Arbeitsrecht

Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Bescheid, Leistungen, Widerspruchsbescheid, Revision, Einkommen, Klageverfahren, Lebensunterhalt, Prozesskostenhilfeantrag, Unterhaltsanspruch, Verfahren, Verwaltungsgerichtshof, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Bewilligung Prozesskostenhilfe, Kosten des Verfahrens

Aktenzeichen  98 F 20.1724

Datum:
4.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 47694
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

98 F 20.1724 2020-10-15 Bes VGHMUENCHEN VGH München

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 500 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 30. Oktober 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
1. Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie wurde nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) erhoben. Auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist gewahrt. Zwar hat die Klägerin die Klage nicht innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die das Verfahren beendet hat, erhoben. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO scheidet aus, weil es sich bei der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG um eine materiellrechtliche Ausschlussfrist handelt; jedoch ist diese unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB (Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung) gewahrt, wenn innerhalb dieser Frist ein vollständiger Prozesskostenhilfeantrag gestellt wird und die Klage auf Entschädigung unmittelbar bzw. alsbald nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhoben wird. Im Einzelnen wird auf die Gründe die Beschlüsse des Senats vom 15. Oktober 2020 und 14. Juli 2020 (Parallelverfahren der Klägerin Az. 98 F 19.2483) verwiesen.
2. Die Klage ist in der Hauptsache begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils infolge unangemessener Verfahrensdauer in Höhe von 500 Euro zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Da die Klägerin keinen materiellen Nachteil im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 geltend macht, ist nur der Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist gemäß § 198 Abs. 2 GVG streitgegenständlich. Ein solcher Nachteil wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Die Entschädigung beträgt 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung.
2.1 Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens war in einem Umfang von fünf Monaten unangemessen im Sinne von § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
2.1.1 Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgeblich zu berücksichtigen sind die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), die Bedeutung der Sache für die Beteiligten und die Prozessförderung durch das Gericht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; vgl. auch Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 78). Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 18; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 37).
Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; U.v. 14.9.2017 – 2 WA 2.17 D – BVerwGE 159, 366 = juris Rn. 13; vgl. auch BVerfG, B.v. 30.8.2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16 – KommunalPraxis Wahlen 2018, 58 = juris Rn. 18). Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Festlegungen an eine Komplexitätsgrenze. Sie könnten letztlich für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reicht von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im Infrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden können. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
Des Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
2.1.2 Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
Das Verfahren war von überdurchschnittlicher tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeit, da eine Vielzahl von Fragen der Anrechnung oder Freistellung von Vermögensbestandteilen auch aus Härtefallgründen sowie Unterhaltsfragen im Rahmen der Ausbildungsförderung zu beurteilen waren.
Die Bedeutung eines Verfahrens, das die Ausbildungsförderung betrifft, ist in der Regel groß, weil es insoweit um die Deckung des Lebensunterhalts und die Fortführung der begonnenen Ausbildung geht. Hier bestand allerdings die Besonderheit, dass es im Verfahren der Klägerin um die Anrechnung bzw. Freistellung von Vermögen und um den Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem Vater, der ausreichendes Einkommen hatte, ging. Der Lebensunterhalt der Klägerin und die Ausbildung waren daher in dem Zeitraum, für den Ausbildungsförderung versagt worden war, sichergestellt. Zudem war der Klage bereits teilweise abgeholfen worden. Es kommt hinzu, dass das Verwaltungsgericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zeitnah zur Antragstellung bzw. Klageerhebung entschieden hat, dabei ausführlich auf die materiellrechtliche Rechtslage eingegangen ist und der Klägerin mit Schreiben vom 6. September 2016 mitgeteilt hat, dass im Hauptsacheverfahren keine andere Entscheidung zu erwarten sei. Da die Klägerin keine Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. August 2016 eingelegt hat, musste sie davon ausgehen, dass ihr Prozesskostenhilfeantrag auch im Klageverfahren keinen Erfolg haben würde, und konnte sich darauf einstellen.
Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Klägerin entstanden sind, können hier nicht isoliert von den dem Gericht zuzubilligen Gestaltungszeitraum festgestellt werden. Der Verfahrensablauf gestaltete sich, worauf die Klägerin zu Recht hinweist, kompliziert. Die Dauer des Verfahrens beruht hier jedenfalls auch auf den unklaren Prozesserklärungen der Klägerin und dem dadurch ausgelösten Klärungsbedarf. Dies ist der Klägerin als juristischer Laiin nicht vorzuwerfen, kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung auf die Feststellung einer unangemessenen Dauer des Verfahrens bleiben. Das Verwaltungsgericht hat die Erklärungen der Klägerin (z.B. die mit Schreiben vom 2.9.2016 erklärte Klagerücknahme) stets wohlwollend zu ihren Gunsten ausgelegt und ihr das mit vielen Schreiben immer wieder erläutert. Es hat zutreffend die ursprünglich vor Ergehen des Widerspruchsbescheids erhobene Untätigkeitsklage als Verpflichtungsklage fortgeführt, nachdem dem Widerspruch der Klägerin nur teilweise abgeholfen worden war. Dass die Klägerin ausschließlich ein isoliertes, vorgeschaltetes Prozesskostenhilfeverfahren durchführen wollte, ist ihren Schreiben nicht zu entnehmen gewesen. Das Verwaltungsgericht hat diesbezüglich mehrfach Hinweise gegeben. Die Klägerin hat auch nach dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Januar 2019 im Beschwerdeverfahren auf einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts beharrt.
2.1.3 Das verwaltungsgerichtliche Verfahren dauerte insgesamt vom 22. Juni 2016 bis 18. Mai 2019, also ca. 35 Monate. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass die Klägerin zunächst eine Untätigkeitsklage erhoben hat, und erst mit Schreiben vom 9. August 2016 die Untätigkeitsklage in eine Verpflichtungsklage umgestellt und hierfür einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt hat. Auch gilt es zu unterscheiden zwischen der Dauer des Prozesskostenhilfeverfahrens und des Verfahrens bis zum Urteil.
2.1.3.1 Der Zeitraum des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe muss hier außer Betracht bleiben. Nach Einlegung der Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss über die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe war das Verwaltungsgericht an einer Entscheidung der Verwaltungsstreitsache durch Urteil gehindert war, weil erst im Beschwerdeverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geklärt werden musste, ob der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der von ihr benannten Rechtsanwältin gewährt werden muss. Der Zeitraum von der Einlegung der Beschwerde bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde und damit auch eine etwaige unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens kann insoweit auf die – unangemessene – Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens nicht angerechnet werden, weil das Verwaltungsgericht das Verfahren in dieser Zeit nicht fördern konnte.
