Sozialrecht

(Rücknahme von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Ablauf der Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 S 3 SGB 10 – Wiederaufnahmegrund gem § 580 ZPO – arglistige Täuschung – Betrug – Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft – Vorliegen eines Restitutionsgrundes – keine Erforderlichkeit der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung)

Aktenzeichen  L 2 AS 256/21

Datum:
16.6.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0616.L2AS256.21.00
Normen:
§ 45 Abs 1 SGB 10
§ 45 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB 10
§ 45 Abs 3 S 2 SGB 10
§ 45 Abs 3 S 3 SGB 10
§ 45 Abs 3 S 4 SGB 10
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Spruchkörper:
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Leitsatz

Hat ein Leistungsempfänger durch arglistige Täuschung, die den Tatbestand des Betruges erfüllt, zu hohe Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erschlichen, ist eine Rücknahme der Bewilligung auch mehr als zehn Jahre nach der Bewilligungsentscheidung möglich. Aus § 45 Abs 3 S 2 SGB X iVm § 580 ZPO folgt nicht, dass zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung entsprechend § 581 Abs 1 ZPO eine rechtskräftige Verurteilung vorliegen muss. (Rn.41)

Verfahrensgang

vorgehend SG Halle (Saale), 16. März 2021, S 3 AS 1467/19, Urteil

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich noch gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit von April 2005 bis Februar 2008 und gegen eine daraus resultierende Erstattungsforderung.
Die 1964 geborene Klägerin bewohnte ab Herbst 2002 zusammen mit ihrem Partner, Herrn W., eine Wohnung in E., die beide gemeinsam angemietet hatten. Im Februar 2005 beantragte die Klägerin erstmals bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten Arbeitslosengeld II. Das Zusammenwohnen mit Herrn W. gab sie weder in diesem Erstantrag noch in den späteren Folgeanträgen an. Im Formular des Erstantrags kreuzte sie vielmehr an, sie sei „allein stehend“. Das Feld, in dem nach persönlichen Angaben zu einem etwaigen Partner gefragt wurde, strich sie durch. Wegen der Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) reichte sie jeweils in Kopie einen Auszug aus einem Mietvertrag und ein Datenblatt ein, die beide hinsichtlich der Mieter-Angabe manipuliert waren und fälschlich nur sie als Mieterin auswiesen. Entsprechend verfuhr die Klägerin in der Folgezeit mit Betriebs- und Heizkostenabrechnungen. In den folgenden Leistungsanträgen kreuzte sie jeweils an, hinsichtlich ihrer persönlichen Verhältnisse und hinsichtlich etwaiger Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft hätten sich keine Änderungen ergeben.
Die Rechtsvorgängerin des Beklagten und später der Beklagte bewilligten der Klägerin ab 1. März 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Wegen der Daten der Bescheide und der Höhe der bewilligten Leistungen wird verwiesen auf die Anlagen 1 und 2 zum streitgegenständlichen Bescheid des Beklagten vom 6. März 2019. Der Leistungsbemessung lag durchgehend die Annahme zugrunde, dass die Klägerin alleine lebe und den entsprechenden Regelbedarfssatz zu beanspruchen sowie alleine die angegebenen KdUH zu tragen habe.
Mit einem Schreiben vom 13. Februar 2018 teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Beklagten mit, dass die Klägerin und Herr W. ihm am Vortag berichtet hätten, dass sie den Beklagten „betrogen und über Jahre hinweg zu viel Miete kassiert“ hätten. Bestandteil der erhaltenen Leistungen seien u.a. Mietkosten für eine Wohnung gewesen, die für jeden gesondert berechnet worden seien, obwohl die Wohnung schon bei Erstantragstellung gemeinsam genutzt worden sei. Zu diesem Zweck habe man einen geänderten Mietvertrag vorgelegt. Auf diese Weise seien monatlich über 300 € zu viel gezahlt worden. In einem beigefügten handschriftlichen Brief vom 12. Februar 2018 führten die Klägerin und Herr W. aus, dass sie „in einer Wohnung als Bedarfsgemeinschaft“ lebten und seit 2005 „zu Unrecht […] doppelt Miete“ bezögen. Sie bereuten ihr Fehlverhalten und bemühten sich, den Schaden so schnell wie möglich zu begleichen. Es sei der größte Fehler ihres Lebens gewesen.
Der Beklagte stellte deshalb Ermittlungen zu den tatsächlich angefallenen KdUH an und bat die Stadtwerke E. GmbH um Unterlagen zu den Neben- und Heizkosten der Klägerin und ihres Partners in der Zeit seit 2005. Die Stadtwerke übersandten ihm daraufhin im Mai 2018 entsprechende Abrechnungen.
