Baurecht

Abstandsflächentiefe, Einhaltung der Abstandsflächen, Beiladung, Baulinienplan, Verwaltungsgerichte, Nachbarschützende Festsetzung, Allgemeines Wohngebiet, Streitwertfestsetzung, Baugrenzen, Antragsgegner, Bauvorhaben, Rechtsschutzbedürfnis, Baugrundstück, Nachbarschutz, Drittschützende Festsetzung, Überbaubare Grundstücksfläche, Benachbarte Grundstücke, Grundstücksgrenze, Einfacher Bebauungsplan, Prozeßbevollmächtigter

Aktenzeichen  B 2 Sa 20.642

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42285
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 5
BayBO Art. 6 Abs. 6

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 18.03.2020 für den Teilabbruch und Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses auf den Grundstücken Fl.-Nrn. aaa und bbb, Gemarkung …, … in … Der Antragsteller ist Alleineigentümer der Grundstücke Fl.-Nrn. ccc, ccc/2 und ddd, Gemarkung …, welche direkt an die Baugrundstücke Fl.-Nrn. aaa und bbb, Gemarkung …, angrenzen. Das Baugrundstück und die Grundstücke des Antragstellers liegen im Geltungsbereich eines übergeleiteten Baulinienplans aus dem Jahr 1897, welcher lediglich Baugrenzen festsetzt.
Mit Bescheid vom 18.03.2020 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die streitgegenständliche Baugenehmigung. In der Baugenehmigung wurde eine Befreiung von den Festsetzungen des Baulinienplanes für eine Baugrenzenüberschreitung nach Norden erteilt.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16.04.2020, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 17.04.2020, ließ der Antragsteller Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18.03.2020 mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheides erheben.
Mit weiterem Schriftsatz vom 23.07.2020, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht am selben Tag, ließ der Antragsteller beantragen,
1. die Vollziehung der von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18.03.2020 der Beigeladenen erteilten bauaufsichtlichen Genehmigung betreffend den Teilabbruch und Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses auf den Grundstücken Fl.-Nr. aaa und bbb, Gemarkung …, … in …, auszusetzen,
hilfsweise:
2. die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die von der Antragsgegnerin der Beigeladenen erteilte bauaufsichtliche Genehmigung vom 18.03.2020 anzuordnen.
Zur Begründung des Antrags lässt der Antragsteller mit Schriftsätzen vom 16.04.2020 und 22.07.2020 vortragen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegeben seien. Es sei unstreitig, dass das Bauvorhaben auf dem Baugrundstück nach Norden hin nicht die in dem vorbezeichneten Baulinienplan festgesetzten Baugrenzen einhalte. Der Antragsteller werde dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, weil die Baugrenzen auch zu seinem Schutz in dem alten Baulinienplan festgesetzt worden seien und deshalb die Befreiung von dieser nachbarschützenden Festsetzung die Belange des Antragstellers berühre. Die Antragsgegnerin habe im streitgegenständlichen Bescheid eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB gewährt mit der Begründung, dass durch die Baugrenzenüberschreitung nach Norden die Grundzüge der Planung nicht berührt würden und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Die Baugrenzenüberschreitung nach Norden resultiere aus einer Umplanung, welche (nur) erforderlich sei, um die erhaltenswerte Linde zu erhalten. Dies sei jedoch nicht der alleinige Grund für die Umplanung. Durch die Reduzierung des Baukörpers im westlichen Bereich sei eine Erweiterung nach Norden notwendig, um hier noch wirtschaftliche Grundrisszuschnitte zu erzielen. Vorliegend erforderten somit nicht Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung, sondern ausschließlich wirtschaftliche Interessen der Beigeladenen. Die Abweichung sei auch städtebaulich nicht vertretbar. Dabei sei zu berücksichtigen, dass aus städtebaulichen Gründen gemäß dem vorbezeichneten Baulinienplan der nördliche Teil des Grundstücks Fl.-Nr. bbb, Gemarkung …, nicht bebaut werden sollte, damit der Kreuzungsbereich zwischen der Straße … und …Straße, welche sich wie ein Platz darstelle, offenbleibe. Außerdem stehe die Planung im Widerspruch zu den nachbarlichen Interessen des Eigentümers des Grundstücks Fl.-Nr. eee, Gemarkung …, … Auf diesem Grundstück befinde sich eine lärmintensive Gaststätte (Shishabar) direkt an der Grenze zum Baugrundstück. Das Bauvorhaben sei Belästigungen und Störungen von der benachbarten Gaststätte (Shishabar) auf dem Anwesen … in … ausgesetzt. Wegen der bestandsgeschützten Gaststätte auf dem benachbarten Grundstück Fl.-Nr. eee, Gemarkung …, von welcher erheblicher Lärm ausgehe, sei die Abweichung städtebaulich nicht vertretbar unter Würdigung der nachbarlichen Interessen, insbesondere der Interessen des Eigentümers des Grundstücks Fl.-Nr. eee, Gemarkung … Nachdem sich das Grundstück des Antragstellers in dem Geltungsbereich des Baulinienplanes befinde, bestehe ein Gebietserhaltungsanspruch des Antragstellers dahingehend, dass die Baugrenzen im Baugebiet gemäß Baulinienplan vom 27.10.1897 eingehalten würden.