Materieller Bezugsrahmen ist zwar die Gesamtdauer des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder bei verschiedenen Gerichten geführt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 12; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 17), so dass sich auch Verzögerungen in nur einer Instanz auswirken können. Im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer unter Einbeziehung der Prozesskostenhilfebeschwerde kann eine etwaige unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht berücksichtigt werden, weil die Klägerin im Beschwerdeverfahren keine Verzögerungsrüge erhoben hat. Es bedarf einer erneuten Verzögerungsrüge, wenn sich das Verfahren bei einem anderen Gericht (hier: dem Beschwerdegericht) erneut verzögert (§ 198 Abs. 3 Satz 5 GVG). Die Klägerin hat zwar mehrmals beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nachgefragt und auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen, hat jedoch auch immer weitere Begründungen in der Sache vorgetragen und im Übrigen davon abgesehen, ausdrücklich eine Verzögerungsrüge zu erheben. Diese Schreiben der Klägerin, die ansonsten wohl als Verzögerungsrüge hätten gewertet werden können (vgl. z.B. BVerfG, KB.v. 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13 – juris Rn. 31 ff.; BSG, U.v. 27.3.2020 – B 10 ÜG 4/19 – juris Rn. 28 u.a.), können hier nicht als eine solche ausgelegt werden, weil die Klägerin im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht in ganz anderer Weise, nämlich durch die ausdrückliche Bezeichnung als Verzögerungsrüge (jeweils in Großschrift) und den Hinweis auf § 198 GVG solche Rügen erhoben hat. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass sie beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bewusst auf diese Rüge verzichtet hat. Eine objektive Auslegung gegen den angenommenen ausdrücklichen Willen der Klägerin ist nicht möglich (vgl. auch OVG NW, U.v. 17.9.2019 – 13 D 60/18.EK – juris Rn. 33 ff.; LSG Berlin-BBg, U.v. 24.1.2019 – L 37 SF 102/18 EK AS WA – juris Rn. 69 m.w.N.). Die Beschwerdeeinlegung erfolgte hier am 27. November 2017; der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde ging beim Verwaltungsgericht am 23. Januar 2019 ein. Es haben daher bei der Prüfung der unangemessenen Dauer des Gesamtverfahrens vierzehn Monate außer Betracht zu bleiben.
2.1.3.2 Nach Ergehen des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs war das Verwaltungsgericht nicht untätig. Bereits mit Schreiben vom 30. Januar 2019 hat es die Beteiligten um ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gebeten bzw. zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Im Folgenden kam es im Februar 2019 zu einem weiteren Schriftverkehr über die Frage, ob die Klage bedingt erhoben worden sei, sodass es mit der rechtskräftigen Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein Bewenden habe. Anschließend erging nach einer weiteren Verzögerungsrüge der Klägerin unter dem 23. April 2019 das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019.
Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 – 1 BvR 2662/06 – NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 – 1 BvR 314/11 – WM 2012, 76). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten – insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens – Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 – 2 BvR 1610/03 – NJW 2005, 3488, B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland – NJW 2001, 211 Rn. 75). Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 39).
Ein Urteil kann, insbesondere, wenn noch kein Prozessbevollmächtigter eingeschaltet ist, grundsätzlich erst nach rechtskräftiger Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ergehen. Für den Zeitraum nach Ergehen des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Januar 2019 bis zum Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019 liegt eine unangemessene Dauer des Klageverfahrens nicht vor, weil das Verwaltungsgericht in dieser Zeit nicht untätig war. Zunächst war zu klären, ob die Klägerin am Klagebegehren festhält. Im Übrigen ist dieser Zeitraum unter Berücksichtigung der anderweitig vom Gericht zu bearbeitenden Fälle angemessen für die Vorbereitung, Entscheidung und Fertigung eines Urteils nach Ergehen eines (rechtskräftigen) Prozesskostenhilfebeschlusses.
2.1.3.3 Anders verhält es sich hinsichtlich der Dauer des Prozesskostenhilfeverfahrens beim Verwaltungsgericht, das im Hinblick auf eine Entschädigung nach § 198 GVG auch isoliert betrachtet werden kann, und auf das die Klägerin zu Recht abstellt. Da das Prozesskostenhilfeverfahren ein notwendig vorgeschalteter Teil des Klageverfahrens ist, wirkt sich die unangemessene Dauer dieses Verfahrens auch auf die unangemessene Dauer des Klageverfahrens insgesamt aus, sodass es nicht darauf ankommt, wann die Klägerin zu Recht eine Verzögerungsrüge hinsichtlich der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag bzw. über das Klagebegehren im Einzelnen erhoben hat, zumal sie darüber hinaus mehrfach auf die Dringlichkeit ihrer Begehren und die Verzögerung der Entscheidungen hingewiesen hat.