Unter dem 5. November 2018 hörte der Beklagte die Klägerin wegen einer beabsichtigten teilweisen Rücknahme der Leistungsbewilligung und der daraus resultierenden Erstattungsforderung an. In den Anlagen zum Anhörungsschreiben listete er die zurückzunehmenden Bescheide, die auf dieser Grundlage gezahlten Leistungen, die tatsächlichen KdUH, die neuberechneten Leistungsansprüche und die von ihm ermittelten Überzahlungen auf. Insgesamt ging er dabei von einer Aufhebungssumme von 31.995,81 € aus, der Nachzahlungsansprüche i.H.v. insgesamt 123,74 € gegenüberstünden.
Nach wiederholter Einsichtnahme in die Verwaltungsakte äußerte sich die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 14. Februar 2019. Sie und Herr W. hätten selbst angezeigt, dass sie bereits bei der ersten Antragstellung unrichtige Angaben gemacht und über die tatsächlichen Verhältnisse getäuscht hätten. Ihnen sei auch bewusst, dass die auf diesen Angaben beruhenden Bescheide rechtswidrig und die zu Unrecht erbrachten Leistungen zu erstatten seien. Allerdings könnten Bescheide, die vor Februar 2008 bekanntgegeben worden seien, gemäß § 45 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) nicht mehr zurückgenommen werden, weil insoweit eine Zehn-Jahres-Frist gelte.
Mit Bescheid vom 6. März 2019 nahm der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für die Zeit vom 1. März 2005 bis 31. März 2018 teilweise zurück und machte eine Erstattungsforderung geltend. Im Verfügungssatz bezifferte er den Umfang der Rücknahme auf insgesamt 31.995,81 €. Wegen der von der Rücknahme betroffenen Bescheide, der auf dieser Grundlage gezahlten Leistungen, der zu berücksichtigenden KdUH, der Berechnung der Leistungsansprüche für die einzelnen Monate sowie der Rücknahme- und Erstattungsbeträge für die einzelnen Zeiträume verwies er auf Anlagen zum Bescheid. In Anlage 5 listete er für jeden Monat die ursprünglich bewilligten und die verbleibenden Leistungen, jeweils differenziert nach „Regelbedarf“ und „Kosten der Unterkunft“, sowie die „Aufhebungssumme“ auf. Bei der Ermittlung der Bedarfe für die Kosten der Unterkunft machte er ausweislich der entsprechenden Übersicht (Anlage 3) und der Berechnungsbögen (Anlage 4) für die Zeit bis Februar 2007 von den Heizkosten einen Abschlag von 18% als „Warmwasseranteil“, von März 2007 bis Dezember 2010 ließ er die tatsächlich angefallenen Warmwasserkosten unberücksichtigt. Abschließend stellte er in der Anlage 5 die „Aufhebungssummen“ für jedes Jahr und die Gesamtsumme dar. Diese bezifferte er aufgrund eines Rechenfehlers mit 31.995,81 €. Rechnerisch richtig wäre auf Grundlage der von ihm zugrunde gelegten Einzelbeträge eine Gesamtsumme von 32.664,21 € gewesen. Bei der Addition war versehentlich die „Aufhebungssumme“ für das Jahr 2018 (668,40 €) nicht einbezogen worden. Bezüglich seiner Erstattungsforderung führte der Beklagte aus, nach einer Verrechnung von Nachzahlungen i.H.v. insgesamt 123,74 € für die Monate Dezember 2008 und Juli 2009 bleibe ein zu erstattender Betrag i.H.v. 31.872,07 €. Von der Erstattungssumme entfielen 7.139,82 € auf die noch streitgegenständliche Zeit vom 1. April 2005 bis zum 29. Februar 2008.
Gegen diesen Bescheid legte die anwaltlich vertretene Klägerin „aus rein anwaltlicher Vorsorge“ Widerspruch ein. Gleichzeitig beteuerte sie, sie werde das ihr Mögliche unternehmen, um die zu Unrecht erbrachten Leistungen zu erstatten.
Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2019 als unbegründet zurück. Die Klägerin habe die Tatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X erfüllt. Die Entscheidungen könnten auch ab 2005 aufgehoben werden. Die Klägerin habe in besonders schwerem Maße Leistungsmissbrauch betrieben und über viele Jahre hinweg gefälschte Mietverträge sowie Betriebs- und Heizkostenrechnungen vorgelegt. Damit seien die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X erfüllt, und die Rücknahme könne gemäß § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X auch über die in Satz 3 geregelte Zehn-Jahres-Frist hinaus erfolgen, da die Klägerin seit 2005 ununterbrochen Leistungen bezogen habe.
Die Klägerin und Herr W. wurden am 29. Juli 2020 vom Amtsgericht (AG) E. wegen gemeinschaftlichen Betruges zu Lasten des Beklagten in 20 Fällen jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil wurde am 6. August 2020 rechtskräftig.
Bereits am 31. Juli 2019 hatte die Klägerin beim Sozialgericht (SG) H. Klage erhoben. Sie hat dort zuletzt beantragt, den Rücknahme- und Erstattungsbescheid aufzuheben, soweit eine Rückforderung für den Zeitraum vom 1. März 2005 bis 29. Februar 2008 geltend gemacht werde. Insoweit stehe der Rücknahme § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X entgegen. Die Höhe der zur Erstattung gestellten Leistungen sei im Übrigen unstreitig.
