Arbeitsrecht

Zur Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer in einer beamtenversorgungsrechtlichen Streitigkeit

Aktenzeichen  23 A 15.2332

Datum:
29.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 116996
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
§ 94, § 173 Satz 2 VwGO
§ 198 Abs. 1 und 2 GVG

 

Leitsatz

1 Es verbietet sich in aller Regel, von Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder auf statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen (Anschluss an BayVGH BeckRS 2015, 56416). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei der Berücksichtigung des den Gerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Zu unangemessenen Verfahrensverzögerungen führen die Zeiten nicht, in denen die jeweilige Prozessordnung vorsieht, dass das Gericht untätig bleibt, also während der Dauer des Ruhens des Verfahrens gemäß § 173 S. 1 VwGO iVm § 251 ZPO oder gemäß § 94 VwGO solange das Verfahren ausgesetzt ist. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
4 Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (Verweis auf BVerfG BeckRS 2013, 47034). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
5 Es ist legitim und im Interesse der Verfahrensökonomie geboten, Entscheidungen in ähnlich gelagerten Fällen oder gar von Pilotverfahren, die ihrerseits in einem angemessenen Zeitraum zu erwarten sind, abzuwarten, auch wenn dadurch die Erledigung des zur Entscheidung stehenden Verfahrens hinausgeschoben wird. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
6 Im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit kann der Aussetzungsbeschluss im Verfahren über die Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer nicht auf Richtigkeit, sondern allenfalls auf seine Vertretbarkeit hin überprüft werden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
7 Die Verfahrensaussetzung im Hinblick auf ein anhängiges Revisionsverfahren dient der Prozessökonomie ebenso wie der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen und begegnet der Gefahr, dass das Gericht eine Auffassung zu Grunde legt, der nachträglich durch die Entscheidung des Revisionsgerichts die Grundlage entzogen wird (Anschluss an BGH BeckRS 9998, 54906). (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.800,- € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 25. März 2014 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger trägt 7/10, der Beklagte 3/10 der Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Verwaltungsgerichtshof entscheidet ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten darauf verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Entschädigungsklage hat nur teilweise Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils durch die unangemessene Verfahrensdauer in Höhe von 1.800,- € zuzüglich der Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus diesem Betrag seit Rechtshängigkeit.
Die Dauer des Berufungszulassungsverfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof war bei einer Dauer von 57 Monaten und 28 Tagen in einem Umfang von 18 Monaten unangemessen im Sinn von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
Materiellrechtlicher Bezugsrahmen des Entschädigungsanspruchs ist das gesamte verwaltungsgerichtliche Verfahren über alle Instanzen hinweg, in denen der Rechtsstreit anhängig war. Das behördliche Verfahren von der Festsetzung der Versorgungsbezüge bis zur Zurückweisung des Widerspruchsbescheids ist nicht Gegenstand eines Verfahrens auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, der gemäß § 173 Satz 2 VwGO für die Verwaltungsgerichtsbarkeit entsprechend gilt, beschränkt einen möglichen Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer auf Gerichtsverfahren einschließlich der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG genannten Nebenverfahren. Die Einschränkung verstößt weder gegen Verfassungsrecht noch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Soweit Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober, BGBl II S. 1198, behördliche Vorverfahren erfasst, werden dessen Anforderungen durch die Möglichkeit der Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO erfüllt (Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG Rn. 37 f.). Im Übrigen ist bei einer Dauer des Widerspruchsverfahrens von etwa drei Monaten eine unangemessene Verfahrensverzögerung nicht erkennbar.
Die Verfahrensdauer in der ersten Instanz ist nicht zu beanstanden. Eine Verfahrensdauer von etwa einem Jahr nach Entscheidungsreife und insgesamt von 16 Monaten ist angesichts des dem Gericht zuzubilligenden Gestaltungsspielraums sowie der ihm zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit nicht unangemessen. Die Klägerseite hat insoweit auch keine unangemessene Verfahrensverzögerung substantiiert geltend gemacht. Das Verwaltungsgericht war jedoch auch nicht schneller als erwartet werden konnte, sodass eine Zeitersparnis in der ersten Instanz der Laufzeit im zweiten Rechtszug nicht zu Gute kommt. Ebenso ist eine Verfahrensverzögerung hinsichtlich der am 8. Oktober 2013 erhobenen Anhörungsrüge, die mit Beschluss vom 25. Oktober 2013 zurückgewiesen worden ist, nicht erkennbar.
