Aktenzeichen XI ZB 17/13
§ 261 Abs 3 Nr 1 ZPO
Leitsatz
Ist eine Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit abweisungsreif, ist eine Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG unzulässig.
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 16. September 2013, Az: 17 W 1708/13vorgehend LG München I, 3. Juli 2013, Az: 22 O 23900/12
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1) wird der Beschluss des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. September 2013 aufgehoben.
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten zu 1) wird der Beschluss des Landgerichts München I vom 3. Juli 2013 aufgehoben, soweit der Rechtsstreit im Streitverhältnis des Klägers zur Beklagten zu 1) gemäß § 8 KapMuG ausgesetzt worden ist.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf bis zu 35.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1) auf Ersatz des Schadens in Anspruch, der ihm infolge einer Beteiligung an der H. GmbH & Co. Beteiligungs KG entstanden ist. Die Beklagte zu 1) hat die Kapitalanlage sowohl vertrieben als auch die Finanzierung der Anleger übernommen. Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger eine Unrichtigkeit des Beteiligungsprospektes behauptet und geltend gemacht, die Beklagte zu 1) hafte ihm aus Prospekthaftung im weiteren Sinne wegen des Vertriebs der Anlage und Verschuldens bei Vertragsverhandlungen im Zusammenhang mit der Finanzierung seiner Beteiligung.
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Bereits zeitlich zuvor hatte der Kläger eine Schadensersatzklage beim Landgericht Lübeck erhoben. Dort hat er die Beklagte zu 1) ebenfalls wegen seiner Beteiligung an der H. GmbH & Co. Beteiligungs KG in Anspruch genommen und eine fehlerhafte Anlageberatung wegen Verwendung eines unrichtigen Prospektes behauptet. Die Beschwerdeführerin hat deshalb im vorliegenden Verfahren den Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit erhoben.
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Mit Beschluss vom 3. Juli 2013 hat das Landgericht München I das Verfahren gemäß § 8 KapMuG ausgesetzt. Hiergegen hatte sich die Beklagte zu 1) mit der sofortigen Beschwerde gewandt und ausgeführt, eine Aussetzung nach § 8 KapMuG sei unzulässig, da der Rechtsstreit aufgrund anderweitiger Rechtshängigkeit abweisungsreif sei.
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Das Beschwerdegericht hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Beklagte zu 1) mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
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Die statthafte Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Beschlusses des Beschwerdegerichts und zur teilweisen Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts. Dem Verfahren ist im Streitverhältnis des Klägers gegenüber der Beklagten zu 1) Fortgang zu geben.
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1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
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Die Klage im Lübecker Verfahren stütze sich auf Beratungspflichtverletzungen, während die Klage im hiesigen Verfahren Ansprüche wegen behaupteter Prospektfehler zum Gegenstand habe. Hierbei handele es sich um unterschiedliche Streitgegenstände. Eine anderweitige Rechtshängigkeit sei daher nicht gegeben. Nach der herrschenden prozessrechtlichen Auffassung vom Streitgegenstand im Zivilprozess werde mit der Klage nicht ein bestimmter materiell-rechtlicher Anspruch geltend gemacht, vielmehr sei Gegenstand des Rechtsstreits der als Rechtsschutzbegehren oder Rechtsfolgenbehauptung aufgefasste eigenständige prozessuale Anspruch. Dieser werde bestimmt durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiere, und den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleite.
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Die beim Landgericht Lübeck erhobene Klage des Klägers stütze sich auf Pflichtverletzungen im Rahmen eines Beratungsgespräches am 16. Dezember 1998 zwischen dem Kläger und einem namentlich benannten Mitarbeiter der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1) in der Filiale A. . Demgegenüber werde im vorliegenden Verfahren die Beteiligung des Klägers dargestellt, ohne dass auf den konkreten Inhalt einer Beratung eingegangen oder der betreffende Berater oder Ort der Beratung auch nur erwähnt werde. Damit erweise sich die Annahme des Landgerichts als zutreffend, dass die beiden Verfahren unterschiedliche Lebenssachverhalte beträfen. Wenn schon einzelne Pflichtverletzungen verfahrensrechtlich selbständig zu behandeln seien (so zur Verjährung BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 – III ZR 203/09, WM 2010, 1690 Rn. 13), so müsse dies auch bei der Betrachtung des jeweils einer Klage zugrundeliegenden Lebenssachverhalts gelten.
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2. Die Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hat zu Unrecht die sofortige Beschwerde der Beklagten zu 1) zurückgewiesen. Die Streitgegenstände der beiden Verfahren sind identisch. Die Klage im hiesigen Verfahren ist daher wegen anderweitiger Rechtshängigkeit abweisungsreif. Eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in der seit dem 1. November 2012 geltenden Fassung (nachfolgend: nF) ist daher ausgeschlossen.
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a) Allerdings ist durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG nF der Anwendungsbereich des KapMuG auf Schadensersatzansprüche wegen Verwendung einer falschen oder irreführenden öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen unterlassener Aufklärung darüber, dass eine öffentliche Kapitalmarktinformation falsch oder irreführend ist, erweitert worden. Daher können nunmehr auch Klagen wegen Prospekthaftung im weiteren Sinne und Verschuldens bei Vertragsverhandlung bzw. Beratungspflichtverletzungen – wie hier – Gegenstand eines Musterverfahrens sein, wenn sie auf die Verwendung eines fehlerhaften Prospektes gestützt werden.
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b) Ist die Entscheidung des Rechtsstreits aber nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängig, muss ein Musterverfahrensantrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG nF als unzulässig verworfen werden. Ein Rechtsstreit, in dem der Musterverfahrensantrag als unzulässig verworfen werden müsste, kann nicht durch Aussetzung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nF musterverfahrensfähig werden, denn sowohl § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG nF als auch § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nF verlangen wortgleich, dass die Entscheidung des betroffenen Rechtsstreits von den Feststellungszielen abhängt (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2014 – XI ZB 40/11, WM 2014, 992 Rn. 23). So liegt der Fall hier.
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aa) Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 KapMuG in der bis zum 1. November 2012 geltenden Fassung (nachfolgend: aF) war ein Musterverfahrensantrag unzulässig, wenn der Rechtsstreit zur Entscheidung reif war. Entscheidungsreife i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 KapMuG aF bestand dann, wenn – vom Rechtsstandpunkt des erstinstanzlichen Gerichts aus – der Tatsachenstoff des Klageverfahrens hinreichend geklärt war und die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von einer Rechtsfrage abhing, die als Feststellungsziel genannt war (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2008 – XI ZB 26/07, BGHZ 177, 88 Rn. 19).
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bb) Daran hat sich durch § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG nF grundsätzlich nichts geändert. Jedenfalls dann, wenn ein Rechtsstreit ohne Rückgriff auf die Feststellungsziele eines Musterverfahrens entscheidungsreif ist, hängt seine Entscheidung unzweifelhaft nicht vom Ausgang des Musterverfahrens ab.In einem solchen Fall ist auch eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nF unzulässig, denn sowohl § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG nF als auch § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nF verlangen wortgleich, dass die Entscheidung des betroffenen Rechtsstreits von den Feststellungszielen abhängt.