Mit Urteil vom 16. März 2021 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. Es lägen unstreitig die Voraussetzungen einer teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. März 2008 bis zum 31. März 2018 vor. Aber auch für die Zeit vom 1. März 2005 bis 29. Februar 2008 fordere der Beklagte zu Recht Leistungen zurück. Der Klägerin sei zwar zuzugeben, dass § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X für eine rückwirkende Aufhebung über den Zehn-Jahres-Zeitraum hinaus keine Anwendung finde, weil die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts keine laufende Geldleistung im Sinne dieser Vorschrift darstelle, da die Bewilligung jeweils nur für sechs bzw. zwölf Monate erfolge. Vorliegend greife aber § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X, weil die Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 580 Nr. 4 Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben seien. Dieses Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes suspendiere auch die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X. Die Einschränkung des § 586 Abs. 2 ZPO finde keine Anwendung. Das Urteil ist der Klägerin am 6. April 2021 zugestellt worden.
Mit ihrer am 20. April 2021 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor, sie habe gemeinsam mit ihrem Partner unrichtige Angaben gemacht und dadurch Leistungen erschlichen. Sie verkenne nicht, dass ein Wiederaufnahmegrund i.S.v. § 580 ZPO vorliege und dass dieser neben der zweijährigen Verjährungsfrist auch die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X suspendiere. Eine Erstattung sei aber unabhängig davon ausgeschlossen, weil der Erstattungsanspruch nicht innerhalb der Fristen des § 586 Abs. 1, Abs. 2 ZPO sowie der Frist des § 45 Abs. 4 SGB X geltend gemacht worden sei. Auch hätten zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung die Voraussetzungen des § 581 ZPO nicht vorgelegen. Dass sie geständig gewesen sei, dürfe nicht zu ihren Lasten gehen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom 16. März 2021 und den Bescheid des Beklagten vom 6. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2019, soweit mit diesem eine Rückforderung bewilligter Leistungen für den Zeitraum 1. April 2005 bis 29. Februar 2008 geltend gemacht worden war, aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf das seines Erachtens zutreffende Urteil des SG. Er ist der Auffassung, dass es für die Annahme von Wiederaufnahmegründen i.S.v. § 580 Nr. 2 und 4 i.V.m. § 581 ZPO nicht entscheidungserheblich darauf ankomme, dass das Strafurteil erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2019 ergangen sei. Im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 3 SGB X müssten die Wiederaufnahmegründe des § 580 ZPO nur entsprechend vorliegen. Müsste zunächst der Ausgang des Strafverfahrens abgewartet werden, wäre zudem regelmäßig die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verstrichen, obwohl die Tatsachen für die Aufhebungsentscheidung bereits bekannt seien.
Auf einen Hinweis des Berichterstatters, dass bei der Leistungsberechnung teilweise ein zu hoher Abzug von den KdUH im Hinblick auf die Bereitung von Warmwasser vorgenommen worden sei, hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 28. April 2022 ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass der Umfang der Rücknahme für die Monate März 2005 bis Mai 2006 und März 2007 bis Februar 2008 reduziert werde. Die Erstattungsforderung bleibe davon jedoch unberührt, weil der Umfang dieser Reduzierung (insgesamt 45,51 €, davon 45,48 € für April 2005 bis Februar 2008) geringer sei als der Betrag, um den die gesamte Erstattungsforderung von vornherein rechnerisch zu niedrig gewesen sei (668,40 €). Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 28. April 2022, wegen der Berechnung auf seinen Schriftsatz vom 25. März 2022 samt Anlagen verwiesen. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen.
Hinsichtlich der teilweisen Rücknahme der Leistungsbewilligung für den Monat März 2005 und der darauf beruhenden Erstattungsforderung des Beklagten haben die Beteiligten auf Vorschlag des Berichterstatters einen Teilvergleich geschlossen und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.

Entscheidungsgründe


1. Der Senat entscheidet gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben und keine Umstände vorliegen, die es gebieten würden, von diesem Einverständnis keinen Gebrauch zu machen.
2. Nach dem angenommenen Teilanerkenntnis des Beklagten und dem Teilvergleich der Beteiligten sind Gegenstand des Berufungsverfahrens noch das Urteil des SG H. vom 16. März 2021 sowie der Rücknahme- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 6. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2019, soweit damit die Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 29. Februar 2008 in einem Umfang von insgesamt 7.094,34 € (7.139,82 € – 45,48 €) teilweise zurückgenommen werden und eine entsprechende Erstattungsforderung geltend gemacht wird.
3. Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthaft, weil die Berufungsbeschwer 750 € übersteigt, und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG).