Der im Hinblick auf eine unangemessene Verfahrensdauer näher zu prüfende Zeitraum umfasst deshalb die Zeit von der Einreichung des Antrags auf Zulassung der Berufung, der am 28. November 2008 beim Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangen ist, bis zur Zustellung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 18. September 2013 am 25. September 2013, mit dem das Verfahren teilweise eingestellt und im Übrigen der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt worden ist.
Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinn von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Wie die Verwendung des Worts „insbesondere“ zeigt, werden damit Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, beispielhaft und ohne abschließenden Charakter benannt (BT-Drs. 17/3802 S. 18). Damit hat der Gesetzgeber bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Schematische zeitliche Vorgaben für die Angemessenheit sind daher ausgeschlossen. Es verbietet sich in aller Regel, von Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder auf statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen. Dabei macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob solche Werte – in Rechtsprechung und Literatur werden Zeitspannen von ein bis drei Jahren genannt – als „normale“, „durchschnittliche“ oder „übliche“ Bearbeitungs- oder Verfahrenslaufzeiten bezeichnet und – im Hinblick auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer – als Indiz (Regelfrist), Hilfskriterium oder „erster grober Anhalt“ herangezogen werden (hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 10.12.2015 – 23 A 14.2252 – juris Rn. 28 ff.).
Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinn von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei der Berücksichtigung des den Gerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind.
Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Eine Zurechnung der Verfahrensverzögerung zum Staat kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insbesondere für Zeiträume in Betracht, in denen das Gericht ohne rechtfertigenden Grund untätig geblieben ist, also das Verfahren nicht gefördert oder betrieben hat (vgl. EGMR, U.v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96, Kudła/Polen – NJW 2001, 2694 Rn. 130, v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Metzger/Deutschland – NJW 2002, 2856 Rn. 41). Zu unangemessenen Verfahrensverzögerungen führen deshalb die Zeiten nicht, in denen die jeweilige Prozessordnung vorsieht, dass das Gericht untätig bleibt, also während der Dauer des Ruhens des Verfahrens gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 251 ZPO oder gemäß § 94 VwGO solange das Verfahren ausgesetzt ist.
Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland – NJW 2001, 211 Rn. 75). Die zügige Erledigung eines Rechtsstreits ist kein Selbstzweck; vielmehr verlangt das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht (st. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa B.v. 12.2.1992 – 1 BvL 1/89 – BVerfGE 85, 337, v. 26.4.1999 – 1 BvR 467/99 – NJW 1999, 2582; ebenso BGH, U.v. 4.11.2010 – III ZR 32/10 – BGHZ 187, 286 Rn. 14 m.w.N.). Die Verfahrensgestaltung ist in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 – 1 BvR 2662/06 – NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 – 1 BvR 314/11 – WM 2012, 76). Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 – 2 BvR 1610/03 – NJW 2005, 3488, v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist.
Das Gericht muss zum einen den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt erarbeiten, insbesondere die entscheidungsrelevanten Tatsachen ermitteln. Ferner sind die rechtlichen Entscheidungsgrundlagen aufzubereiten, der Sachverhalt darunter zu subsumieren und – unter Klärung offenbar werdender oder von den Beteiligten aufgeworfener Probleme – zu entscheiden. Auch wenn im Zulassungsverfahren lediglich über die dargelegten Zulassungsgründe zu entscheiden ist, muss die angegriffene Entscheidung vom Rechtsmittelgericht zumindest nachvollzogen und kritisch hinterfragt werden.
