Verwaltungsrecht

Zuweisung eines anerkannten Flüchtlings zu einer Obdachlosenunterkunft

Aktenzeichen  M 22 E 16.4515

Datum:
26.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
BayVwVfG BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 4
GG GG Art. 11
VwGO VwGO § 123

 

Leitsatz

1 Die örtliche Zuständigkeit zur Behebung unfreiwilliger Obdachlosigkeit richtet sich gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG iVm Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG danach, wo die Obdachlosigkeit eingetreten ist (ebenso VGH München BeckRS 1995, 22021). (redaktioneller Leitsatz)
2 An der Obdachlosigkeit und der entsprechenden örtlichen Zuständigkeit ändert auch ein zwischenzeitlicher Aufenthalt in Notschlafplätzen nichts. Die Angabe einer Zustelladresse sagt nichts darüber aus, ob eine Person dort rechtlich und tatsächlich eine Unterkunft gefunden hat. (redaktioneller Leitsatz)
3 Das Ersuchen um Unterbringung in der Gemeinde, in der die Obdachlosigkeit eingetreten ist, ist nur ausnahmsweise als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Ein Rechtsmissbrauch ist insbesondere zu verneinen, wenn eine besondere persönliche Beziehung des Obdachlosen zu einer Gemeinde besteht, die es nachvollziehbar macht, dass gerade dort um Unterbringung nachgesucht wird.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung seiner Obdachlosigkeit eine Unterkunft zuzuweisen und vorläufig zur Verfügung zu stellen.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
IV.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe bewilligt.

Gründe

I.
Der … geborene Antragssteller begehrt von der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft.
Der Antragsteller war ursprünglich einer Asylbewerberunterkunft in Baden-Württemberg zugewiesen. Nach seiner Flüchtlingsanerkennung zog er wegen einer zum *. Mai 2016 in München angenommenen Arbeitsstelle (mit einer monatlichen Bruttovergütung von 1.150 EUR) von … (Baden-Württemberg) in das Gemeindegebiet der Antragsgegnerin. Dort meldete er sich zum 20. Mai 2016 unter der Adresse einer von ihm im Gemeindegebiet bezogenen Pension mit alleinigem Wohnsitz an. Am 24. Juni 2016 wurde jedoch sein Arbeitsverhältnis – den Angaben des Antragstellers zufolge wegen mangelnder Sprachkenntnisse – beendet. Der Antragsteller zog zum 20. Juli 2016 aus der Pension aus. Am 25. August 2016 meldete er sich beim Jobcenter … arbeitslos und erklärte obdachlos zu sein, wovon das Jobcenter die Antragsgegnerin noch am selben Tag unterrichtete.
Bei zwei persönlichen Vorsprachen des Antragstellers bei der Antragsgegnerin im September 2016 erklärte der Antragsteller, zwischenzeitlich in Notunterkünften am Münchner Hauptbahnhof und in verschiedenen Kirchen genächtigt zu haben. Die Antragsgegnerin verwies den Antragsteller daraufhin an das Wohnungsamt der Landeshauptstadt München.
Am … Oktober 2016 wandte sich der Antragsteller an die Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts München und beantragte,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, ihm eine Notunterkunft zur Verfügung zu stellen.
Darüber hinaus stellte der Antragsteller den Antrag, ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Zur Begründung führte der Antragsteller aus, er sei seit seinem Auszug aus der Pension obdachlos. Mangels Wohnsitzes erhalte er auch vom Jobcenter keine Leistungen, mit Ausnahme einer Überbrückungshilfe in Höhe von 40,40 Euro (über die er eine Zahlungsanweisung zur Verrechnung vorlegte). Er übernachte daher bei Freunden oder Bekannten oder auf Bahnhöfen. Er benötige dringend einen Wohnsitz. Postalisch sei er für das Gericht über eine Wohnanschrift in K. erreichbar.
Mit Schriftsätzen vom 7. und 11. Oktober 2016 legte die Antragsgegnerin die Behördenakte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung machte sie geltend, der Antragsteller habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Antragsteller könne offensichtlich seit Juli 2016 bei Verwandten oder Bekannten in München und nunmehr in … wohnen. Mit dem bisherigen Vortrag werde jedenfalls weder das Fehlen einer anderweitigen Unterkunft noch das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel nach Maßgabe des § 123 Abs. 3 VwGO ausreichend glaubhaft gemacht. Insbesondere sei die Antragsgegnerin örtlich unzuständig. In Anbetracht der Tatsache, dass seit dem Auszug Mitte Juli und der Vorsprache bei der Gemeinde Monate verstrichen seien, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine besondere Eilbedürftigkeit hinreichend glaubhaft gemacht worden sei.
Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen. Dabei hat der Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
1. Der Antrag ist zulässig und auch begründet, da der Antragsteller einen gegen die Antragsgegnerin gerichteten Anordnungsanspruch auf (vorläufige) Unterbringung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit sowie einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft machen konnte. Die Antragsgegnerin ist nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung für die Unterbringung des Antragstellers insbesondere örtlich zuständig. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die örtliche Zuständigkeit für eine sicherheitsrechtliche Anordnung zur Behebung von Obdachlosigkeit auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG) richtet sich gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) danach, wo der entscheidende Anlass für die Amtshandlung hervortritt. Zuständig für ein sicherheitsrechtliches Einschreiten zur Beseitigung der mit der Obdachlosigkeit einhergehenden Gefahr ist die Gemeinde, in der die aktuelle (streitgegenständliche) Obdachlosigkeit entstanden ist oder unmittelbar droht. Maßgeblich ist insoweit nicht, wo der Antragsteller gemeldet ist oder war, oder wo er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte, sondern wo er aktuell obdachlos geworden ist (BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl. 1995, 729). Indem der Betroffene vom Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) Gebrauch macht, kann er in gewissem Umfang darauf Einfluss nehmen, wo die Obdachlosigkeit eintritt. Dies liegt in der Regelungsnatur des Sicherheitsrechts begründet, welches darauf gerichtet ist, die Gefahr dort zu bekämpfen, wo sie auftritt.
Das Ersuchen ist nur ausnahmsweise als rechtsmissbräuchlich anzusehen, wenn sich der Betroffene beispielsweise allein deshalb an einen bestimmten Ort begibt, um dort Obdach zu beantragen. Eine besondere Beziehung zu einer Gemeinde, die es nachvollziehbar macht, dass gerade dort um Unterbringung nachgesucht wird, so dass kein Rechtsmissbrauch vorliegt, kann zu der Gemeinde anzuerkennen sein, in der der Betroffene früher gewohnt oder gearbeitet hat, oder zu der Gemeinde, in der Freunde oder Verwandte wohnen (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 30.7.2012 – 4 CE 12.1576 – juris Rn. 18; B.v. 07.01.2002 – 4 ZE 01.3176 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.4.1995, BayVBl 1995, 729/730; Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Stand Juli 2013, Art. 7 Rn. 174, 179).
Vorliegend trägt der Antragsteller vor, dass er in der Folge des Arbeitsverlusts aus dem zunächst von ihm angemieteten Pensionszimmer im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin ausgezogen sei und er im Anschluss hieran im Wechsel auf Bahnhöfen, in Kirchen sowie bei Bekannten oder Verwandten, auf deren Unterstützung er wegen fehlender staatlicher Hilfe angewiesen gewesen sei, übernachtet habe.
Dieses Vorbringen, mittelos zu sein und keine Möglichkeit zu haben, sich bis auf Weiteres in einer anderen, gesicherten Unterkunft aufzuhalten, erscheint dem Gericht glaubhaft. Angesichts dessen, dass es sich bei dem Antragsteller um einen ehemaligen Asylbewerber aus Baden-Württemberg handelt, der seit Dezember 2015 über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt und der im Raum München nur kurz einer gering entlohnten Tätigkeit nachgegangen ist, ist sowohl das Vorhandensein nennenswerter finanzieller Rücklagen als auch eines sozialen Netzwerks, dass dem Kläger nicht nur tageweise (zur Gefahrenabwehr), sondern bis auf weiteres Aufnahme bieten kann, unwahrscheinlich. Es ist anzunehmen, dass der Antragsteller sich von seinem Bruttoarbeitslohn in Höhe von 1.150 Euro monatlich nicht erst ein Pensionszimmer im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin genommen hätte, sondern bis auf Weiteres bei seinen Verwandten oder Bekannten untergekommen wäre, wenn er über ein solches Netzwerk verfügen würde.
Der Antragsteller ist daher zur Überzeugung des Gerichts mit dem Auszug aus der von ihm – im Vertrauen auf den Bestand seiner Arbeit – angemieteten Pension im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin unfreiwillig obdachlos geworden. Die bei der Antragsgegnerin aufgetretene Obdachlosigkeit ist insbesondere auch nicht wieder entfallen. Der Antragsteller hat nach seinem glaubhaften Vorbringen im Anschluss an den Auszug aus der Pension gerade keine gesicherte Unterkunft gefunden, sondern sich an stetig wechselnden Notschlafplätzen in Kirchen, Bahnhöfen sowie bei Bekannten und Verwandten aufgehalten. Dass der Antragsteller im Rahmen des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung angegeben hat, postalisch bei einem (Namens-)Verwandten in … erreichbar zu sein, steht dem nach Ansicht des Gerichts nicht entgegen. Die bloße Angabe einer Zustelladresse sagt nichts darüber aus, dass der Antragsteller dort auch rechtlich und tatsächlich Unterkunft nehmen kann bzw. dass er dies in der Vergangenheit nicht nur notfallmäßig, sondern über einen solchen Zeitraum getan hat, der die zunächst eingetretene Zuständigkeit der Antragsgegnerin zulasten des Marktes … entfallen lassen würde.
Der Antragsteller hat darüber hinaus auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Das Abwarten einer Hauptsachentscheidung ist dem mittellosen Antragsteller nicht zuzumuten, da er ohne die begehrte vorläufige Regelung darauf angewiesen wäre, sich weiterhin von Nacht zu Nacht einen Unterschlupf zu suchen und damit ohne Obdach und den Witterungsbedingungen – insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Wintermonate – schutzlos ausgesetzt wäre.
Dem Antragsteller steht somit ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft zu, der sich im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände auf einen Unterbringungsanspruch gegen die Antragsgegnerin verdichtet hat. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller daher zur Abwendung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorübergehend eine Unterkunftsmöglichkeit einfacher Art zur Verfügung zu stellen, die vor den Unbilden des Wetters schützt und Raum für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt.
Es sei aber darauf hingewiesen, dass diese Unterkunft nicht als Dauerlösung angesehen werden darf, sondern lediglich Überbrückungscharakter hat. Dem Antragsteller obliegt es daher gleichwohl, sich – gegebenenfalls mit Unterstützung des zuständigen Sozialleistungsträgers – im Rahmen der durch das SGB geschaffenen Möglichkeiten alsbald selbst eine geeignete Wohnmöglichkeit zu verschaffen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Gemäß § 166 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen hier, wie oben dargelegt, vor.


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