4. Sie ist jedoch nach dem von der Klägerin angenommenen Teilanerkenntnis des Beklagten unbegründet. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige isolierte Anfechtungsklage ist nunmehr in vollem Umfang unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist, soweit er hier zur Überprüfung steht, nicht zum Nachteil der Klägerin rechtswidrig und verletzt sie nicht in ihren Rechten.
a) Dies gilt zunächst hinsichtlich der Rücknahmeentscheidung.
aa) Diese findet ihre Rechtsgrundlage in § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III).
bb) Der Rücknahmebescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere ist die Klägerin vor seinem Erlass ausreichend angehört worden (§ 24 SGB X). Im Anhörungsschreiben vom 5. November 2018 und den beigefügten Anlagen wurden die Tatsachen aufgeführt, auf die der Beklagte anschließend seine Rücknahmeentscheidung gestützt hat. Schon wegen der vorangegangenen Selbstanzeige der Klägerin ist es unschädlich, dass das ihr vorgeworfene grob fahrlässige oder vorsätzliche Verhalten dabei nur relativ knapp und abstrakt umrissen wurde (vgl. auch § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X). Zudem bestand für die Klägerin unabhängig von dem Anhörungsschreiben Gelegenheit, sich im Widerspruchsverfahren ausreichend zu äußern.
cc) Der Bescheid ist auch hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X). Das setzt voraus, dass der Betroffene bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls in die Lage versetzt wird, die im Verwaltungsakt getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 25. Oktober 2017 – B 14 AS 9/17 R – juris Rn. 17). Bei einem Rücknahme- oder Aufhebungsbescheid, der laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende betrifft, muss für den Leistungsberechtigten erkennbar sein, ob und in welchem Umfang ihm monatlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verbleiben (vgl. BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 196/11 R – juris Rn. 17). Bei einer sich über mehrere Monate erstreckenden Teilrücknahme oder Teilaufhebung von Leistungen ist erforderlich, dass dem Verwaltungsakt die ändernden Teilbeträge für jeden Monat im Einzelnen entnommen werden können; es reicht nicht aus, wenn er nur eine Teilaufhebung für einen Gesamtzeitraum in Höhe eines Gesamtbetrags ohne Konkretisierung dieses Betrags für die einzelnen Monate enthält (vgl. BSG, Urteil vom 14. Mai 2020 – B 14 AS 10/19 R – juris Rn. 18).
Diesen Anforderungen genügt der angegriffene Bescheid. Bei einer formalen Betrachtung enthält sein Verfügungssatz zwar nur eine Rücknahme der Leistungsbewilligung „für die Zeit vom 01.03.2005 bis 31.03.2018 teilweise in Höhe von insgesamt 31.995,81 Euro“. Durch den sogleich folgenden Verweis auf die umfangreichen Anlagen kann aus Sicht eines verständigen Empfängers aber kein Zweifel darüber bestehen, welcher konkrete Bescheid für welchen Monat in welchem Umfang aufgehoben wird und in welcher Höhe für welchen Monat weiterhin Leistungen gewährt werden.
dd) Auch die materiellen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X liegen vor, so dass die Bewilligungsentscheidungen gem. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III ohne Ausübung von Ermessen teilweise zurückzunehmen waren. Die Rücknahmefristen sind gewahrt.
(1) Die in Anlage 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 6. März 2019 aufgeführten Bewilligungs- und Änderungsbescheide, mit denen der Beklagte der Klägerin Leistungen für den streitgegenständlichen Zeitraum bewilligt hat, waren von Anfang an teilweise rechtswidrig. Der Beklagte hat der Klägerin für den streitigen Zeitraum durchgehend zu hohe Leistungen gewährt, weil sie entgegen ihren Angaben nicht alleinstehend war, sondern mit ihrem Partner, Herrn W., zusammenlebte und mit diesem eine Bedarfsgemeinschaft bildete. Aufgrund der wiederholten geständigen Einlassungen der Klägerin und des Herrn W. bestehen keine Zweifel daran, Herr W. mit der Klägerin als Partner in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebte (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b] SGB II in der bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung; siehe dazu BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14 AS 23/07 R – juris Rn. 4, 16) bzw. so mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebte, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c] SGB II in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung; siehe dazu BSG, Urteil vom 23. August 2012 – B 4 AS 34/12 R – juris Rn. 14; Urteil vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 60/15 R – juris Rn. 25). Aus diesem Grund wäre zum einen ein niedrigerer Regelbedarfssatz zugrunde zu legen gewesen, zum anderen hätte nach dem sog. Kopfteilprinzip nur die Hälfte der tatsächlich angefallenen KdUH als Bedarf der Klägerin berücksichtigt werden dürfen.
(2) Der Umfang der Rücknahme ist nach dem von der Klägerin angenommenen Teilanerkenntnis des Beklagten nicht zu beanstanden. Er ist nicht zum Nachteil der Klägerin rechtswidrig.