Zum anderen hat das Gericht, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es besteht kein Anspruch darauf, dass ein Rechtsstreit, auch wenn er entscheidungsreif ist, sofort bzw. unverzüglich vom Gericht bearbeitet und entschieden wird. Der verantwortliche Justizgewährträger ist nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängige Verfahren sofort und ausschließlich nach Entscheidungsreife von einem Richter bearbeitet werden kann. Vielmehr muss ein Rechtsuchender damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Verfahren zu bearbeiten hat. Insofern ist ihm eine gewisse Wartezeit zuzumuten (BSG, U.v. 21.2.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL – NJW 2014, 248). Schon wegen der unterschiedlichen Zahl der Verfahrenseingänge im Laufe der Zeit, muss ein Gericht immer über eine gewisse „Restantenzahl“ verfügen, um einen sinnvollen Ressourceneinsatz zu gewährleisten, da Richter nicht nach Bedarf berufen und abberufen werden können. Das Gericht hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten – insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens – Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Dabei ist es legitim und im Interesse der Verfahrensökonomie geboten, Entscheidungen in ähnlich gelagerten Fällen oder gar von Pilotverfahren, die ihrerseits in einem angemessenen Zeitraum zu erwarten sind, abzuwarten, auch wenn dadurch die Erledigung des zur Entscheidung stehenden Verfahrens hinausgeschoben wird.
Der der gerichtlichen Gestaltungsfreiheit offen stehende Zeitraum beginnt nicht zwingend mit dem Zeitpunkt des „Ausgeschriebenseins“, nachdem die Beteiligten jeweils zur Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelbegründung bzw. -erwiderung Stellung genommen haben, oder dem der Entscheidungsreife, in dem der notwendige Tatsachenstoff aufgeklärt und den Beteiligten in hinreichender Weise rechtliches Gehör gewährt worden ist. Das Ende dieser Zeitspanne wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf den Anspruch des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, an dem das Verfahren bei einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts beendet wäre. Entschädigungsrechtlich relevant sind nur die nach Ablauf des Gestaltungszeitraums auf die Verfahrensführung des Gerichts zurückzuführenden Verzögerungen. Denn zur Begründung des Entschädigungsanspruchs reicht nicht jede Abweichung von der optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 39). In die Gesamtabwägung sind alle festgestellten Umstände des Einzelfalles einzustellen und zu gewichten.
Ferner hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten oder Dritten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
Das Gericht hat nach Eingang der Replik des Klägers auf die Erwiderung des Beklagten auf den Antrag auf Zulassung der Berufung am 24. April 2009 hin bis zur telefonischen Mitteilung an die Klägerbevollmächtigten am 26. Januar 2012, dass in einem ähnlich gelagerten Verfahren die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen worden sei und im Hinblick darauf eine Aussetzung des Verfahrens für sinnvoll erachtet werde, über einen Zeitraum von 33 Monaten keine verfahrensfördernden Aktivitäten erkennen lassen. Von diesem Zeitpunkt bis zur Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf die erwartete Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in dem genannten Parallelverfahren am 20. April 2012 wurde das Verfahren angemessen gefördert. In diesen Zeitraum fiel die Verzögerungsrüge wie auch die Anhörung des Klägers zur Absicht des Gerichts, das Verfahren auszusetzen. In diesem Zusammenhang wurde der Klägerseite auf Antrag eine Fristverlängerung zur Äußerung gewährt. Im Hinblick darauf, dass das Verfahren bis zur Revisionsentscheidung im Parallelverfahren ausgesetzt worden ist, hatte die Verfahrensführung in diesem Verfahrensabschnitt auch keine Auswirkung auf die Dauer des Gesamtverfahrens. Eine unangemessene Verfahrensverzögerung kann insoweit nicht erkannt werden.
Der Zeitraum der mit Beschluss vom 20. April 2012 angeordneten Aussetzung des Verfahrens bis zu dessen Fortsetzung ab 13. März 2013 von mehr als zehn Monaten kann nicht als unangemessene Verfahrensverzögerung gewertet werden, weil das Gesetz (§ 94 VwGO) die Untätigkeit des Gerichts ausdrücklich vorsieht. Im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit kann der Aussetzungsbeschluss im Verfahren über die Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer nicht auf Richtigkeit, sondern allenfalls auf seine Vertretbarkeit hin überprüft werden. Die Vertretbarkeit darf dabei nur verneint werden, wenn bei Würdigung auch der Belange einer funktionierenden Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist (BGH, U.v. 4.11.2010, – III ZR 32/10 – BGHZ 187,286 = juris Rn. 14).
