Bankrecht

Haftung aufgrund fehlerhafter Bestätigungsvermerke

Aktenzeichen  3 U 6014/21

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
WM – 2022, 470
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
HGB § 331

 

Leitsatz

1. Ein Kausalzusammenhang zwischen einem Unternehmensbericht und dem Kaufentschluss der Anleger wird vermutet, wenn die Aktien nach Veröffentlichung eines Unternehmensberichts erworben worden sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Anleger den Bericht gelesen oder gekannt hat. Ausschlaggebend ist, dass der Bericht die Einschätzung eines Wertpapiers in Fachkreisen mitbestimmt und damit eine Anlagestimmung erzeugt. Diese Stimmung kann der Erwerber für sich in Anspruch nehmen. Sie endet, wenn im Laufe der Zeit andere Faktoren für die Einschätzung des Wertpapiers bestimmend werden, etwa eine wesentliche Änderung des Börsenindex, der Konjunktureinschätzung oder aber neuere Unternehmensdaten wie etwa ein Jahresabschluss. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verlangt der Anleger Naturalrestitution durch Rückabwicklung der Anlageentscheidung, muss er die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und seiner Anlageentscheidung nachweisen. Verlangt er hingegen den Kursdifferenzschaden, genügt die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für die fehlerhafte Preisbildung. Hierfür muss der Anleger lediglich darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass, wäre die Pflichtverletzung nicht erfolgt, der Kurs zum Zeitpunkt seines Kaufs niedriger gewesen wäre, als er tatsächlich war. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

29 O 3948/21 — LGMUENCHENI LG München I

Tenor

Nach vorläufiger Würdigung der Sach- und Rechtslage weist der Senat – in Übereinstimmung mit entsprechenden Hinweisen, die der 8. Zivilsenat in Parallelverfahren erteilt hat – darauf hin, dass das Verfahren aller Voraussicht nach der mündlichen Verhandlung bedarf, weil die Entscheidung des Landgerichts – wie in zahlreichen Parallelverfahren – an Rechts- und Verfahrensfehlern leiden dürfte, durch die eine sehr umfangreiche Beweisaufnahme in erster Instanz vermieden wurde. 

Gründe

Folgendes ist dazu auszuführen:
I. Die haftungsbegründende Kausalität zwischen den behaupteten Pflichtverletzungen der Beklagten bei den Abschlussprüfungen und dem behaupteten Schaden dürfte entgegen der Auffassung des Landgerichts wohl nicht zu verneinen sein:
I. Zwar hat das Landgericht die konkrete Kausalität eines – ausdrücklich unterstellt – fehlerhaften Bestätigungsvermerks der Beklagten im vorliegenden Fall zutreffend verneint.
I) Der BGH hat hierzu ausgeführt, dass die von ihm entwickelten Grundsätze über die Beeinflussung der Anlageentscheidung durch Prospektfehler unabhängig davon gelten, ob das Schadensersatzbegehren auf vertragliche oder deliktische Ansprüche gestützt wird. Denn es entspricht der Lebenserfahrung, dass ein Prospektfehler auch ohne Kenntnisnahme des Prospekts durch den Anleger für die Anlageentscheidung ursächlich wird, wenn der Prospekt entsprechend dem Vertriebskonzept der Fondsgesellschaft von den Anlagevermittlern als Arbeitsgrundlage verwendet wird. Dies gilt auch für die Haftung eines Wirtschaftsprüfers für unrichtige Bestätigungsvermerke, die in Prospekten Verwendung gefunden haben. Denn auch dann sind die im Prospekt abgedruckten Bestätigungsvermerke aufgrund der Verwendung des Prospekts entsprechend dem Vertriebskonzept durch Anlagevermittler auch Grundlage der Anlageentscheidung geworden (BGH vom 12.3.2020 – VII ZR 236/19, Rz. 39 ff.)
Die Annahme eines Anscheinsbeweises nach diesen Rechtsgrundsätzen würde somit voraussetzen, dass ein – unterstellt – unrichtiger Bestätigungsvermerk der Beklagten Grundlage der Anlageentscheidung der Klagepartei geworden ist – sei es durch eine darauf gestützte Anlageberatung oder -vermittlung, sei es durch eigene Nachforschungen.
