Verfahrens gewesen seien. Abschiebungsverbote griffen nicht ein. Der Antragsteller habe namentlich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erwarten, auch nicht infolge des als Fluchtursache angegebenen politischen Konflikts. Die norwegischen Behörden, bei denen er Entsprechendes vorgetragen habe, hätten daraus nicht auf bestehende Gefahren geschlossen. Das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung folge auch nicht aus den im Iran herrschenden humanitären Bedingungen. Ebenfalls nicht erfüllt seien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Dies gelte ungeachtet des vorgelegten Attests, denn die psychiatrische Versorgung im Iran sei ausreichend. Auch das bisher eingenommene Medikament sei zu tragbaren Preisen verfügbar. Vor diesem Hintergrund müsse gemäß § 71a Abs. 4, § 34 Abs. 1, § 36 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG eine Abschiebungsandrohung ausgesprochen werden. Wegen des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG seien die relevanten Umstände abgewogen worden.
Der Antragsteller hat am 4.6.2020 Klage gegen den Bescheid vom 28.5.2020 erhoben (RO 4 K 20.30993) und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er bezieht sich zur Begründung auf sein bisheriges Vorbringen im Asylverfahren.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 4.6.2020 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.5.2020 hinsichtlich dessen Nr. 3 anzuordnen.
Das Bundesamt beantragt für die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen und nimmt zur Begründung Bezug auf seine Entscheidung. Zugleich hat es die Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid dahingehend abgeändert, dass der Antragsteller nunmehr aufgefordert wird, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verlassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte mit den eingereichten Schriftsätzen und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen. Die Akte des Verfahrens RO 4 K 20.30993 wurde beigezogen.
II.
Der Antrag, über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der zuständige Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, ist zulässig und begründet.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt allerdings nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO dann, wenn dies – wie vorliegend in § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG – gesetzlich vorgeschrieben ist. In diesem Fall kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Die Aussetzung einer nach § 71a Abs. 4, § 34, § 36 AsylG angedrohten Abschiebung darf gemäß § 71a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen. Von letzterem ist auszugehen, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678/680). Zu prüfen ist dementsprechend, ob erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG nicht gegeben sind oder es im Übrigen an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung fehlt, dass beachtliche Verfahrensfehler vorliegen oder dass die Behörde das Eingreifen von Abschiebungsverboten zu Unrecht verneint hat (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.3.2020, § 36 Rn. 40 ff.).
Vor diesem Hintergrund ist unzweifelhaft, dass das Bundesamt zu Recht vom Vorliegen eines unzulässigen Zweitantrags ausgegangen ist (dazu 1.). Allerdings bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gesetzten Frist zur freiwilligen Ausreise, auch in der geänderten Fassung der Nr. 3 des Bescheids (dazu 2.).
1. Die Annahme der Antragsgegnerin, die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG seien zu bejahen, ist nicht ernstlich zweifelhaft. Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den die europäischen Rechtsvorschriften über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylzweitantrag, so ist gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik hierfür zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Absatz 1 der letztgenannten Norm setzt als Wiederaufgreifensgründe voraus, dass sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat, dass neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden oder Wiederaufnahmegründe entsprechend das § 580 ZPO gegeben sind. Der Antrag ist nur zulässig, wenn den Betroffenen am Nichtvortrag des Wiederaufgreifensgrundes kein grobes Verschulden trifft (§ 51 Abs. 2 VwVfG) und er die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG einhält.
Vorliegend steht außer Zweifel, dass das Schutzbegehren des Antragstellers als Zweitantrag qualifiziert werden muss (dazu a)) und ein Wiederaufgreifensgrund nicht vorliegt (dazu b)).
a) Das Bundesamt hat zutreffend erkannt, dass der Asylantrag des Antragstellers als Zweitantrag einzuordnen ist, weil der Antragsteller in Norwegen – das am Dublin-Asylsystem teilnimmt (vgl. VG Bremen, B.v. 8.12.2017 – 6 V 3113/17 – juris Rn. 4) – erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen hat. § 71a Abs. 1 AsylG setzt in dieser Hinsicht voraus, dass das Verfahren ohne Gewährung internationalen Schutzes endgültig beendet ist. Hieran fehlt es insbesondere, wenn das Erstverfahren erneut eröffnet oder aufgenommen werden kann (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 29 ff.). Das Bundesamt muss zu dem bestandskräftigen negativen Ausgang des Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat tragfähige Erkenntnisse haben; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Dickten in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.3.2020, § 71a Rn. 2a).