Die Aussetzungsentscheidung erscheint jedenfalls nicht unvertretbar. Wenn auch in der Kommentarliteratur unter Hinweis auf die Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es für eine Aussetzung im Hinblick auf die Vorgreiflichkeit der Entscheidung vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, das Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits ist, nicht genügt, wenn sich dort lediglich die gleiche Rechtsfrage stellt (z.B. Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 94 Rn. 4), ist die Auffassung weit verbreitet, dass ein Verfahren ausgesetzt werden könne, wenn die hier zu entscheidende Rechtsfrage Gegenstand eines anderen Verfahrens insbesondere bei einem Revisionsgericht ist. Der Zweck der Aussetzung, divergierende Entscheidungen zu einem einheitlichen Sachkomplex zu vermeiden (Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 94 Rn. 1) trifft auch hier zu. Jedenfalls dient die Aussetzung der Prozessökonomie. Es erspart dem entscheidenden Gericht die oft schwierige und zeitaufwendige Prüfung, die durch das Revisionsgericht ohnehin erfolgt. Sie dient der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen und begegnet der Gefahr, dass das Gericht eine Auffassung zu Grunde legt, der nachträglich durch die Entscheidung des Revisionsgerichts die Grundlage entzogen wird und enthebt damit die unterlegene Partei der Notwendigkeit, ein Rechtsmittel einzulegen (BGH, B.v. 25.3.1998 – VIII ZR 337/97 – juris Rn. 7). Dieser Gesichtspunkt trifft gerade hier zu, weil das Revisionsgericht den Verwaltungsgerichtshof im Parallelverfahren aufgehoben hat. In dem Revisionsverfahren ging es auch nicht um die – wie die Klägerseite richtig ausführt – bereits im Jahr 2007 entschiedene Frage, ob die dreijährige Wartefrist im Hinblick auf die Anrechnung einer Beförderung bei der Festsetzung der Versorgungsbezüge verfassungsrechtlich Bestand hat. Inmitten hat vielmehr die Frage gestanden, ob mit der Nichtigerklärung der Erhöhung der Wartefrist auf drei Jahre die zugleich abgeschaffte Anrechnung der Zeiten, in denen bereits der dem Beförderungsamt entsprechende Dienstposten wahrgenommen worden ist, wieder aufgelebt ist, was der Senat anders als das Bundesverwaltungsgericht verneint hatte.
Nach der Fortsetzung des Verfahrens wurde es nach Verhandlungen über die teilweise unstreitige Erledigung in Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Parallelverfahren unter Gewährung einer Fristverlängerung für die Klägerseite mit Beschluss vom 18. September 2013 ohne erkennbare Verzögerung erledigt.
Hinsichtlich des verbleibenden Zeitraums der Untätigkeit des Gerichts von 33 Monaten gilt Folgendes:
Wie ausgeführt, ist dem Gericht ein Gestaltungsspielraum bei der Verfahrensführung zuzugestehen. Einerseits benötigt es eine Vorbereitung- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit der Komplexität der Rechtssache angemessen ist, und andererseits ist zu berücksichtigen, dass gleichzeitig eine Reihe weiterer Streitsachen zu bearbeiten und voranzutreiben ist.
Rechtsstreitigkeiten bezüglich der Versorgung von Beamten sind wegen häufiger Rechtsänderungen und ebenso häufiger Übergangsregelungen wie auch wegen vielfältiger Differenzierungen hinsichtlich der Zeiten, in denen der Beamte Dienst geleistet hat und auch im Hinblick auf mögliche Besonderheiten der einzelnen Dienstposten insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung der Tatsachengrundlage sowie des jeweils gültigen Rechtsstands und der anzuwendenden Vorschriften äußerst kompliziert und sehr arbeitsaufwendig. Der Richter kann sich auch nicht längere Zeit ausschließlich der Bearbeitung einer Rechtssache widmen. Vielmehr ist ständig der laufende Geschäftsanfall wie Posteingang, Zustellung von Schriftsätzen, Treffen verfahrensleitender Verfügungen, Mitwirkung bei der Bearbeitung und Entscheidungen von Rechtssachen, die von anderen Berichterstattern bearbeitet werden und der Teilnahme an Beratungen zu bewältigen, sodass er sich der vertieften Bearbeitung von Einzelfällen täglich nur in beschränktem Umfang widmen kann. Nicht zu vergessen ist, dass nach Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen über die richtige Lösung nachgedacht werden muss und die zutreffende Gedankenführung sich häufig nicht sogleich offenbart. Für die zu entscheidende Streitsache erscheint ein Vorbereitung- und Bearbeitungszeitraum von neun Monaten angemessen.