I) Das hat das Landgericht hier zutreffend verneint. Es hat festgestellt, dass unstreitig kein Prospektmaterial existierte (Seite 8 EU), mithin die Klagepartei nicht prospektgestützt beraten wurde. Dass die Klagepartei den Bestätigungsvermerk der Beklagten vor der Anlageentscheidung zur Kenntnis genommen hat, wurde nach den landgerichtlichen Feststellungen nicht behauptet.
I. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann aber eine Kausalitätsvermutung wegen einer durch die – unterstellt – fehlerhaften Bestätigungsvermerke der Beklagten hervorgerufenen positiven Anlagestimmung wohl nicht verneint werden:
I) Nach der Rspr. des BGH wird ein Kausalzusammenhang zwischen einem Unternehmensbericht und dem Kaufentschluss der Anleger vermutet, wenn die Aktien nach Veröffentlichung eines Unternehmensberichts erworben worden sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Anleger den Bericht gelesen oder gekannt hat. Ausschlaggebend ist, dass der Bericht die Einschätzung eines Wertpapiers in Fachkreisen mitbestimmt und damit eine Anlagestimmung erzeugt. Diese Stimmung kann der Erwerber für sich in Anspruch nehmen. Sie endet, wenn im Laufe der Zeit andere Faktoren für die Einschätzung des Wertpapiers bestimmend werden, etwa eine wesentliche Änderung des Börsenindex, der Konjunktureinschätzung oder aber neuere Unternehmensdaten wie etwa ein Jahresabschluss. Die Dauer der von einem Unternehmensbericht ausgehenden Anlagestimmung lässt sich danach nicht allgemeingültig festlegen; in aller Regel wird die Anlagestimmung aber spätestens ein Jahr nach Veröffentlichung des Unternehmensberichts nicht mehr bestehen (BGH, Urteil vom 14.07.1998 – XI ZR 173/97). Soweit das Gericht hierzu keine eigene Sachkunde vorweisen kann, muss zu dieser Frage i.d.R. ein Sachverständigengutachten erholt werden (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 03.03.2008 – II ZR 310/06, Comroad VIII, Juris-Rz. 27).
I) Nach vorläufiger Einschätzung des Senats dürften die hier vorgelegten uneingeschränkten Bestätigungsvermerke der Beklagten – jedenfalls bei einem DAX-Unternehmen – wohl grundsätzlich geeignet gewesen sein, eine positive Anlagestimmung zu erzeugen.
Der BGH hat die Veröffentlichung neuerer Unternehmensdaten wie etwa eines Jahresabschlusses ausdrücklich für geeignet gehalten, um eine positive Anlagestimmung wieder zu beenden. Dann muss die Veröffentlichung eines solchen Jahresabschlusses mit positivem Testat im Umkehrschluss aber wohl auch geeignet sein, eine solche positive Anlagestimmung erst zu begründen oder fortzusetzen:
Nach § 325 HGB haben die Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs von Kapitalgesellschaften für die Gesellschaft u.a. folgende Unterlagen in deutscher Sprache offenzulegen: Den festgestellten oder gebilligten Jahresabschluss, den Lagebericht und den Bestätigungsvermerk oder den Vermerk über dessen Versagung. Anders als ein Prüfungsbericht, der ein unternehmensinternes Dokument ist, ist der Bestätigungsvermerk somit zur Veröffentlichung bestimmt. Der Bestätigungsvermerk ist mithin ein unternehmensexternes Informationsinstrument (BeckOGK-Bormann, 15.11.2020, HGB § 322 Rn. 7).
Daher kann die Wirkung der Bestätigungsvermerke der Beklagten wohl nicht isoliert betrachtet werden. Denn dort wird u.a. jeweils auch bestätigt, dass der beigefügte Jahresabschluss in allen wesentlichen Belangen nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens- und Finanzlage der Gesellschaft vermittelt, und dass der beigefügte Lagebericht insgesamt ein zutreffendes Bild von der Lage der Gesellschaft zeichnet.
Die entsprechenden Veröffentlichungen der W. AG als DAX-Unternehmen im Bundesanzeiger werden – dem erkennenden Senat als Kapitalanlagesenat gerichtsbekannt – von der Wirtschaftspresse und von professionellen Beratern und Analysten jeweils zeitnah ausgewertet und ggf. u.a. zum Gegenstand von Kauf-, Halte- oder Verkaufsempfehlungen gemacht.
Sie können somit nach Auffassung des Senats grundsätzlich unmittelbar kursrelevante Wirkung haben, indem sie einen positiven Lagebericht und einen positiven Jahresabschluss als zutreffend bestätigen. Somit kann wohl auch ein – wie hier – uneingeschränkter Bestätigungsvermerk eines Wirtschaftsprüfers die Einschätzung eines Wertpapiers in Fachkreisen zumindest mitbestimmen und damit eine Anlagestimmung erzeugen, die grundsätzlich bis zur Veröffentlichung des nächsten Jahresabschlusses mit Testat andauern dürfte, soweit nicht dazwischen andere Faktoren für die Einschätzung des Wertpapiers bestimmend werden.
I) Dass die Bestätigungsvermerke der Beklagten hier tatsächlich eine positive Anlagestimmung erzeugt haben, dürfte die Klagepartei aber wohl bisher nicht hinreichend vorgetragen haben. Für eine entsprechende Beurteilung durch den Senat erforderlich sein dürfte eine konkrete Darstellung des Kursverlaufes der W.-Aktie unter Berücksichtigung der Veröffentlichung der Bestätigungsvermerke sowie anderer Faktoren, die für die Einschätzung des Wertpapiers ebenfalls bestimmend gewesen sein könnten (vgl. insoweit OLG Stuttgart, Urteil vom 29.09.2009 – 12 U 147/05, Juris-Rz. 71), wie insbesondere die angesprochene negative Berichterstattung in Teilen der Wirtschaftspresse, z.B. durch Vorlage und Bewertung entsprechender Kurscharts.
I) Sollten sodann noch Zweifel bestehen, wäre zu dieser Frage wohl bereits vom Landgericht ein Sachverständigengutachten zu erholen gewesen (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 3. 3. 2008 – II ZR 310/06, Comroad VIII, Juris-Rz. 27).
I. Zudem kommt der Klagepartei nach vorläufiger Einschätzung des Senats wohl auch unabhängig von einer positiven Anlagestimmung ein entsprechender Erfahrungssatz aufgrund des gewöhnlichen Laufs der Dinge zugute:
I) Nach der Rspr. des BGH beruhen tatsächliche Vermutungen auf Erfahrungssätzen, die – je nach ihrer Aussagekraft und Stärke – einen für die Beweisführung bedeutsamen Anscheins- oder Indizienbeweis für die behauptete Tatsache begründen können. Eine tatsächliche Vermutung erfordert als Indizienbeweis für eine behauptete Tatsache die Gesamtwürdigung aller Umstände (BGH, Urteil vom 29. September 2021, Gz. VIII ZR 111/20, Rz. 32 ff., zu den Dieselverfahren).
I) Das Landgericht hat hier zum konkreten Kausalverlauf festgestellt, dass die Beklagte, nachdem die Erteilung des Testats bereits mehrfach verschoben worden sei, am 29.06.2020 für das Jahr 2019 das Testat für die W. AG versagt habe, diese im Juni 2020 mitteilte, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden und am 25.06.2020 Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellte, und das Amtsgericht München das Insolvenzverfahren am 25.08.2020 eröffnet habe.
I) Der hypothetische Kausalverlauf nach der sog. „Differenzhypothese“ wäre nach Auffassung des Senats wohl auch dann nicht grundlegend anders gewesen, wenn die Beklagte – ihre entsprechende Pflicht unterstellt – bereits in früheren Jahren entsprechende weitere Prüfungshandlungen vorgenommen und schließlich das Testat verweigert hätte. Die Verweigerung des Testats durch die Beklagte wäre wohl – wie auch im Jahr 2020 geschehen – von der W1. AG durch ad-hoc-Mitteilung bekannt zu machen gewesen (jetzt Art. 17 MMVO, früher § 15 WpHG, vgl. Fuchs/Pfüller, 2. Aufl. 2016, WpHG § 15 Rn. 175; Roye/Fischer, WpHG § 15 Rn. 5, beck-online).
I) Dies hätte nach Auffassung des Senats – dann aber sehr viel früher – wohl dieselben Folgen gehabt wie im Jahr 2020 geschehen. Aus Sicht des Senats spricht deshalb nach vorläufiger Bewertung alles dafür, dass dann auch der Insolvenzantrag entsprechend früher gestellt worden wäre.