Darüber hinaus sei das streitgegenständliche Bauvorhaben auch bauordnungsrechtlich unzulässig, weil dieses gegen die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 Abs. 5 und Abs. 6 BayBO verstoße. Den Gründen des Baugenehmigungsbescheides vom 18.03.2020 sei zu entnehmen, dass die Abstandsflächen eingehalten würden. Der beabsichtige Neubau des Wohn- und Geschäftshauses auf dem Anwesen … in … solle in östlicher Richtung an ein vorhandenes, bereits bestehendes Gebäude direkt angebaut werden. Sowohl nach Norden (richtig: Osten) als auch nach Süden, insbesondere zum Grundstück des Antragstellers, Fl.-Nr. ccc, Gemarkung …, werde von der Beigeladenen das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO in Anspruch genommen. Dies, obwohl das beabsichtigte Wohn- und Geschäftshaus auf dem Anwesen … in … mit einer Außenwand (an der Ostseite) an eine Grundstücksgrenze gebaut werde. Dies habe nach Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO zur Folge, dass das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO nur für eine Außenwand gelte und nicht für zwei. Somit verstoße das streitgegenständliche Bauvorhaben gegen die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 Abs. 5 und Abs. 6 BayBO. Der Antragsteller als Eigentümer des benachbarten Grundstückes Fl.-Nr. ccc könne sich auf diesen Verstoß berufen.
Mit Schriftsatz vom 06.08.2020 beantragt die Antragsgegnerin,
die Anträge abzuweisen.
Die Anträge seien unzulässig. Es fehle bereits das Rechtsschutzbedürfnis, da die Entscheidung nicht dringlich sei. Dem Antragsteller drohe kein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden. Dies gelte insbesondere deshalb, da nach Art. 68 Abs. 7 BayBO noch keine Baubeginnsanzeige vorgelegt worden sei. Der Baubeginn sei derzeit offensichtlich noch gar nicht geplant.
Das Baugrundstück liege im Geltungsbereich eines übergeleiteten Baulinienplanes aus dem Jahr 1897, welcher lediglich Baugrenzen festsetze. Es handle sich somit um einen einfachen Bebauungsplan nach § 30 Abs. 3 BauGB. Aufgrund dessen seien aus planungsrechtlicher Sicht insbesondere die Art und das Maß der baulichen Nutzung nach § 34 BauGB zu prüfen. Aufgrund der umliegenden Nutzung sei das Gebiet als faktisches allgemeines Wohngebiet nach § 4 BauNVO einzustufen. Das Gebiet werde durch eine überwiegende Wohnnutzung geprägt, die vorhandenen gewerblichen Nutzungen seien auch in einem allgemeinen Wohngebiet, zumindest ausnahmsweise, zulässig. Gegen das Vorhaben bestünden keine planungsrechtlichen und städtebaulichen Bedenken. Das Vorhaben füge sich als Wohn- und Geschäftshaus nach Art und Maß in die städtebauliche Umgebung ein. Die Befreiung von der nördlichen Baugrenze habe erteilt werden können, da die gesetzlichen Voraussetzungen hier vorlägen. Aus den alten Unterlagen zum Baulinienplan könne heute nicht mehr erkannt werden, aus welchen Gründen die Fläche im vorhandenen Kreuzungsbereich eine platzähnliche Gestaltung erhalten sollte. Anhand der Unterlagen könne jedoch festgestellt werden, dass zumindest im Nordwesten eine etwas andere Straßenführung geplant gewesen sei. Letztlich sei dies für die gegenständliche Entscheidung ohne Belang, da die damaligen Planungsziele heute in dieser Form sicher nicht mehr umsetzbar seien. Die Befreiung sei erteilt worden, um einen städtebaulich erhaltenswerten, ortsbildprägenden Baum zu erhalten und gleichzeitig den Interessen des Bauherrn nach einer angemessenen Nutzung des Grundstücks nachzukommen. Selbst eine Einhaltung der alten Baulinie würde hinsichtlich einer etwaigen negativen Beeinflussung des Grundstücks des Antragstellers keinen Unterschied machen, da hiervon lediglich die Ansichten von Norden und Westen aus – und damit dem Antragsteller abgewandt – betroffen wären.