Die Klägerin erfüllte dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II gemäß § 19 SGB II in der jeweils geltenden Fassung. Die Höhe ihres Leistungsanspruchs hat der Beklagte für die einzelnen Monate des Streitzeitraums zutreffend ermittelt. Die ursprünglich fehlerhafte Berücksichtigung von Kosten der Warmwasserbereitung hat er mit seinem Teilanerkenntnis korrigiert, soweit sich eine solche Korrektur für die Klägerin positiv auswirkte; soweit eine Korrektur zulasten der Klägerin gegangen wäre, hat er zu Recht aus Gründen des Vertrauensschutzes von einer Änderung abgesehen.
Der Regelbedarf der Klägerin als Partnerin in einer Bedarfsgemeinschaft betrug gemäß § 20 Abs. 2, 3 und 4 SGB II in den im streitigen Zeitraum jeweils geltenden Fassungen zunächst 298 € pro Monat (Wert für Ostdeutschland), ab 1. Juli 2006 311 € und ab 1. Juli 2007 312 €. Mehrbedarfe waren nicht zu berücksichtigen. Als KdUH war nach dem Kopfteilprinzip die Hälfte der tatsächlich angefallenen Kosten für die von der Klägerin und ihrem Partner bewohnte Wohnung anzusetzen. Diese bestanden aus der Grundmiete i.H.v. 270,54 €, einer Nebenkostenvorauszahlung i.H.v. 30,06 € und schwankenden weiteren monatlichen Kosten für Wasser, Abwasser und Heizung. Wegen dieser Kosten verweist der Senat auf die zutreffende Darstellung in Anlage 3 des angegriffenen Bescheids. Höhere tatsächliche KdUH, als dort aufgeführt und berücksichtigt worden sind, werden von der Klägerin nicht geltend gemacht und lassen sich auch nicht feststellen. Betriebskostengutschriften im August 2006 und Juni 2007 hat der Beklagte gemäß § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (jetzt: § 22 Abs. 3 SGB II) zutreffend in den jeweiligen Folgemonaten bedarfsmindernd berücksichtigt (vgl. auch BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 8/20 R – juris Rn. 34).
Soweit der Beklagte im Hinblick auf die bereits bei der Bemessung des Regelbedarfs berücksichtigten Kosten der Warmwasserbereitung zunächst zu Unrecht 18% der Heizkosten abgezogen bzw. Warmwasserkosten unberücksichtigt gelassen hatte (vgl. BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/11b AS 15/07 R – juris Rn. 20, 23 ff.), hat er dies mit seinem Teilanerkenntnis vom 28. April 2022 zugunsten der Klägerin korrigiert und zutreffend in Abhängigkeit von der jeweiligen Höhe des Regelbedarfs einen Betrag von 5,37 €, 5,60 € bzw. 5,63 € pro Person in Abzug gebracht (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 25). Insoweit wird wegen der Berechnung auf die Anlagen zum Schriftsatz des Beklagten vom 25. März 2022, insbesondere die dortigen Berechnungsbögen verwiesen.
Auf dieser Grundlage ergeben sich die ebenda ausführlich und zutreffend dargestellten Leistungsansprüche der Klägerin. Basierend darauf hat der Beklagte den Umfang der teilweisen Rücknahme der ursprünglichen Leistungsbewilligung zutreffend oder jedenfalls nicht zum Nachteil der Klägerin zu hoch bestimmt.
(3) Die Klägerin kann sich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X nicht auf Vertrauensschutz berufen. Sie hat die Bewilligungsentscheidungen durch arglistige Täuschung erwirkt. Die Annahme einer arglistigen Täuschung setzt einen Täuschungswillen mit der Absicht, einen für den Erlass des Verwaltungsaktes ausschlaggebenden Irrtum zu erzeugen, voraus (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1993 – 9/9a RV 38/91 – juris Rn. 25). Die Klägerin hat selbst eingeräumt, die zuständigen Mitarbeiter der Rechtsvorgängerin des Beklagten durch bewusst falsche Angaben in den Antragsformularen und das Einreichen manipulierter Unterlagen in die irrige Annahme versetzt zu haben, sie lebe allein. Ihr Ziel war es, auf diese Weise höhere Leistungen zu erhalten, als ihr zustanden. Tatsächlich hat der Beklagte ihr auch auf Grundlage dieser falschen Angaben zu hohe Leistungen bewilligt. Aufgrund der bewussten Falschangaben der Klägerin ist zugleich auch der Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X erfüllt: Die Bewilligungsentscheidungen beruhten auf Angaben, die die Klägerin vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hatte. Schließlich kannte die Klägerin auch die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).
(4) Die Rücknahmefrist des § 45 Abs. 3 SGB X ist gewahrt.
(a) Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach § 45 Abs. 2 SGB X nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Bei den teilweise zurückgenommenen Bewilligungsentscheidungen über laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den streitigen Zeitraum handelt es sich um Dauerverwaltungsakte. Allerdings gilt die Zwei-Jahres-Frist nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO vorliegen (§ 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X). Das ist hier der Fall. Nach § 580 ZPO findet die Restitutionsklage u.a. statt, wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war (Nr. 2) und wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist (Nr. 4).