I) Ausgehend von einem derartigen hypothetischen Kausalverlauf spräche aber wohl bei Gesamtwürdigung aller Umstände ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung und der Art des zu beurteilenden Geschäfts ergebender Erfahrungssatz dafür, dass die Klagepartei, wie von ihr behauptet, die streitgegenständlichen Aktienkäufe dann nicht getätigt hätte, § 286 ZPO. Denn es erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass ein durchschnittlicher Anleger Aktien erwirbt, wenn ein Insolvenzverfahren droht und im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, zu VW Diesel EA189).
Entsprechend hat der Senat in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend den W.-Komplex, in denen allerdings eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt, bereits wiederholt entschieden, dass jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür spricht, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften nicht gekauft hätten (vgl. OLG München, Urteil vom 11.11.2021 – 8 U 5670/21). Bei Investments mit rein spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung jedoch eingeschränkt oder aufgehoben sein (OLG München, Beschluss vom 16.11.2021 – 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702).
I) Soweit das OLG Stuttgart (Urteil vom 29.09.2009 – 12 U 147/05, Juris-Rz. 64) in einem ähnlichen Fall gemeint hat, § 826 BGB solle keinen allgemeinen Schutz des enttäuschten Anlegervertrauens gewährleisten, eine solche generelle Kausalität des Testatmangels sei unvertretbar, weil sie im Sinne einer Dauerkausalität auf unabsehbare Zeit auch jedem beliebigen späteren Aktienerwerber stets zu Gute kommen würde, überzeugt dies den Senat nicht.
Zwar muss die Differenzhypothese nach der Rspr. des BGH stets einer normativen Kontrolle unterzogen werden, weil sie eine wertneutrale Rechenoperation darstellt. Dabei ist einerseits das konkrete haftungsbegründende Ereignis als Haftungsgrundlage zu berücksichtigen. Andererseits ist die darauf beruhende Vermögensminderung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände sowie der Verkehrsauffassung in die Betrachtung einzubeziehen. Erforderlich ist also eine wertende Überprüfung des anhand der Differenzhypothese gewonnenen Ergebnisses gemessen am Schutzzweck der Haftung und an der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes. Im Fall einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung dient der Schadensersatzanspruch nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten. Vielmehr muss sich der Geschädigte auch von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer „ungewollten“ Verpflichtung wieder befreien können. Schon eine solche stellt unter den dargelegten Voraussetzungen einen gem. § 826 BGB zu ersetzenden Schaden dar. Insoweit bewirkt § 826 BGB einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rz. 45 ff., zu VW Diesel EA189).
Das gilt nach Auffassung des Senats in den Dieselfällen ebenso wie im vorliegenden Fall. Ob die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Verschweigen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch den Hersteller oder in einer – unterstellt – „gewissenlosen“ Abschlussprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer besteht, kann nach Auffassung des Senats keinen Unterschied machen. Hier wie dort geht es um den Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Bestätigungsvermerk ein unternehmensexternes Informationsinstrument. Bei dieser Sachlage ist für den Senat kein rechter Grund ersichtlich, warum die Beklagte für eine – unterstellt – vorsätzlich sittenwidrige Unrichtigkeit dieses Bestätigungsvermerks nicht allen späteren Aktienkäufern haften sollte, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu den Aktienkäufen bei pflichtgemäßem Handeln der Beklagten wegen Insolvenz der W. AG nicht gekommen wäre. Sie wird bereits durch die sehr hohe Haftungshürde der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung vor einer „uferlosen Inanspruchnahme“ geschützt und bedarf deshalb nach Auffassung des Senats nicht noch darüber hinausgehenden zusätzlichen Schutzes durch ergänzende Schutzzweckerwägungen.
I. Wollte man das anders sehen, hätte die Klagepartei aber wohl jedenfalls gem. § 139 ZPO frühzeitig darauf hingewiesen werden müssen, dass ggf. nur die Erstattung des sog. „Kursdifferenzschadens“ in Betracht kommen könnte, um ergänzenden Vortrag dazu zu ermöglichen.
Schon in der sog. „IKB-Entscheidung“ von 2012 hat der BGH für den notwendigen Kausalitätsnachweis differenziert und die Kausalität in Abhängigkeit von der konkreten Schadensberechnung bestimmt: Verlangt der Anleger Naturalrestitution durch Rückabwicklung der Anlageentscheidung, muss er die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und seiner Anlageentscheidung nachweisen (dazu s.o.). Verlangt er hingegen den Kursdifferenzschaden, lässt der BGH die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für die fehlerhafte Preisbildung genügen. Hierfür muss der Anleger lediglich darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass, wäre die Pflichtverletzung nicht erfolgt, der Kurs zum Zeitpunkt seines Kaufs niedriger gewesen wäre, als er tatsächlich war (BGH Urteil vom 13.12.2011 − XI ZR 51/10; vgl. EBJS/Poelzig, 4. Aufl. 2020, WpHG § 98 Rn. 34).