Zudem muss auch der nicht überlastete Richter eine Reihe weiterer Verfahren bearbeiten, über die Reihenfolge der Bearbeitung bestimmen und entsprechend der Bedeutung und Dringlichkeit der jeweiligen Streitsachen entscheiden, was vorzuziehen ist und was gegebenenfalls hintangestellt werden kann. Eine Bearbeitungsdauer von neun Monaten, die sich aus der erforderlichen Koordination der Bearbeitung der im Referat des Berichterstatters anfallenden Streitsachen ergibt, erscheint hinnehmbar. Nachdem sich jedoch Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit und andererseits die Bearbeitung des gesamten Referats nicht exakt trennen lassen und sich auch teilweise überdecken, erscheint eine Laufzeit von einem Jahr seit Entscheidungsreife angesichts der Komplexität der Rechtsgebiete, mit denen der entscheidende Senat befasst ist, insbesondere Beamtenrecht, Beamtenbesoldungs-und Versorgungsrecht nicht unangemessen. Die Grenze der Angemessenheit dürfte bei einer Laufzeit von 15 Monaten jedoch erreicht sein. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten oder Dritter hatte abgesehen von den auf Antrag gewährten Fristverlängerungen keinen Einfluss auf die Laufzeit. Mithin ergibt sich eine im Sinn des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessene Verfahrensdauer von 18 Monaten.
Diese Verfahrensdauer wird nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Senat den Ausgang eines über drei Instanzen geführten Rechtsstreits abgewartet hat, in dem es um eine Rechtsfrage gegangen ist, die sich u.a. auch im Ausgangsverfahren gestellt hat. Grundsätzlich ist es sachgerecht und unterfällt dem Gestaltungsspielraum des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers, eine Entscheidung, in der die Klärung einer entscheidungsrelevanten Frage zu erwarten ist, abzuwarten. Allerdings ist das Gericht gehalten zu prüfen, ob bei einer Verzögerung der Entscheidung des Referenzverfahrens – unabhängig von deren Grund – das bei ihm anhängige Verfahren zur Vermeidung unangemessener Laufzeiten voranzutreiben ist. Das ist hier der Fall. Die Berufung, deren Entscheidung – und darüber hinaus die Entscheidung über die dagegen erhobene Revision – abgewartet worden ist, war bereits bei Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung im Ausgangsverfahren bei dem Senat anhängig. Über die Berufung wurde jedoch erst drei Jahre und zwei Monate nach Eingang des Zulassungsantrags entschieden. Nachdem beide Verfahren beim selben Senat anhängig waren, war ihm der Verfahrensstand des Bezugsverfahrens zu jedem Zeitpunkt bekannt. Es wäre deshalb an ihm gewesen, das Berufungsverfahren voranzutreiben oder aber, soweit dem Hindernisse entgegenstanden, über den Zulassungsantrag zu entscheiden. Ein Zuwarten über einen so langen Zeitraum ist mit der Funktion des Zulassungsverfahrens, die Berufungswürdigkeit des Streitfalls zu prüfen (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 10), nicht vereinbar.
Dass der Kläger Nachteile nicht vermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Diese Vermutung ist hier nicht widerlegt. Nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG beträgt die Entschädigung 1.200,- € für jedes Jahr der Verzögerung bzw. 100,- € je Monat. Das Gericht kann einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 1.200,- € nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Eine derartige Billigkeitsentscheidung ist hier nicht veranlasst. Insbesondere ist dieser Betrag für die Zeit der Aussetzung des Verfahrens schon deshalb nicht zu verdoppeln, weil die Aussetzung keine unangemessene Verzögerung des Verfahrens zur Folge hatte.
Eine Entschädigung für materielle Nachteile wurde weder ausdrücklich beantragt, noch sind solche dargelegt worden oder ersichtlich.
Soweit der Entschädigungsanspruch begründet ist, hat der Kläger entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB Anspruch auf Prozesszinsen (Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 90 Rn. 14 und 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG, § 709 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben