Medizinrecht

Auskunftsansprüche im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes

Aktenzeichen  L 2 P 38/16 B ER

Datum:
6.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI SGB XI § 37, § 108
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. Zum Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus § 108 SGB XI. (amtlicher Leitsatz)
2. Sinn und Zweck der Vorschrift ist die Schaffung von Transparenz. (amtlicher Leitsatz)
3. Zur ausnahmsweisen Annahme auch eines Anordnungsgrundes unter Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls. (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 16.06.2016 wird die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Antragstellerin über die der Zahlungsmitteilung vom 03.11.2015 zugrunde liegenden in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten zu unterrichten.
II.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe

I. Gegenstand des Antragsverfahrens ist ein Anspruch auf nähere Erläuterung der Zahlungsmitteilung vom 03.11.2015.
Die 1927 geborene Klägerin erhält seit dem 01.05.2013 Leistungen der Pflegestufe III sowie einen Betrag von bis zu 100 EUR monatlich für zusätzliche Betreuungsleistungen (Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.01.2014).
Die Antragstellerin lebt unter der Adresse der S. GmbH, S-Straße 14 in A-Stadt. Nach den Feststellungen des vom Sozialgericht München in einem Klageverfahren betreffend Behandlungspflege eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. H. wird ausgeführt, die Pflegebedürftige wohne seit 2011 in den vormaligen Betriebsräumen der Firma S., die von Dr. O. A., dem Sohn der Antragstellerin, betrieben werde. Dr. A. betreibe seine Firma nun aus einem einzelnen Zimmer heraus. Für die Antragstellerin sei in einem 10 m von der Toilette entfernten Raum ein Pflegebett aufgestellt.
Am 03.11.2015 erhielt die Antragstellerin von der Antragsgegnerin einen Betrag in Höhe von 340,40 EUR überwiesen und dazu folgende Zahlungsmitteilung selbigen Datums erstellt, wonach sich die Zusammensetzung dieses Betrages aus folgender Aufstellung ergebe: – Leistung 01.01.2015 bis 31.01.2015 A., D., C716234347, Betrag: 235,54 EUR – Leistung 01.12.2014 bis 31.12.2014 A., D., C716234347, Betrag: 104,86 EUR
Mit Schreiben vom 15.12.2015 teilte die Antragstellerin der Antragsgegnerin mit, dass der ihr überwiesene Betrag in Höhe von 340,40 EUR bei ihr nicht verbucht werden könne, da hierüber keine Abrechnungen vorlägen. Sie beantrage hiermit, die entsprechenden Rechnungen mit Rechnungsnummer, Datum, Gegenstand des Abrechnungsinhaltes und Leistungsnachweis zu übermitteln.
Die Antragsgegnerin hat dazu erläutert, dass die Klägerin Pflegesachleistungen bzw. Kombinationsleistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) beziehe. Am 02.11.2015 sei das anteilige Pflegegeld aufgrund der Kombinationsleistung für die Monate Dezember 2014 und Januar 2015 an die Klägerin überwiesen worden. Mit Schreiben vom 03.11.2015 seien die anteiligen Pflegegeldzahlungen nach § 37 SGB XI aufgelistet worden. Für Dezember 2014 seien anteilig 104,86 EUR Pflegegeld und für Januar 2015 anteilig 235,54 EUR Pflegegeld an die Antragstellerin gezahlt worden.
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16.06.2016 abgelehnt (Az. S 18 P 128/16 ER).
Die Antragstellerin hat gegen den Beschluss, der ihr am 23.06.2016 zugestellt worden war, am 24.06.2016 beim SG Beschwerde eingelegt, die an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) weitergeleitet wurde.
Die Antragstellerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2016 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die rechnungsmäßigen Kosten aus der Zahlungsmitteilung vom 03.11.2015 in Gesamthöhe von 340,40 EUR für jeden einzelnen Buchungsgegenstand der zwei Buchungstexte offenzulegen mit der Maßgabe der Erstellung einer individuellen Abrechnung für jeden einzelnen Buchungstext gegenüber der Antragstellerin umfassend Vorname, Name und Anschrift der Antragstellerin/Rechnungsempfängerin, wie im Antrag bezeichnet, Zahlungsdatum, Rechtsgrund für Zahlung, Leistungsinhalte der Zahlung und gesetzliche Zahlungshöhe, tatsächliche Zahlungshöhe und Rechtsbelehrung.