II. Somit kann wohl nicht offen bleiben, ob der Beklagten eine haftungsbegründende Pflichtverletzung anzulasten ist.
II. Ein Anspruch eines Anlegers jedenfalls aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gegen einen Wirtschaftsprüfer (zu anderen Anspruchsgrundlagen wird sich der Senat erforderlichenfalls später äußern) kommt in Betracht, wenn der Bestätigungsvermerk nicht nur unrichtig ist, sondern der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe nachlässig erledigt hat, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und er dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag gelegt hat, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (BGH, Urteil vom 12. März 2020 – VII ZR 236/19, im Anschluss an BGH, Urteil vom 19. November 2013 – VI ZR 336/12, NJW 2014, 383).
Die Frage, ob die Beklagte bei der Erteilung des Testats leichtfertig gehandelt und Dritte vorsätzlich geschädigt hat, kann aber nach der Rspr. des BGH nur dann sachgerecht beantwortet werden, wenn vorher geklärt wird, ob und in welchen Punkten der Abschluss objektive Fehler enthält (BGH, Urteil vom 26.1.1986 – IVa ZR 86/85, NJW 1987, 1758, zur Sorgfaltspflicht eines steuerlichen Beraters bei der Erteilung von Testaten). Das hat das Landgericht nicht hinreichend berücksichtigt, indem es lediglich geprüft hat, ob der Beklagten „Vorsatz“ zu Last fällt. Das stellt aber nach der Rspr. des BGH erst den ggf. zweiten Prüfungsschritt dar, nachdem zunächst Feststellungen zur Pflichtwidrigkeit erfolgt sind. Allenfalls könnten im ersten Schritt die behaupteten Pflichtwidrigkeiten als wahr unterstellt werden, und dann im zweiten Schritt gefragt werden, ob dies „gewissenlos“ wäre – auch das bedürfte aber wohl der sachverständigen Beratung des Gerichts.
II. KPMG-Bericht
Wie das Landgericht festgestellt hat, veröffentlichte die K. AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Auftrag der W. AG am 28.04.2020 einen Bericht zur Sonderprüfung, den die Klagepartei vorgelegt und schriftsätzlich ausgewertet hat. Danach geht es dort im Wesentlichen um drei Vorwürfe:
II) Der erste betrifft die fehlende Feststellbarkeit von Umsatzerlösen, die von sog. TPA-Partnern (T. P. Acquirer) auf bei ausländischen Banken geführten Treuhandkonten (E. Accounts) verbucht wurden.
II) Der zweite Vorwurf stützt sich auf einen möglicherweise bilanzrechtlich fehlerhaften Ausweis auf den Treuhandkonten.
II) Drittens sollen Bankbestätigungen und Kontoauszüge der die Treuhandkonten führenden Bank nicht an K. übermittelt worden sein und deshalb von K. nicht geprüft worden sein können.
Dazu hat die Beklagte, die selbst eine renommierte Wirtschaftsprüfergesellschaft ist, umfangreich Stellung genommen und jegliche Pflichtverletzung in Abrede gestellt.
Bei dieser Sachlage konnte das Landgericht wohl nicht ohne sachverständige Hilfe selbst beurteilen, ob eine Pflichtverletzung der Beklagten vorliegt, wie die Berufung zutreffend rügt. Denn der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17).
Die Lage ähnelt hier nach Auffassung des Senats der bei Vorliegen zweier widerstreitender Privatgutachten. Für diese Lage ist in der Rspr. des BGH anerkannt, dass bei Vorlage von zwei Privatgutachten kompetenter Sachverständiger, die einander in wesentlichen Punkten widersprechen, der Richter, der über keine eigene Sachkunde verfügt, grundsätzlich nicht ohne Erholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens dem einen Privatgutachten zu Lasten des anderen den Vorzug geben darf (Musielak/Voit/Huber, 18. Aufl. 2021, ZPO § 402 Rn. 6 mwN; BGH, Urteil vom 11.11.2014 – VI ZR 76/13, zur Arzthaftung).
