Baurecht

Abstandsflächenverstoß, Satzungsregel nach Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969, Bebauungsplan Nr. …

Aktenzeichen  M 8 K 20.615

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 44990
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6
BayBO 1969 Art. 7 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Vorbescheid vom 24.1.2020 nach PlanNr. … wird hinsichtlich der Beantwortung der Frage 1.1 zum Bauordnungsrecht aufgehoben.
II. Die Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin wird durch den streitgegenständlichen Vorbescheid hinsichtlich der positiven Beantwortung von Frage 1.1 zum Bauordnungsrecht – Abstandsflächen – in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Nach Art. 71 Satz 1 BayBO kann vor Einreichung eines Bauantrags auf schriftlichen Antrag des Bauherrn zu einzelnen in der Baugenehmigung zu entscheidenden Fragen vorweg ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid) erlassen werden. Als feststellender Verwaltungsakt stellt der Vorbescheid im Rahmen der vom Bauherrn gestellten Fragen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die Gegenstand der Prüfung sind, fest und entfaltet während seiner regelmäßigen Geltungsdauer von drei Jahren (Art. 71 Satz 2 BayBO) Bindungswirkung für ein nachfolgendes Baugenehmigungsverfahren.
Dritte können sich gegen einen Vorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der angefochtene Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22). Für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs genügt es daher nicht, wenn der Vorbescheid gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch den Vorbescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden.
2. Das Vorhaben verstößt gegen Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 – 3 BayBO, wonach Abstandsflächen auf dem (Bau-)Grundstück selbst liegen müssen bzw. sich bis zur Mitte von (an das Baugrundstück angrenzenden) öffentlichen Verkehrsflächen (oder auf andere Grundstücke, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden) erstrecken dürfen. Die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen des Vorhabens kommen laut den zur Genehmigung gestellten Plänen auch auf den Nachbargrundstücken zu liegen (vgl. den genehmigten Abstandsflächenplan Nr. …*).
Eine Verkürzung der Abstandsfläche vor der gegliederten Ostwand des Baukörpers gemäß § 7 des Bebauungsplans kommt nicht in Betracht. Diese Festsetzung ist unwirksam. Sie ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage Art. 7 BayBO 1969 i.V.m. Art. 107 BayBO 1969 gedeckt.
2.1. Nach Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 konnte in Bebauungsplänen nach Art. 107 Abs. 4 BayBO 1969 von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969 abgewichen werden.
Nach Art. 6 Abs. 3 BayBO 1969 mussten die Abstandsflächen vor Wänden mindestens so tief sein wie die halbe Wandhöhe, bei Gebäuden mit einem Vollgeschoß jedoch mindestens 3 m, mit zwei und mehr Vollgeschossen mindestens 4 m. Sie mussten so breit wie die Gebäudewand sein. Um Aufenthaltsräume ausreichend zu belichten, mussten vor notwendigen Fenstern die Abstandsflächen mindestens so tief sein wie die Wandhöhe, bei Gebäuden mit einem Vollgeschoß jedoch mindestens 7 m, mit zwei Vollgeschossen mindestens 8 m, mit drei und mehr Vollgeschossen mindestens 9 m. Ausnahmen galten für Küchen. Die erforderliche Abstandsflächenbreite und -tiefe ergab sich mithin in Abhängigkeit zur jeweiligen Wandhöhe und -breite, wobei zusätzlich Mindestmaße nicht unterschritten werden durften.
Voraussetzung für die Zulassung der Abweichung durch Bebauungsplan war insbesondere, dass ein ausreichender Brandschutz und eine ausreichende Belichtung und Lüftung gewährleistet waren. Ferner war vor notwendigen Fenstern (auch anderer Gebäude) ein Lichteinfallswinkel von höchstens 45° zur Waagerechten einzuhalten; die Waagerechte war in Höhe der Fensterbrüstung zu legen. Die Flächen für notwendige Nebenanlagen, insbesondere für Kinderspielplätze, Garagen und Stellplätze durften überdies nicht eingeschränkt werden, Art. 7 Abs. 1 Sätze 2-4 BayBO 1969. Für die Festsetzung geringerer Abstandsflächen waren ferner grundsätzlich besondere örtliche, planerische oder bauliche Verhältnisse erforderlich (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.1986 – 2 CS 86.02888 – BayVBl. 1987, S. 337; U.v. 7.2.1994 – 2 B 89.1918 – BayVBl. 1994, 307; B.v. 27.10.1994 – 26 N 93.3634 – BeckRS 1994, 17343; VG München, B.v. 2.12.2021 – M 8 SN 21.5095 – juris Rn. 31 ff.; Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: 143. EL Juli 2021, Art. 6 Rn. 289; offen gelassen: BayVGH, B.v. 28.5.1993 – 1 N 91.1577 – BeckRS 1993, 124197).