Vollständigkeitshalber sei anzumerken, dass die vom Antragsteller angeführte Shishabar bereits längst nicht mehr existiere.
Die Abstandsflächen nach Norden und nach Westen würden eingehalten. Im Bereich des Baugrundstücks sei eine halbgeschlossene Bebauung mit Baukörpern, die ein- oder zweiseitig auf der Grenze stünden, als vorherrschend anzusehen. Dies könne somit als planungsrechtliche Vorgabe eingestuft werden, was in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO (eine Abstandsfläche ist nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an der Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden kann) dazu führe, dass an der Ostseite im Bereich der Grenzbebauung keine Abstandsflächen anfielen. Diesem Grundsatz folgend wäre sogar eine Bebauung der Ostgrenze nach Norden über die bestehende Gebäudekontur hinaus möglich gewesen. Hinzu komme, dass gemäß Art. 6 Abs. 6 BayBO auf zwei Wandseiten eine Halbierung der erforderlichen Abstandsflächen stattfinden dürfe. Dabei sei nicht auf die tatsächliche Länge, sondern auf die abstandsflächenrelevante Länge abzustellen. Der Bereich, in dem sich das Gebäudeteil an der Ostgrenze mit dem grenzständigen Gebäudeteil auf Fl.-Nr. eee überlagere, sei hier nicht als abstandsflächenrelevant anzusehen und falle somit aus der Betrachtung für die abstandsflächenrelevante Länge heraus. Demnach könne hier das 16 m-Privileg für den restlichen Vorsprung nach Norden an der Ostgrenze auf einer Länge von 2,60 Meter in Anspruch genommen werden. Die zweite Anwendung des 16 m-Privilegs finde auf der Südseite statt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorgelegten Behördenakte sowie den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
II.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Es fehlt insbesondere nicht deshalb – wie die Antragsgegnerin meint -, weil die Entscheidung nicht dringlich sei, da nach Art. 68 Abs. 7 BayBO noch keine Baubeginnsanzeige vorgelegt worden sei und der Baubeginn derzeit offensichtlich noch gar nicht geplant sei.
2. Der Antrag hat in der Sache aber keinen Erfolg.
Nach § 212a Abs. 1 des Baugesetzbuches – BauGB – hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Dem Dritten steht aber die Möglichkeit offen, sich nach § 80a Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – an das Gericht zu wenden und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage zu beantragen. Bei der zur Entscheidung über diesen Antrag vorzunehmenden Interessenabwägung hat das Gericht insbesondere die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Eine Baunachbarklage kann ohne Rücksicht auf die etwaige objektive Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung nur dann Erfolg haben, wenn die erteilte Genehmigung gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die gerade auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten kann darüber hinaus wirksam geltend gemacht werden, wenn durch das Vorhaben das objektiv rechtliche Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, dem drittschützende Wirkung zukommen kann.