Vorliegend hat sich das Bundesamt auf die Äußerungen der norwegischen Behörden im Dublin-Verfahren und deren Antwort auf ein Informationsersuchen stützen können. Aus beiden ging klar hervor, dass zunächst eine ablehnende Entscheidung durch die norwegische Asylverwaltung erlassen wurde. Gegen diese wandte sich der Antragsteller mit einem Rechtsbehelf. Den Behördenschreiben ist zu entnehmen, dass dazu eine abschließende negative Entscheidung („final negative decision“) ergangen ist. Dies steht im Einklang mit der Einlassung des Antragstellers.
b) Das Gericht hat auch keine Zweifel, dass die Verneinung von Wiederaufgreifensgründen durch die Antragsgegnerin zu Recht erfolgt ist. Der Antragsteller hat keine entsprechenden Sachverhalte vorgetragen, sondern sich darauf beschränkt, seine Perspektivlosigkeit in Norwegen zu schildern und seiner Hoffnung auf ein neuerliches Verfahren in Deutschland Ausdruck zu verleihen. Soweit er sich ergänzend auf gesundheitliche Probleme berufen hat, ergibt sich daraus ebenfalls kein Wiederaufgreifensgrund. Denn im Rahmen des § 71a Abs. 1 AsylG ist allein entscheidend, wie über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden wurde (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71a AsylG Rn. 3). Wenn also § 51 Abs. 1 VwVfG die Möglichkeit einer für den Betroffenen günstigeren Entscheidung voraussetzt, dann bezieht sich dies auf die Entscheidung über die Gewährung internationalen Schutzes. Die seitens des Antragstellers vorgetragenen gesundheitlichen Einschränkungen sind aber allenfalls bei der Prüfung der nationalen Abschiebungsverbote zu berücksichtigen. Diese fallen nicht unter den von Art. 2 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (QualifikationsRL) beschriebenen internationalen Schutz.
2. Es sprechen aber erhebliche Gründe dafür, dass die Abschiebungsandrohung im Hinblick auf die gesetzte Ausreisefrist rechtswidrig ist. Denn bei seiner ursprünglichen Fristsetzung hat das Bundesamt die unionsrechtliche Vorgabe missachtet, dass die Entscheidung über den Asylantrag nur mit der Rückkehrentscheidung verbunden werden darf, wenn wirksamer Rechtsschutz gegen die zuletzt genannte Maßnahme eröffnet ist (dazu a)). Die im Gerichtsverfahren erfolgte Änderung der Nr. 3 des Bescheids hat diesen Verstoß nicht beseitigen können (dazu b)).
a) Das Bundesamt hat in Nr. 1 seines Bescheids vom 28.5.2020 ablehnend über den Asylantrag des Antragstellers entschieden und zugleich in Nr. 3 die Abschiebung angedroht. Dies entspricht der gesetzgeberischen Vorgabe in § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG, wonach die beiden Entscheidungen verbunden werden sollen. Mit der genannten Norm füllt der deutsche Gesetzgeber den ihm nach Art. 6 Abs. 6 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (RückführungsRL) eröffneten Spielraum aus, eine solche Verbindung vorzusehen. Dabei hat er allerdings die ausdrückliche Vorgabe in Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL zu beachten, wonach bei einer Verbindung die einschlägigen Verfahrensgarantien des europäischen und nationalen Rechts eingehalten werden müssen.
Zu diesen Verfahrensgarantien zählt das in Art. 47 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) niedergelegte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof steht diese Gewährleistung einer Verbindung von Asyl- und Rückkehrentscheidung zwar nicht prinzipiell entgegen, erfordert aber unter anderem, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden (EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – juris Rn. 61 f.). Dazu gehört insbesondere, dass die nach Art. 7 RückführungsRL vorgeschriebene Frist zur freiwilligen Ausreise während der Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs und bis zur Entscheidung über diesen nicht zu laufen beginnen darf (EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – juris Rn. 62). Die ursprüngliche Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids enthielt im Einklang mit der Systematik des § 36 AsylG eine Frist von einer Woche ab Bekanntgabe der Entscheidung und führte damit zu einem gleichzeitigen Ablauf von Rechtsbehelfsfrist und Ausreisefrist. Sie stand folglich im Widerspruch zu dieser unionsrechtlichen Anforderung.