Die Antragsgegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren keine Akten vorgelegt, sondern erklärt, das SG würde diese direkt an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) versenden. Eine telefonische Rückfrage beim SG hat ergeben, dass die Akten an die Antragsgegnerin zurückgeschickt wurden. Dies ist der Antragsgegnerin telefonisch mitgeteilt worden, die dann angegeben hat, es gebe keine anderen Verwaltungsakten als diejenigen, die erstinstanzlich als Anlage zur Antragserwiderung eingereicht wurden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakte Bezug genommen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Beschwerdesumme von 750 EUR spielt keine Rolle (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 Hs. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), weil es sich bei dem Anspruch nach sinngemäßer Auslegung (siehe unten) um ein Auskunftsbegehren nach § 108 SGB XI und damit nicht um eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG handelt.
Die Beschwerde ist begründet; das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ist eine Regelungsanordnung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74; vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rdnr. 41). Glaubhaftmachung bedeutet überwiegende Wahrscheinlichkeit, d. h. dass mehr dafür als dagegen spricht (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rdnr. 16b).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, a. a. O., und vom 22.11.2002, a. a. O.).
Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 108 SGB XI. Danach unterrichten die Pflegekassen die Versicherten auf deren Antrag über die im jeweils letzten Geschäftsjahr in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten. Die Antraggegnerin hat selbst dargelegt, dass es sich bei den mit Zahlungsmitteilung vom 03.11.2015 abgerechneten Leistungen um das monatliche Pflegegeld handelte, das sich bei der Abrechnung von Kombinationsleistungen nach § 38 SGB XI ergibt. Der sich daraus ergebende Betrag ist für den Versicherten nur dann nachvollziehbar, wenn er weiß, in welchem Umfang die Pflegekasse mit der ambulanten Pflegeeinrichtung Sachleistungen abgerechnet hat. Da diese Abrechnung direkt im Verhältnis zwischen Pflegedienst und Pflegekasse erfolgt, hat der Versicherte hierin keinen Einblick. Über § 108 SGB XI hat er jedoch Anspruch auf Unterrichtung über die im letzten Geschäftsjahr in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten. Sinn und Zweck der Vorschrift ist gerade die Schaffung von Transparenz, insbesondere damit der Versicherte überprüfen kann, ob ihm die beantragten Leistungen bis zur gesetzlich vorgesehenen Höchstgrenze gewährt wurden (vgl. Udsching, SGB XI, 4. Aufl. 2015, § 108 Rdnr. 2). Der Antrag ist bei sinngemäßer Auslegung auf diese Leistung gerichtet.
Im vorliegenden Fall sieht der Senat angesichts der Besonderheiten des Einzelfalls und des bisherigen Verlaufs des Verwaltungsverfahrens einen Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit, für den Anspruch auf Unterrichtung nach § 108 SGB XI als erfüllt an. Grundsätzlich dürfte für einen solchen reinen Informationsanspruch kein Anordnungsgrund bestehen. Vielmehr ist es dem Antragsteller zumutbar, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Im vorliegenden Fall ist unter Abwägung der Gesamtumstände aber das Bedürfnis an einer Eilentscheidung, wenn auch grenzwertig, zu bejahen, weil die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, dass aufgrund des Erfordernisses einer 24-Stunden-Pflege und ihrer Einstufung in die Pflegestufe III ein monatlicher Bedarf von etwa 6.500 EUR besteht, der die monatlichen Einnahmen in Höhe von ca. 3.300 EUR weit überschreitet, die Klägerin mit ihren finanziellen Ressourcen am Ende ist und sich auch mit der Bezahlung laufender Pflegeleistungen drei Monate in Rückstand befindet. Aus dieser Situation ergibt sich ein allgemeines Bedürfnis, klar fällige Ansprüche auf Sozialleistungen zeitnah erfüllt zu bekommen. Hierzu muss die Antragstellerin auch die notwendigen Informationen erhalten, um in die Lage versetzt zu werden, die Erfüllung dieser Ansprüche zu überprüfen. Hinzu kommt der Umstand, dass die Antragsgegnerin im zugrunde liegenden Verfahren in keiner Weise bereit war, auf die Belange der Antragstellerin einzugehen, insbesondere die streitgegenständliche Zahlungsmitteilung näher zu erläutern, wodurch sich das gerichtliche Verfahren mit Wahrscheinlichkeit hätte vermeiden lassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

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