Nach der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dürfte das mit streitgegenständlichem Bescheid genehmigte Bauvorhaben der Beigeladenen gegen keine zu Gunsten des Antragstellers drittschützende Vorschrift verstoßen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Das Bauvorhaben verstößt nicht gegen die gemäß Art. 59 S. 1 Nr. 1 b) BayBO im hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Abstandsflächenvorschrift des Art. 6 BayBO. Das Bauvorhaben hält nach summarischer Prüfung die erforderlichen Abstandsflächen ein.
Die Beigeladene und die Antragsgegnerin sind zu Recht davon ausgegangen, dass hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen das Privileg aus Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO (sogenanntes 16 m-Privileg) sowohl nach Süden als auch an der Ostseite beansprucht werden kann und dass deshalb die Einhaltung der Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 BayBO erforderlichen Tiefe der Abstandsflächen genügt; die Einhaltung von 1/2 H ist gemäß dem genehmigten Plan über Abstandsflächen (Bl. 90 der Bauakte) nachgewiesen.
Gemäß Art. 6 Abs. 6 BayBO genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 Meter Länge als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 Meter (Satz 1 Halbsatz 1). Wird ein Gebäude mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut, gilt Satz 1 nur noch für eine Außenwand; wird ein Gebäude mit zwei Außenwänden an Grundstücksgrenzen gebaut, so ist Satz 1 nicht anzuwenden; Grundstücksgrenzen zu öffentlichen Verkehrsflächen, öffentlichen Grünflächen und öffentlichen Wasserflächen bleiben dabei unberücksichtigt (Satz 2). Aneinandergebaute Gebäude sind wie ein Gebäude zu behandeln (Satz 3).
Grundsätzlich kann eine Verkürzung einer Abstandsflächentiefe nur den Nachbarn in seinen Rechten verletzen, dessen Grundstück der betreffenden Außenwand gegenüberliegt (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 17.4.2000 – GS 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/95 f.; BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – BayVBl 2016, 414). Für das sog. 16 m-Privileg ist jedoch entschieden, dass sich der Nachbar auch darauf berufen kann, dass durch eine Verkürzung der Abstandsflächentiefen an den abgewandten Gebäudeseiten zugleich die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO entfallen (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 14.7.2000 – GS 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/96).
Ein Fall aneinandergebauter Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO setzt voraus, dass diese im Wesentlichen profilgleich, beispielsweise Doppelhaushälften oder Reihenmittelhäuser, an der Grundstücksgrenze, aneinandergebaut werden (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 21.5.1990 – GS 2/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43,88/93; Schwarzer/König, BayBO, 4. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 92). Im vorliegenden Fall werden das Bauvorhaben der Beigeladenen, das eine Gesamtlänge von 10,57 m hat, und das Bestandsgebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. eee nur auf einer Länge von ca. 9 m aneinandergebaut. Dabei wird das Bauvorhaben der Beigeladenen nach Norden hin versetzt und in diesem Bereich auch auf einer Länge von 2,67 m von der Grundstücksgrenze 3 m abgerückt und zurückversetzt ausgeführt. Dabei ist es nicht so, dass die beiden grenzständigen Gebäude wie die einzelnen Häuser eines Doppelhauses an der gemeinsamen Grenze qualitativ und quantitativ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise so aneinandergebaut und auch im Übrigen so aufeinander abgestimmt sind, dass das von ihnen gebildete Gesamtgebäude als bauliche Einheit erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Nachdem jedoch das Bauvorhaben der Beigeladenen nach dem genehmigten Lageplan über Abstandsflächen (Bl. 90 der Bauakte) nach Norden und nach Westen hin jeweils die volle Abstandsflächentiefe von 1 H gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO einhält, kann es nach Osten und nach Süden das sog. 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO in Anspruch nehmen.
Das Gebäude des Beigeladenen ist zwar mit seiner östlichen Fassade teilweise auf die Grenze gebaut, doch führt dies nicht gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 BayBO zur Unanwendbarkeit des 16 m-Privilegs, denn vorliegend wird das Gebäude der Beigeladenen nicht im Sinne von Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut. Denn Voraussetzung hierfür wäre eine oberirdische, ein Gebäude nach außen gegenüber dem Freien abschließende Wand (vgl. Dohm in Simon/Busse, BayBO, Stand August 2019, Art. 6 Rn. 8). Hier wird jedoch das Gebäude der Beigeladenen nicht mit einer freistehenden Wand an der Grundstücksgrenze zum Nachbargrundstück nach Osten errichtet, sondern auf einer Länge von ca. 9 m an das Gebäude auf dem Grundstück Fl.-Nr. eee angebaut (vgl. BayVGH, B. v. 18.11.2019 – 2 CS 19.1891).