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht festgehalten, dass ein Verstoß nicht vorläge, wenn die Wirkungen der Rückkehrentscheidung während des gerichtlichen Eilverfahrens vollständig suspendiert würden (U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 42). Eine solche Situation besteht wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage (§ 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG) etwa bei der Ablehnung eines Asylantrags nach § 38 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 19). Der Klage gegen abgelehnte Zweitanträge kommt hingegen keine Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO zu. Stattdessen gilt § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG, wonach die Abschiebung nicht vollzogen werden darf, wenn ein fristgerechter Eilantrag gestellt wurde. Damit geht dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.2.2020 (1 C 19.19 – juris Rn. 39, 42) zufolge aber kein ausreichend umfänglicher Suspensiveffekt einher. Denn § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG bewirkt eine bloße Vollzugshemmung, nicht aber eine umfassende Aussetzung der Vollziehbarkeit, welche nicht nur der Vollstreckung entgegenstünde, sondern sämtlichen Vollziehungsmaßnahmen und Schlussfolgerungen rechtlicher und tatsächlicher Art (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 80 Rn. 101). Der Charakter als bloße Vollzugshemmung ergibt sich etwa aus Satz 5 des § 36 Abs. 3 AsylG, wonach die gerichtliche Entscheidung binnen einer Woche nach Ablauf der Ausreisefrist ergehen soll. Der Gesetzgeber ist ausweislich dieser Bestimmung erkennbar davon ausgegangen, dass der Eilantrag auf den Ablauf der Ausreisefrist keine Auswirkungen hat und die Vollziehbarkeit der Entscheidung während des gerichtlichen Verfahrens damit nicht gehemmt ist. Vergleichbares lässt sich – auch wenn er sich erkennbar auf Eilrechtsbehelfe gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot bezieht – aus Satz 11 der Vorschrift ableiten, denn auch nach dieser Norm bleibt die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung unberührt.
§ 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG kann die erforderliche Aussetzung der Vollziehbarkeit auch nicht im Wege unionsrechtskonformer Auslegung beigemessen werden (BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 46 ff.). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Hinblick auf entsprechende Entscheidungen verschiedener Gerichte festgehalten, dass jede Auslegung ihre Grenze im Wortlaut der Norm und den eindeutigen Absichten des Gesetzgebers finde. Die klar auf eine Vollstreckung bezogene Regelung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG könne daher auch vor dem Hintergrund des europarechtlichen Anwendungsvorrangs nicht als Anordnung einer allgemeinen Vollziehbarkeitshemmung begriffen werden. Zur Angleichung der nationalen Regelung an die europäischen Vorgaben seien hier nicht die Gerichte, sondern allein der Gesetzgeber berufen. Im Übrigen enthalte das deutsche Recht keine absolute Pflicht zur Verbindung von Ablehnungsentscheidung und Abschiebungsandrohung. Der unionskonformen Auslegung bedürfe es folglich schon deshalb nicht, weil der Konflikt durch einen Verzicht auf die Verbindung aufgelöst werden könne.
Weil der gleichzeitige Anlauf von Ausreise- und Rechtshelfsfrist folglich nicht durch eine umfassende Vollziehbarkeitshemmung kompensiert wurde, verstieß Nr. 3 des angegriffenen Bescheids in seiner ursprünglichen Fassung gegen europäisches Recht.
b) Das Gericht hat indes gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen. Folglich muss es die im gerichtlichen Verfahren erfolgte Änderung der Nr. 3 des Bescheids durch das Bundesamt berücksichtigen. Dadurch ergibt sich indes im Ergebnis keine andere Beurteilung, denn auch die mit der Ablehnung des Eilantrags durch das Gericht beginnende Ausreisefrist ist rechtswidrig.
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht dem Bundesamt grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, eine unionsrechtswidrige Fristsetzung noch im Gerichtsverfahren mit Rückwirkung zu korrigieren. Es hat als geeignetes Instrument hierfür aber allein die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO benannt (U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 54). Nur dadurch lasse sich die umfassende Suspendierung der Rechtswirkungen herbeiführen, die bei einer Verbindung von Sach- und Rückkehrentscheidung unionsrechtlich vorgegeben sei. Die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Änderung der Ausreisefrist hat die Vollziehbarkeit der Rückkehrentscheidung indes nicht aufgehoben. Denn weder hat das Bundesamt die Vollziehung im Sinne des § 80 Abs. 4 VwGO ausdrücklich ausgesetzt, noch lässt sich seiner Einlassung eine entsprechende Absicht entnehmen. Der Wortlaut der Änderung und die zugehörige Begründung machen im Gegenteil deutlich, dass die Antragsgegnerin alleine den Beginn der Ausreisefrist auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit der ablehnenden gerichtlichen Entscheidung hinausschieben wollte. An der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme – deren Umdeutung in eine solche nach § 80 Abs. 4 VwGO ebenfalls nicht in Betracht kommt (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2019 – 1 C 15/18 – juris Rn. 50) – erscheint nach nationalem Recht (dazu aa) ebenso ernstlich zweifelhaft wie nach europäischem Recht (dazu bb)).
aa) Es bestehen gewichtige Gründe dafür, dass die geänderte Fristsetzung gegen § 36 Abs. 1 AsylG verstößt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus der Systematik der Norm zweifelsfrei, dass die Ausreisefrist mit der Bekanntgabe der Abschiebungsandrohung beginnt (BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 37). Das Bundesamt kann den bestehenden Konflikt zwischen der europarechtlich geforderten Vollziehbarkeitshemmung und der Vorgabe des § 36 Abs. 1 AsylG deshalb nicht dadurch auflösen, dass es einen abweichenden Fristbeginn festsetzt (BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 56). Mit der vorliegenden Änderung hat sich die Antragsgegnerin also in offenkundigen Widerspruch zur Gesetzeslage und zur höchstrichterlichen Rechtsprechung gesetzt.