Es kann dahinstehen, ob hier hinsichtlich der von der Klägerin vorgelegten manipulierten Unterlagen zu den KdUH der Tatbestand des § 580 Nr. 2 ZPO verwirklicht ist (zum maßgeblichen Urkundenbegriff und der Bedeutung von Fotokopien siehe Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 4. August 2016 – 8 B 24/15 – juris Rn. 7; Weidemann in: v. Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 267 Rn. 16 ff. [Stand: 1. Mai 2022]). Jedenfalls hat die Klägerin die rechtswidrig zu hohen Leistungsbewilligungen durch im Hinblick auf ihr Leistungsbegehren verübte Betrugsstraftaten (§ 263 Abs. 1 Strafgesetzbuch [StGB]) erwirkt. Sie und ihr Partner haben den Beklagten bzw. dessen Rechtsvorgängerin vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft über ihr Zusammenleben und die Höhe ihrer individuellen KdUH getäuscht, um sich einen Vermögensvorteil in Gestalt zu hoch bemessenen Arbeitslosengeldes II zu verschaffen. Dadurch haben sie beim Beklagten bzw. dessen Rechtsvorgängerin einen Irrtum über die tatsächlichen Leistungsvoraussetzungen erregt und durch die daraufhin erfolgte Vermögensverfügung in Gestalt einer zu hohen Leistungsbewilligung deren Vermögen geschädigt.
(aa) Der Anwendung von § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X stehen nicht § 581 Abs. 1 ZPO und der Umstand, dass die Klägerin erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids rechtskräftig wegen dieser Betrugstaten verurteilt worden ist, entgegen.
Es gilt grds. die Faustformel, dass bei einer isolierten Anfechtungsklage für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014 – B 14 AS 39/13 R – juris Rn. 19). Das wäre hier der Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2019. Würde man die genannte Faustformel vorliegend zugrunde legen, könnte die Rücknahme dann problematisch sein, wenn man im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X nicht nur den dort ausdrücklich genannten § 580 ZPO für einschlägig hielte, sondern trotz seiner Nichterwähnung auch § 581 ZPO. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift findet in den Fällen des § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO die Restitutionsklage nur statt, wenn wegen der Straftat eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist oder wenn die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen kann. Bei Erlass des Widerspruchsbescheids war die Klägerin aber noch nicht rechtskräftig verurteilt; diese Verurteilung ist erst etwas mehr als ein Jahr später erfolgt und rechtskräftig geworden.
Das BSG hat in Entscheidungen zu § 45 Abs. 3 SGB X zwar die Bedeutung des § 581 ZPO im System der zivilrechtlichen Restitutionsklage dargestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1993 – 9/9a RV 38/91 – juris Rn. 15; Urteil vom 21. Oktober 2020 – B 13 R 19/19 R – juris Rn. 24), sich aber zur (allenfalls: entsprechenden) Anwendung und Bedeutung der Vorschrift im Rahmen des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X nicht eindeutig geäußert. In der Kommentarliteratur wird eine entsprechende Anwendung abgelehnt (vgl. Lang in: Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Auflage 2019, § 45 Rn. 88; Steinwedel in: Kasseler Kommentar, § 45 SGB X Rn. 43a [Stand: September 2020]; Heße in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 45 SGB X Rn. 40 [Stand: 1. März 2022]). Dem schließt sich der erkennende Senat an.
§ 581 ZPO statuiert lediglich ein Zulässigkeitserfordernis i.S.d. § 589 ZPO für die zivilrechtliche Restitutionsklage (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 34. Auflage 2022, § 581 Rn. 1). Der Gesetzgeber der Reichsjustizgesetze wollte damit vermeiden, dass „im Zivilverfahren über eine strafbare Handlung gestritten wird, zu deren Feststellung das zunächst dafür bestimmte Strafverfahren nicht ausreicht“ (Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band 2, Abteilung 1, 2. Auflage 1881, S. 381; siehe dazu Braun/Heiß in: M.er Kommentar zur ZPO, Bd. 2, 6. Auflage 2020, § 581 Rn. 1 ff.). Nicht bezweckt wird eine inhaltliche Bindung an die vorherige strafrechtliche Verurteilung. Bei seiner Sachentscheidung muss sich das Zivilgericht vielmehr selbst vom Vorliegen einer Straftat überzeugen (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 22. September 1982 – IVb ZR 576/80 – juris Rn. 15 ff.).
§ 581 Abs. 1 ZPO findet vorliegend schon deshalb keine Anwendung, weil § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X nicht auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Restitutionsklage i.S.v. § 589 ZPO oder insgesamt auf deren Zulässigkeit und Begründetheit verweist, sondern allein auf das Vorliegen eines Restitutionsgrundes i.S.v. § 580 ZPO. Der Wortlaut des Verweises ist eindeutig: „[…] wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen“. Unabhängig davon lässt sich auch der Regelungszweck des § 581 Abs. 1 ZPO nicht ohne Weiteres auf das sozialverwaltungsverfahrensrechtliche Rücknahmeverfahren nach § 45 SGB X übertragen. § 581 Abs. 1 ZPO soll verhindern, dass in einem (zivil-)gerichtlichen Verfahren über das Vorliegen eines Straftatbestandes befunden wird, bevor die dafür originär zuständigen Strafgerichte diese Frage geklärt haben. Das hat der Gesetzgeber – wie auch § 581 Abs. 2 ZPO zeigt – gerade im Hinblick auf den von Dispositionsmaxime und Beibringungsgrundsatz geprägten Zivilprozess als problematisch angesehen. Das Rücknahmeverfahren nach § 45 SGB X ist aber kein Gerichts-, sondern ein Verwaltungsverfahren. Als solches unterliegt es gemäß § 18 SGB X der Offizialmaxime und gemäß § 20 SGB X dem Amtsermittlungsgrundsatz.
Auch der Sinn und Zweck sowie der Regelungszusammenhang des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X sprechen gegen eine entsprechende Anwendung von § 581 Abs. 1 ZPO. Hier geht es – anders als im unmittelbaren Anwendungsbereich von § 581 Abs. 1 ZPO – nicht um die Frage, ob überhaupt ein Restitutions- bzw. Rücknahmeverfahren eingeleitet werden darf, sondern nur um den Zeitraum, innerhalb dessen die Rücknahme erfolgen kann. § 45 Abs. 3 SGB X soll die Möglichkeit der Behörde zur Zurücknahme eines Verwaltungsaktes zeitlich begrenzen; der Begünstigte soll nicht noch viele Jahre nach der Erteilung des Verwaltungsaktes mit einer Rücknahme rechnen müssen (vgl. Schütze in: ders., SGB X, 9. Auflage 2020, § 45 Rn. 74). Die entsprechende Anwendung von § 581 Abs. 1 ZPO würde aber, wie der vorliegende Fall zeigt, faktisch das Gegenteil bewirken: Obwohl eine rechtskräftige Verurteilung an sich keine Voraussetzung einer Rücknahme ist, hätte der Beklagte trotz des Geständnisses der Klägerin bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung warten müssen, bevor er den Rücknahmebescheid hätte erlassen dürfen. Das wäre das Gegenteil dessen, was § 45 Abs. 3 SGB X bezweckt.
Zugleich wäre die Heranziehung von § 581 Abs. 1 ZPO im Hinblick auf die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X problematisch. Da sich das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung im Regelungsgefüge des § 45 SGB X schwerlich als Tatsache, die die Rücknahme für die Vergangenheit rechtfertigt, beschreiben lässt, würde regelmäßig eine Versäumung dieser Frist drohen.
Ohnehin wird die in § 581 Abs. 1 ZPO normierte Voraussetzung einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung nahezu allgemein als missglückt und als Fremdkörper innerhalb des Zivilprozessrechts angesehen (vgl. Braun/Heiß, a.a.O., Rn, 1, 11 ff.; Jacobs in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 6, 23. Auflage 2018, § 581 Rn. 1; Musielak in: ders./Voit, ZPO, 19. Auflage 2022, § 581 Rn. 1). Im Ergebnis gilt dies im Zivilprozess vor allem deshalb als unproblematisch, weil die Regelung ihre praktische Wirksamkeit dadurch einbüßt, dass ein rechtskräftiges Urteil ggf. statt durch Restitutionsklage im Wege der Schadensersatzklage nach § 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) beseitigt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 1968 – VIII ZR 141/65 – juris Rn. 16 ff., 23 ff.; Beschluss vom 21. Januar 2010 – IX ZR 17/08 – juris Rn. 5; Braun/Heiß, a.a.O., Rn. 1; Greger, a.a.O., Rn. 1). Ausdrücklich hebt der BGH hervor: „Die Regelung der §§ 581, 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO mag in Einzelfällen unbefriedigend erscheinen. Abhilfe kann dort jedoch weitestgehend über § 826 BGB geschaffen werden“ (Beschluss vom 21. Januar 2010, a.a.O.). Eine solche Abhilfemöglichkeit steht im Rücknahmeverfahren nach § 45 SGB X nicht zur Verfügung. Umso weniger besteht Anlass, § 581 Abs. 1 ZPO dort entgegen dem Wortlaut und der Systematik des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X und ohne Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage zur Anwendung zu bringen.