Das Verwaltungsgericht hatte sich entschlossen, nicht bereits im Rahmen des Beschlusses im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vom 10. August 2016 und des insoweit gestellten Prozesskostenhilfeantrags auch über den Prozesskostenhilfeantrag für das Hauptsacheverfahren zu entscheiden, was nicht zu beanstanden ist. Dies gab der Klägerin Gelegenheit, weitere Begründungen für das Hauptsacheverfahren nachzuschieben. Entscheidungsreif war das Prozesskostenhilfegesuch der Klägerin für das Hauptsacheverfahren Ende Oktober 2016, nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 15. September 2016 eine (Klage-)Begründung vorgelegt und mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aktualisiert hatte. Das Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren beim Verwaltungsgericht dauerte vom 9. August 2016, als die Klägerin ausführte, die Untätigkeitsklage werde als Klageverfahren gegen Bescheid und Widerspruchsbescheid fortgeführt und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werde auf das Klageverfahren „ausgeweitet“, bis zur Zustellung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 8. November 2017 am 11. November 2017, also ca. 15 Monate. Dieser Zeitraum war auch aufgrund des Vorlaufs im einstweiligen Rechtsschutzverfahren und unter Berücksichtigung der schnellen Entscheidungsreife unangemessen lang. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht das Verfahren nach Entscheidungsreife nur insoweit gefördert, als es mit Schreiben vom 22. August 2017 die Klägerin zur teilweisen Erledigungserklärung der Untätigkeitsklage aufgefordert hat. Ansonsten war es bis zur Vorbereitung des Beschlusses vom 8. November 2017 untätig.
Unter Berücksichtigung der oben dargestellten Bedeutung der Streitsache für die Klägerin und der Tatsache, dass die Klägerin nach dem Beschluss vom 10. August 2016 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, in dem eine vollständige materiellrechtliche Prüfung durchgeführt worden war, nicht mehr von einer positiven Verbescheidung ihres Prozesskostenhilfeantrags im Klageverfahren ausgehen konnte, musste die Bearbeitung dieser Verwaltungsstreitsache im Verhältnis zu anderen Verwaltungsstreitsachen, die das Gericht gleichzeitig zu bearbeiten hatte, nicht vorgezogen, sondern durfte eher hintangestellt werden. Unter Berücksichtigung der schnellen Entscheidungsreife, der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin und des Gestaltungsspielraums des Verwaltungsgerichts liegt eine unangemessene Dauer des Prozesskostenhilfebewilligungsverfahrens für das Klageverfahren erst vor, soweit dieses länger als zehn Monate gedauert hat. Die Klägerin hat daher Anspruch auf Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen unangemessener Dauer des Verfahrens für fünf Monate.
2.2 Die Klägerin hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann. Dass die Klägerin Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren – wie hier – unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist vorliegend nicht widerlegt. Die Entschädigungssumme für die unangemessene Verfahrensverzögerung von fünf Monaten beträgt 500 Euro. Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt die Regelung eine zeitanteilige Berechnung zu (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2015 – 5 C 5.14 D – NVwZ-RR 2015, 641 = juris Rn. 55; vgl. auch BTDrs. 17/3802 S. 20).
2.3 Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 34 m.w.N.). Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung unter Berücksichtigung der Gesamtdauer des Verfahrens nicht ausreichend.
Die Festsetzung eines höheren (Monats-)Betrags nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ist nicht angezeigt; es liegt kein atypischer Sachverhalt vor. Die Entschädigung für den immateriellen Nachteil beinhaltet gerade die Belastung der Klägerin in finanzieller und psychischer Hinsicht. Auch Anhaltspunkte für die Angemessenheit eines niedrigeren Betrags sieht der Senat nicht.
3. Die Klägerin hat entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ab Eintritt der Rechtshängigkeit Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 46; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 14 und 17). Rechtshängigkeit trat hier jedoch erst mit der Klageerhebung am 30. Oktober 2020, nicht bereits mit der Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch künftig zu erhebende Klage ein. Daher war die Klage insoweit abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Unterliegen der Klägerin hinsichtlich der Rechtshängigkeitszinsen ist nur geringfügig.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 GVG und § 709 ZPO.
6. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


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