Eine abweichende Festlegung von Abstandsflächen im Bebauungsplan musste überdies ausdrücklich, klar und eindeutig zum Ausdruck kommen. Sie musste ersehen lassen, dass und in welchem Umfang die Abstandsflächen erweitert oder verringert wurden (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.1986 – 2 CS 86.02888 – BayVBl. 1987, S. 337; U.v. 24.10.1989 – 2 B 87. 03944 – Urteilsumdruck S. 10, n.v.; U.v. 7.2.1994 – 2 B 89.1918 – BayVBl. 1994, 307; B.v. 27.10.1994 – 26 N 93.3634 – BeckRS 1994, 17343; B.v. 8.5.2019 – 15 NE 19.551, 15 NE 19.579 – juris Rn. 24; VG München, B.v. 2.12.2021 – M 8 SN 21.5095 – juris Rn. 32 ff.). Aus den Festsetzungen mussten sich also jeweils bestimmte Abstandsflächentiefen ablesen lassen. Das „andere Maß“ musste konkret festgesetzt werden, es genügte nicht, wenn es sich mittelbar aus anderen Regelungen ergab (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.1983 – 15 CS 83 A. 1485 – BayVBl. 1983, 760; U.v. 5.11.2001 – 1 N 98.3742 – juris Rn. 38; Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 3. Auflage 2000, Art. 7 Rn. 2; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand: April 2001, Art. 7 Rn. 3.3.2.3; anders jedoch BayVGH, U.v. 27.10.1994 – 26 N 93.3634 – BeckRS 1994, 17343, der in einem Einzelfall die mittelbare Bestimmbarkeit der Abstandsflächentiefe in Anlehnung an die neue, ab 1994 geltende Rechtslage ausreichen ließ).
Eine generelle, nicht vermaßte Verkürzung der Abstandsflächen für sämtliche Gebäude war unzulässig. Die allgemeine Festsetzung von Abstandsflächen, die sich bei Ausnutzung der Bebauungsplanfestsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung ergaben, reichte nicht aus (BayVGH, B.v. 20.11.1986 – 2 CS 86.02888 – BayVBl. 1987, S. 337; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand: Juli 2021, Art. 6 Rn. 9.6.2; Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: 143. EL Juli 2021, Art. 6 Rn. 289).
Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 ermächtigte die Gemeinden ferner zwar zur Abweichung von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969, jedoch nicht zu einer Regelung, bei der die Abstandsflächentiefe nicht, wie in Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969 vorgeschrieben, unmittelbar in Relation zur Wandhöhe und ergänzend durch absolute Mindestmaße bestimmt wird, sondern nur mittelbar, nämlich über den Gebäudeabstand und die Gebäudehöhe, die sich aus den bauplanungsrechtlichen Festsetzungen ergeben. Eine solche Regelung bleibt nicht in dem System des Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969. Sie kann deshalb nicht als eine Abweichung von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969, zu der allein Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 ermächtigte, angesehen werden (vgl. BayVGH, U.v. 5.11.2001 – 1 N 98.3742 – BeckRS 2001, 28519 zu den den streitgegenständlichen Regelungen im Wesentlichen entsprechenden Vorgängerregelungen Art. 6 und 7 BayBO 1962).
2.2. § 7 des Bebauungsplans wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Durch die Regelung wird keine im obigen Sinne bestimmte oder bestimmbare abweichende Abstandsfläche getroffen, welche im System des Art. 6 Abs. 3 BayBO 1969 bleibt.