Dass das Landgericht entsprechende eigene Sachkunde vorweisen könnte, hat es nicht dargelegt. Auch der Senat kann dies nicht für sich in Anspruch nehmen, sodass zu den in dem K.-Bericht enthaltenen Vorwürfen eine sachverständige Beurteilung erforderlich sein dürfte. Erst wenn sich daraus Pflichtverletzungen der Beklagten ergeben sollten, könnte in einem zweiten Schritt beurteilt werden, ob dies auch „gewissenlos“ im Sinne der Rspr. des BGH war, wobei hierfür wohl die üblichen Maßstäbe für Wirtschaftsprüfer zugrundezulegen sein dürften und dies deshalb wohl ebenfalls nicht ohne sachverständige Hilfe möglich sein dürfte.
II. Bericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses Die Klagepartei hat den vorläufigen Bericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags zum W.-Komplex vom 22.06.2021 (BT-Drs. 19/30900 mit über 2.000 Seiten) im Berufungsverfahren auszugsweise vorgelegt und schriftsätzlich hierzu ausgeführt, dass sich daraus weitere Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen der Beklagten ergeben würden, insbesondere, dass der Beklagten besonders schwerwiegende Versäumnisse bei der Prüfung des Drittpartnergeschäfts und der Treuhandkonten vorzuwerfen seien. Die mündliche Verhandlung in erster Instanz wurde bereits vor dem Erscheinen des Berichts geschlossen. Daher dürfte der Senat wohl dieses und auch die weiteren diesbezüglichen klägerischen Angriffsmittel im Berufungsverfahren, namentlich die Benennung u.a. des Zeugen W2., der einer der Ermittlungsbeauftragten des Ausschusses war und für dessen sog. „W.-Bericht“ der BGH einen Antrag auf Aufhebung der Einstufung von Beweismitteln als „Geheim“ nach Abschluss des Untersuchungsverfahrens für unzulässig gehalten hat (BGH Beschluss vom 6.8.2021 – 1 BGs 340/21, BeckRS 2021, 23260), der aber inzwischen wohl vom Handelsblatt veröffentlicht wurde (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.11.2021 S. 18, „Die Prüfer und der Maulwurf“), im Berufungsverfahren gem. § 531 II ZPO noch zuzulassen haben. Ob der Verwertung solcher Angriffsmittel verfahrensrechtliche Hindernisse entgegenstehen, wird zur gegebenen Zeit noch zu prüfen sein.
II. Soweit die Beklagte in ihrer Berufungserwiderung auf einen Hinweis-Beschluss gem. § 522 II ZPO des 17. Zivilsenats des OLG München vom 22.06.21, Gz. 17 U 2436/21, hinweist, ist anzumerken, dass Gegenstand dieses Beschlusses weder der KPMG-Bericht noch der Bericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses waren.
II. Ob und ggf. welche weiteren Beweisangebote das Landgericht entsprechend der Berufungsrügen noch übergangen haben könnte, kann derzeit dahinstehen.
III. Fortgang:
III. Der Senat erwägt daher, das Verfahren zur Durchführung der wohl erforderlichen sehr umfangreichen Beweisaufnahme an das Landgericht zurückzuverweisen, falls eine der Parteien einen Zurückverweisungsantrag stellt. Angesichts der gerichtsbekannt sehr zahlreichen dort noch anhängigen Parallelverfahren erscheint eine Beweisaufnahme vor dem Senat nicht zielführend.
III. Alternativ könnte das Landgericht angesichts der gerichtsbekannt sehr zahlreichen dort noch anhängigen Parallelverfahren wohl auch die Einleitung eines Verfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz erwägen, wenn dies mindestens 10 Kläger beantragen oder bereits beantragt haben. Der Antrag kann gem. § 2 Abs. 1 KapMuG nur “im ersten Rechtszug“ gestellt werden, also nur vor dem Landgericht. Auch wenn dies deshalb nicht seiner Beurteilung obliegt, möchte der Senat hierzu doch allgemein auf folgendes hinweisen:
III) Der Bestätigungsvermerk dürfte wohl eine öffentliche Kapitalmarktinformation darstellen. Denn er ist ein unternehmensexternes Informationsinstrument (BeckOGK-Bormann, 15.11.2020, HGB § 322 Rn. 7, s.o.).