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(1) Soweit die Gesetzesbegründung zu § 8 KapMuG nF abweichend von der Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsbeschluss vom 11. September 2012 – XI ZB 32/11, WM 2012, 2146 Rn. 13) die Abhängigkeit grundsätzlich abstrakt beurteilen und dem Prozessgericht im Hinblick auf die Aussetzung einen Beurteilungsspielraum einräumen will (vgl. BT-Drucks. 17/8799 S. 20), so bestehen dagegen im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiven Rechtsschutzes Bedenken (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2014 – XI ZB 40/11, WM 2014, 992 Rn. 24; Wolf/Lange, NJW 2012, 3751, 3753). Diesen Bedenken und der Frage einer möglichen revisionsrechtlichen Überprüfung des angesprochenen Beurteilungsspielraums muss hier nicht generell nachgegangen werden, da jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art eine Aussetzung auch nach dem Willen des Gesetzgebers klar ausscheidet. So nimmt die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ausdrücklich Bezug auf den Senatsbeschluss vom 16. Juni 2009 (XI ZB 33/08, WM 2009, 1359 = NJW 2009, 2539) und begründet die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde nach § 252 ZPO gegen eine Aussetzungsentscheidung mit den tragenden Erwägungen der Senatsrechtsprechung (vgl. BT-Drucks. 17/8799 S. 21). Wenn das Gericht nach dem Willen des Entwurfsverfassers sogar eine begonnene Beweisaufnahme zu Ende führen soll, um die Entscheidungsreife des Rechtsstreits erst herbeizuführen, so ist erst Recht bei unzweifelhaft gegebener Entscheidungsreife die Aussetzung unzulässig. So liegt der Fall hier.
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(2) Ist zwischen den Parteien bereits eine Klage über denselben Streitgegenstand anhängig, so ist eine erneute Klage unzulässig (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) und ohne weitere Sachprüfung abzuweisen.
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(a) Der Streitgegenstand wird durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund), aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet, bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Zum Anspruchsgrund sind alle Tatsachen zu rechnen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden und den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtung zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht vorträgt (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 22. Oktober 2013 – XI ZR 42/12, BGHZ 198, 294 Rn. 15 mwN). Vom Streitgegenstand werden damit alle materiell-rechtlichen Ansprüche erfasst, die sich im Rahmen des gestellten Antrags aus dem zur Entscheidung unterbreiteten Lebenssachverhalt herleiten lassen. Das gilt unabhängig davon, ob die einzelnen Tatsachen des Lebenssachverhalts von den Parteien vorgetragen worden sind oder nicht, und auch unabhängig davon, ob die Parteien die im Vorprozess nicht vorgetragenen Tatsachen des Lebensvorgangs damals bereits kannten und hätten vortragen können (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 22. Oktober 2013 aaO).
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(b) Nach diesen Maßstäben liegt den beiden Klagen ein einheitlicher Streitgegenstand zugrunde.
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In beiden Verfahren sind der vorgetragene Lebenssachverhalt sowie auch die Klageanträge identisch. In beiden Verfahren trägt der Kläger vor, dass er von der Beschwerdeführerin beraten wurde, genau angegebene Unrichtigkeiten im Prospekt vorhanden waren, er über diese in dem Gespräch nicht aufgeklärt worden sei, er sich auf der Grundlage des Beratungsgesprächs und der Angaben im Prospekt zur Zeichnung der Beteiligung entschlossen habe, jedoch bei ordnungsgemäßer Aufklärung hiervon Abstand genommen hätte.
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Insbesondere hat der Kläger im Lübecker Verfahren seine Klage nicht nur auf eine angebliche fehlerhafte Beratung, sondern auch auf eine Unrichtigkeit des Prospektes gestützt. So trägt er mit der Klageschrift ausführlich zu angeblichen Prospektfehlern vor und macht geltend, dass er von der Beschwerdeführerin hierüber nicht aufgeklärt worden sei. Der Streitgegenstand ist damit in beiden Verfahren identisch.
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c) Eine Kostenentscheidung ergeht nicht. Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens bilden einen Teil der Kosten des Rechtsstreits, die unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens die nach § 91 ff. ZPO in der Sache unterliegende Partei zu tragen hat (vgl. Senatsbeschluss vom 30. November 2010 – XI ZB 23/10, WM 2011, 110 Rn. 18 mwN).
Ellenberger Maihold Matthias
Derstadt Dauber