(bb) Der Anwendung von § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X steht auch nicht § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO entgegen. Nach dieser Vorschrift ist eine Restitutionsklage nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tag der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, unstatthaft. Es kann dahinstehen, ob die Regelung im Rahmen des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X überhaupt entsprechend anzuwenden ist (so Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. September 2019 – L 12 R 116/16 – juris Rn. 36 für den Fall des § 580 Nr. 7 Buchst. b] ZPO; vgl. auch BSG, Urteil vom 24. März 1993, a.a.O., Rn. 15 ff., dagegen: Lang, a.a.O., § 45 Rn. 86; Merten in: Hauck/Noftz, SGB X, § 45 Rn. 127 [Stand: Juli 2021]; offen gelassen von BSG, Urteil vom 21. Oktober 2020, a.a.O., Rn. 16). Die meisten der bereits zu § 581 Abs. 1 ZPO angeführten Einwände lassen sich auf § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO übertragen und sprechen gegen eine entsprechende Anwendung. Aber unabhängig davon kommt die Fünf-Jahres-Frist nach dem Regelungsgefüge des § 45 Abs. 3 SGB X jedenfalls dann nicht zur Anwendung, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt – wie hier – durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X erwirkt hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1993, a.a.O., Rn. 15, 18).
(b) Der Rücknahme steht auch nicht § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X entgegen. Danach kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach § 45 Abs. 2 SGB X bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X gegeben sind oder der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde. Diese Zehn-Jahres-Frist kommt aber nach der Systematik der Vorschrift nicht zur Anwendung, wenn gemäß § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. § 580 ZPO ein Wiederaufnahmegrund vorliegt und der zurückzunehmende rechtswidrige Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X erwirkt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1993, a.a.O., Rn. 18; Urteil vom 21. Oktober 2020, a.a.O., Rn. 24 ff.; Schütze, a.a.O., § 45 Rn. 85; Merten, a.a.O., Rn. 129). Das ist vorliegend der Fall.
Es kommt deshalb nicht darauf an, ob hier der Ausnahmetatbestand des § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X greift. Nach dieser Vorschrift gilt die Zehn-Jahres-Frist des Satzes 3 nicht für einen Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. Das SG hat die Anwendung dieser Vorschrift wohl zu Recht verneint, denn die Klägerin hat zwar bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme Arbeitslosengeld II bezogen, dieses ist aber der gesetzlichen Konzeption des § 41 Abs. 3 SGB II (ursprünglich: § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II a.F.) folgend immer nur abschnittsweise gewährt worden und nicht durchgehend vom Beginn des Streitzeitraums bis zum Beginn des Aufhebungsverfahrens.
(5) Auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ist gewahrt. Nach dieser Vorschrift muss die Behörde die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vornehmen, welche die Rücknahme rechtfertigen. Dazu gehören auch die subjektiven Voraussetzungen der Rücknahmeentscheidung, also ggf. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Begünstigten, weshalb die Jahresfrist regelmäßig erst nach dessen Anhörung beginnt (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R – juris Rn. 23 f.). Diese erfolgte im November 2018. Vorliegend könnte allerdings etwas anderes gelten, weil die Klägerin ihr vorsätzliches Handeln bereits in ihrer Selbstanzeige vom 13. Februar 2018 eingeräumt hatte.
Dies kann jedoch dahinstehen, denn zu den nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X für den Fristbeginn maßgeblichen Tatsachen gehören nicht nur diejenigen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergibt, sondern auch diejenigen, die bei einer Teilrechtswidrigkeit des Bescheids für deren genauen Umfang von Bedeutung sind (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juni 2003 – B 5 RJ 28/02 R – juris Rn. 21). Im vorliegenden Fall betrifft dies insbesondere die Höhe der tatsächlich angefallenen KdUH. Schon weil die Klägerin selbst eingeräumt hatte, die von ihr eingereichten Unterlagen manipuliert zu haben, hat der Beklagte Informationen bei den Stadtwerken eingeholt. Die Jahresfrist hat deshalb frühestens mit deren Vorliegen im Mai 2018 begonnen, so dass die Aufhebungsentscheidung fristgemäß ergangen ist.
b) Auch die Erstattungsforderung ist dem Grunde und der Höhe nach nicht zu beanstanden. Sie hat ihre Rechtsgrundlage in § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Insgesamt macht der Beklagte einen Erstattungsanspruch i.H.v. 31.995,81 € geltend. Davon ist vorliegend aufgrund des Teilvergleichs der Beteiligten ein Betrag von 104,46 € auszuklammern, der auf die teilweise Rücknahme der Leistungsbewilligung für März 2005 entfällt. Von den verbleibenden 31.891,35 € entfallen 25.419,90 € auf die bestandskräftig gewordene teilweise Rücknahme der Leistungsbewilligung für März 2008 bis März 2018. Die damit noch als streitig verbleibende Erstattungsforderung i.H.v. 6.471,45 € bleibt – aufgrund des Rechenfehlers des Beklagten im angegriffenen Bescheid – deutlich hinter dem zurück, was aufgrund der rechtmäßigen teilweisen Rücknahme der Leistungsbewilligung für den streitigen Zeitraum von April 2005 bis Februar 2008 gerechtfertigt wäre.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
6. Der Senat lässt die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu, weil die Sache im Hinblick auf die Auslegung von § 45 Abs. 3 SGB X grundsätzliche Bedeutung hat.


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