Der Gesetzgeber hat im schadensrechtlichen Anwendungsbereich des KapMuG bewusst auf eine abschließende Legaldefinition des Begriffs „öffentliche Kapitalmarktinformation“ verzichtet, um die Schnelllebigkeit des Kapitalmarktes und neuen Informationsformen erfassen zu können. Die Aufzählungen in § 1 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 KapMuG sind daher nur Regelbeispiele (Gängel/Huth/Gansel, KapMuG, 4. Auflage 2013, § 1 Rn. 19).
Der Bestätigungsvermerk enthält in der wohl gebotenen Zusammenschau mit Lagebericht und Jahresabschluss (s.o.) fraglos auch Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und einen Emittenten von Wertpapieren betreffen. Jahresabschlüsse und Lageberichte werden in § 1 Abs. 2 Ziff. 5 KapMuG sogar ausdrücklich als Musterbeispiele für öffentliche Kapitalmarktinformationen genannt. Das muss dann wohl erst recht für einen Bestätigungsvermerk gelten, der diese Unterlagen als zutreffend bewertet (ebenso OLG Stuttgart, Beschluss vom 28.6.2021 – 12 AR 6/21).
III) Die Beklagte dürfte wohl auch Musterbeklagte sein können.
Auch Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 331 HGB und aus § 826 BGB sind KapMuGfähig. Der Anspruch mag sich dabei „insbesondere“ gegen Emittenten, Anbieter und sonstige Prospektverantwortliche richten (so Vorwerk/Wolf, KapMuG/Radtke-Rieger, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 21), weil von diesen in der Regel auch die entsprechenden Kapitalmarktinformationen stammen. Eine derartige Beschränkung ist aber dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG definiert sich weder nach der konkreten Anspruchsgrundlage noch nach der Person des Anspruchsgegners (so auch Vorwerk/Wolf, KapMuG/Radtke-Rieger, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 20), sodass Anspruchsgegner wohl jeder sein kann, gegen den ein – natürlich schlüssiger – Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird, also wohl auch die Beklagte.
III) Auf die „Unmittelbarkeit“ des Anspruchs kommt es nach der Neufassung des KapMuG nicht mehr an (vgl. BT-Drs. 17/8799 S. 14 und 16 Vorwerk/Wolf, KapMuG/Radtke-Rieger, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 14), außerdem dürfte es sich hier wohl sogar um einen „unmittelbaren“ Anspruch handeln (OLG Stuttgart, Beschluss vom 28.6.2021 – 12 AR 6/21).
III) Auch die Frage der Anlagestimmung wäre wohl KapMuGfähig, ggf. sogar abgestuft nach Zeiträumen (Vollkommer, NJW 2007, 3094 [3098]); Habersack-Mülbert-Schlitt KapMarktInfo-HdB, § 32 Rn. 111, beck-online; vgl. auch z.B. OLG Frankfurt a.M, Beschluss vom 30.11.2016 – 23 Kap 1/06, Juris-Rz. 38 ff. zum Musterentscheid i.S. Telekom; vom BGH nur wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit für gegenstandslos erklärt, BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 – XI ZB 24/16 -, Juris-Rz. 88). Dasselbe dürfte wohl für die Frage gelten, ob für die Kausalität ein allgemeiner Erfahrungssatz existiert; nur die konkrete Kausalität dürfte wohl ggf. individuell zu beurteilen sein.
III) Ein entsprechender Musterverfahrensantrag dürfte wohl auch nicht gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG unzulässig sein, weil die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhinge. Denn die haftungsbegründende Kausalität könnte wohl selbst Feststellungsziel eines Musterverfahrens sein, s.o. Darüber hat allerdings allein das Prozessgericht zu befinden (BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2021 – XI ZB 31/19, Rz. 42).
Daher kann hier wohl sogar dahinstehen, ob der Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfordere, nach der eine Aussetzung nur dann in Betracht kommt, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen werde und dies auch dann gelte, wenn hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen sei, zu folgen wäre, oder ob nicht entsprechend des ausdrücklich erklärten Willens des Gesetzgebers die Abhängigkeit grundsätzlich abstrakt zu beurteilen ist und dem Prozessgericht hierbei ein Beurteilungsspielraum zukommt (BT-Drs. 17/8799 S. 20, vgl. dazu Lechner, WuB 2019, 591).
IV. Gelegenheit zur Stellungnahme besteht für beide Parteien bis zum 28.02.2022.
Die Parteivertreter werden gebeten, bis dahin auch den Sachstand etwaiger KapMuG-Anträge in Parallelverfahren mitzuteilen, soweit Ihnen bekannt.


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