Dieser Verstoß muss zur Aussetzung der Abschiebung führen. Zwar ist in der Rechtsprechung geklärt, dass eine zu lang gewählte Ausreisefrist allein keinen Aufhebungsanspruch nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO begründet (BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris Rn. 21). Das Gericht hält dafür, dass dieser Grundsatz auch im Rahmen des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG Geltung beansprucht und eine Aussetzung der Abschiebung nur in Betracht kommt, wenn aus den festgestellten erheblichen Zweifeln auf eine subjektive Rechtsverletzung des Antragstellers geschlossen werden kann. Denn mit § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG und der verfassungsrechtlichen Regelung in Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG hat der (Verfassungs-)Gesetzgeber den vom Gericht zugrunde zu legenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab anheben wollen und auf diese Weise die Voraussetzungen für die Erlangung von Eilrechtsschutz verschärft (vgl. BT-Drs. 12/4450 S. 24). Es war hingegen nicht seine Absicht, Rechtsschutz gegen die angegriffenen Verwaltungsmaßnahmen bereits bei Vorliegen objektiver Rechtswidrigkeit zu gewähren und auf diese Weise erleichterten Zugang zu vorläufigem Rechtsschutz einzuräumen. Dies gilt auch deshalb, weil ein von der Verletzung in eigenen Rechten unabhängiger Verwaltungsrechtsweg mit der Grundentscheidung des Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Einklang zu bringen wäre. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist deshalb als partielle Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes gegen die einschlägigen Entscheidungen zu verstehen: Der Gesetzgeber hat damit nur den anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab verändert. In gleicher Weise wie er mit der Bestimmung die Zulässigkeitsvoraussetzungen für entsprechende Anträge unangetastet ließ, hat er auch das generelle Erfordernis einer Verletzung in subjektiv-öffentlichen Rechten unberührt gelassen.
Vorliegend ist eine solche Verletzung zu bejahen. Denn anders als in den sonstigen Fällen einer zu lang gewählten Ausreisefrist hätte das Bundesamt vorliegend nur dann rechtmäßig gehandelt, wenn es eine umfassende Aussetzung der Vollziehung angeordnet hätte. Für die Frage, ob eine Verletzung in subjektiven Rechten vorliegt, sind deshalb nicht lediglich zwei unterschiedlich lange laufende Fristen zu vergleichen. Entscheidend ist vielmehr, dass dem Antragsteller unionsrechtlich vorgegebene, zu seinen Gunsten eingreifende Rechtswirkungen vorenthalten worden sind, die ihre Grundlage in der subjektiv-öffentlichen Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs in Art. 47 GRCh finden. Entsprechend ist eine Verletzung der Rechte des Antragstellers zu bejahen.
bb) Daneben bestehen erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der geänderten Ausreisefrist mit europäischem Recht. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Hinblick auf die bloße Vollzugshemmung nach § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG die Erfüllung jener unionsrechtlichen Vorgabe bezweifelt, wonach bei einer Verbindung von Sach- und Rückkehrentscheidung im Falle eines Rechtsbehelfs alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung suspendiert werden müssen (U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 39; siehe dazu oben unter 2a)). Das Gericht teilt diese Zweifel und sieht in ihnen erhebliche Gründe für eine Rechtswidrigkeit der gesetzten Ausreisefrist (ebenso VG Bremen, B.v. 22.6.2020 – 2 V 1068/20 – juris Rn. 22 ff.). Denn die Vollzugshemmung hebt die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht auf; anstelle der unionsrechtlich geforderten umfassenden Suspendierung werden lediglich die vollstreckungsrechtlichen Wirkungen der Maßnahme ausgesetzt.
Dieses Zurückbleiben hinter den unionsrechtlichen Anforderungen wird durch ein Hinausschieben des Fristbeginns nicht beseitigt. Denn auch eine offene Ausreisefrist steht der Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Dies folgt aus der von § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG formulierten Gleichordnung von Vollziehbarkeit und Ausreisefrist. Folglich bewirkt das Hinausschieben der Ausreisefrist nicht die vom Unionsrecht vorgeschriebene umfassende Vollziehbarkeitshemmung, sondern ergänzt lediglich ein Vollzugshemmnis (das aus § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG) durch ein weiteres.
3. Rechtsgrundlage der Kostenentscheidung ist § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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