Damit kann die Beigeladene das sog. 16 m-Privileg – wie geschehen – vor zwei Außenwänden (nach Süden und nach Osten) in Anspruch nehmen. Zum Grundstück des Antragstellers hin besitzt die abstandsflächenrelevante Außenwand eine Länge von 11,68 m, während sie zum Grundstück Fl.Nr. eee hin eine solche von 2,57 m aufweist.
Es kann deshalb dahinstehen, ob die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO vorgesehene Ausnahmeregelung, nach der eine Abstandsfläche vor Außenwänden, die an den Grundstücksgrenzen errichtet werden, nicht erforderlich ist, wenn das Gebäude nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf, im vorliegenden Fall anwendbar ist. Der vorliegende Lageplan lässt ein gewachsenes System erkennen, nach dem in der Umgebung des streitgegenständlichen Bauvorhabens eine durchgängige halbgeschlossene Bauweise und damit eine gewisse städtebaulich relevante Regelmäßigkeit erkennbar sind. Im Bereich des alten Baulinienplans, der hier einschlägig ist, ist eine halbgeschlossene Bebauung mit Baukörpern, die ein- oder zweiseitig auf der Grenze stehen, als vorherrschend anzusehen. Dies kann somit als planungsrechtliche Vorgabe eingestuft werden und führt dazu, dass an der Ostseite im Bereich der Grenzbebauung keine Abstandsflächen anfallen.
b) Der Gebietserhaltungsanspruch ist nicht verletzt. Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich eines übergeleiteten Baulinienplanes aus dem Jahr 1897, welcher lediglich Baugrenzen festsetzt. Es handelt sich um einen einfachen Bebauungsplan nach § 30 Abs. 3 BauGB. Aufgrund dessen sind aus planungsrechtlicher Sicht insbesondere die Art und das Maß der baulichen Nutzung nach § 34 BauGB zu prüfen. Aufgrund der umliegenden Nutzung ist das Gebiet als faktisches allgemeines Wohngebiet nach § 4 BauNVO einzustufen. Das Gebiet wird durch eine überwiegende Wohnnutzung geprägt, die vorhandenen gewerblichen Nutzungen sind auch in einem allgemeinen Wohngebiet, zumindest ausnahmsweise, zulässig. Gegen das Vorhaben bestehen keine planungsrechtlichen und städtebaulichen Bedenken. Das Vorhaben fügt sich als Wohn- und Geschäftshaus nach Art und Maß in die städtebauliche Umgebung ein.
c) Der Antragsteller wird auch durch die erteilte Befreiung von der Baugrenzenfestsetzung des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB nicht in seinen Rechten verletzt. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Hinsichtlich des Nachbarschutzes im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder von nicht drittschützenden Festsetzungen. Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, kann der Nachbar beanspruchen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind und die Abweichung unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
aa) Vorliegend überschreitet das Bauvorhaben im Norden die Baugrenze.
bb) Die Baugrenzenfestsetzung ist, sofern sie überhaupt noch Wirkung entfaltet, nicht nachbarschützend. Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche vermitteln Drittschutz nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen (BayVGH‚ B.v. 30.6.2009 – 1 ZB 07.3058 – juris Rn. 29 m.w.N.). Ein nachbarlicher Interessenausgleich und damit der Schutz von Nachbarn sind hier nur ausnahmsweise bezweckt. Eine solche ausnahmsweise drittschützende Zielrichtung muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan‚ seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben (BayVGH‚ B.v. 30.6.2009 a.a.O.). Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes nicht aus (vgl. VGH BW‚ B.v. 11.1.1995 – 3 S 3096/94 – BauR 1995‚ 512). Dem einschlägigen Baulinienplan lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Antragsgegnerin der Baugrenzenfestsetzung ausnahmsweise nachbarschützende Bedeutung beimessen wollte. Aus den alten Unterlagen zum Baulinienplan kann heute nicht mehr erkannt werden, aus welchen Gründen die Fläche im vorhandenen Kreuzungsbereich eine platzähnliche Gestaltung erhalten sollte. Anhand der Unterlagen kann jedoch festgestellt werden, dass zumindest im Nordwesten eine etwas andere Straßenführung geplant gewesen sei. Letztlich ist dies für die gegenständliche Entscheidung ohne Belang, da die damaligen Planungsziele heute in dieser Form sicher nicht mehr umsetzbar sind. Die Befreiung ist erteilt worden, um einen städtebaulich erhaltenswerten, ortsbildprägenden Baum zu erhalten und gleichzeitig den Interessen des Bauherrn nach einer angemessenen Nutzung des Grundstücks nachzukommen. Im Rahmen der zu treffenden Abwägung ist das öffentliche Interesse am Erhalt des Baumes hinter den Planungszielen von 1897 angesiedelt worden. Die Straßeneinmündung …Straße bleibt auch nach Durchführung des Bauvorhabens weitgehend offen, eine städtebauliche Unvertretbarkeit ist in der Befreiung jedenfalls nicht zu sehen.
d) Darüber hinaus würde die streitgegenständliche Befreiung von den Baugrenzen auch nicht das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme zugunsten des Antragstellers verletzen.
Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen die Rechte des Nachbarn verletzt, ist nach den Maßstäben des § 31 Abs. 2 BauGB zu entnehmenden Gebots der Rücksichtnahme zu beantworten (vgl. BVerwG, B.v. 08.07.1998, 4 B 64/98 – juris). Maßgebend sind demnach die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was billigerweise beiden Seiten zumutbar oder unzumutbar ist. Bloße Lästigkeiten lösen einen Schutzanspruch nicht aus; erforderlich ist eine qualifizierte Störung (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14/87 – NJW 1990, 1192).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist nicht von einer Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens auszugehen. Dies ist schon deshalb für den Antragsteller nicht der Fall, da die Befreiung auf der den Grundstücken des Antragstellers abgewandten Seite erfolgt. Eine Einhaltung der alten Baulinie würde hinsichtlich der Beeinflussung des Grundstücks des Antragstellers keinen Unterscheid machen, da hiervon lediglich die Ansichten von Norden und Westen aus betroffen sind. Es hält die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen ein, die in der Regel einen ausreichenden Schutz des Nachbarn im Hinblick auf Belichtung, Belüftung, Brandschutz und ein sozialverträgliches Wohnen sicherstellen (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2011 – 15 ZB 10.201 – juris). Nur in Extremfällen, namentlich einer sog. „erdrückenden“ oder einmauernden“ Wirkung kann dann das Gebot der Rücksichtnahme noch verletzt sein (vgl. BVerwG, Urt.v. 23.05.1986 – 4 C 34/85 – NVwZ 1987, 128). Ein solcher Extremfall ist hier aber augenscheinlich nicht gegeben.
Dass von dem Bauvorhaben für den Antragsteller unzumutbare Geräuschimmissionen ausgehen könnten, wird nicht geltend gemacht. Soweit der Antragsteller geltend macht, dass ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vorliegt, weil das Bauvorhaben des Beigeladenen aufgrund der benachbarten Shishabar unzumutbaren Belästigungen oder Störungen (Lärmbelästigung) ausgesetzt sei, ist dem schon deshalb nicht zu folgen, weil der Antragsteller damit keine Verletzung in eigenen Rechten geltend macht. Im Übrigen existiert die vom Antragsteller angeführte Shishabar bereits längst nicht mehr. Seit 01.04.2020 wird dort die – im allgemeinen Wohngebiet – zulässige Schank- und Speisewirtschaft „…“ betrieben, von welcher kein erheblicher Lärm ausgeht.
Der Antrag war nachdem vollumfänglich anzulehnen.
3. Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie sich mangels Antragsstellung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren selbst keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes. Der nach Nr. II. 9.7.1. des sogenannten Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327 ff.) vorgesehene Streitwert für die Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn in Höhe von 7.500,00 EUR ist in Anlehnung an Nr. II. 1.5. dieses Streitwertkataloges im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren.


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