§ 7 der Satzung bestimmt, dass soweit sich im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes bei Verwirklichung der im Bebauungsplan vorgeschlagenen Form der Baukörper und der vorgeschlagenen Geschosszahlen Abstandsflächen ergeben, die geringer sind als die nach Art. 6 Bayerische Bauordnung vorgeschriebenen, die geringeren Abstandsflächen festgesetzt werden.
Im hier maßgeblichen Bereich werden 10 Vollgeschosse als Höchstgrenze festgesetzt, jedoch keine Trauf- oder Wandhöhe. Unklar bleibt hinsichtlich § 7 der Satzung, ob mit der dort genannten „vorgeschlagenen Geschosszahl“ als Anknüpfungspunkt an die verringerten Abstandsflächen jede Geschosszahl gemeint sein soll, die sich im festgesetzten Rahmen hält (ein bis zehn Geschosse) oder ob die Abweichung nur für die als Höchstgrenze festgesetzte Zahl der Vollgeschosse greifen soll. Überdies kann aus der „vorgeschlagenen Geschosszahl“ die Tiefe der Abstandsfläche nicht abgeleitet werden, da die Zahl der Vollgeschosse hinsichtlich der zulässigen Wandhöhe – anders als etwa die Traufhöhe – keinen Aufschluss gibt.
Eine Abstandsfläche bedarf als Ausgangspunkt zudem stets einer Außenwand. § 7 des Bebauungsplans verweist auf „den Baukörper in der vorgeschlagenen Form“. In der Legende („Zeichenerklärung“) findet sich unter B) „Hinweise“ das entsprechende Zeichen „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ (rosa kolorierte Fläche). Damit wird aber mit der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ schon keine Außenwand (mit den Mitteln des Bauplanungsrechts) als Ausgangspunkt der Abstandsfläche definiert, da es sich bei der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ ausschließlich um einen Hinweis ohne bindenden Charakter und keine verbindliche bauplanungsrechtliche Festsetzung handelt. Insoweit ist es auch unerheblich, dass die „vorgeschlagenen Baukörper“ nach Ansicht der Beklagten vermaßt sein sollen. Nur am Rande ist daher darauf hinzuweisen, dass die „Maße“ der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ dem Bebauungsplan allenfalls (aufgrund der Strichstärken nicht hinreichend genau) durch Abmessen entnommen werden können, eine Vermaßung findet sich gerade nicht.
Aus den ausgewiesenen überbaubaren Flächen (Bauraum), der „vorgeschlagenen Zahl der Vollgeschosse“ und dem unverbindlichen Hinweis der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ lässt sich keine bestimmbare Tiefe für die erforderliche Abstandsfläche ableiten. Im Ergebnis lässt die Satzung unabhängig von der jeweiligen Wandhöhe alle Vorhaben zu, soweit diese im Bauraum „der vorgeschlagenen Form der Baukörper“ und einer „vorgeschlagenen Geschosszahl“ entsprechen. Damit wird jedoch keine vom Regelungssystem des Art. 6 BayBO abweichende bestimmte Abstandsfläche im obigen Sinne gesetzt, vielmehr wird das Abstandsflächenrecht dadurch ausgehebelt bzw. suspendiert (vgl. hierzu auch: BayVGH, B.v. 20.11.1986 – 2 CS 86. 02888 – BayVBl. 1987, S. 337 ff.).
Da die Vorschrift aufgrund dessen keinen Bestand haben kann, kann offenbleiben, ob sie überdies hinsichtlich der Bezeichnung „im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes“ hinreichend bestimmt ist.
2.3. Bebauungspläne, die – wie der streitgegenständliche Bebauungsplan – vor dem Inkrafttreten der BayBO 1982 erlassen wurden und keine abweichenden Abstandsflächenregelungen treffen, lassen die Abstandsflächenvorschriften der Bauordnung unberührt (Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 6 Rn. 291). Dies gilt auch, wenn – wie hier – die getroffenen abweichenden Abstandsflächenregelungen unwirksam sind.
Das bedeutet, dass für Bauvorhaben grundsätzlich die Abstandsflächenvorschriften in der nunmehr geltenden Fassung anzuwenden sind, obwohl diese Bebauungspläne noch auf der Grundlage der früheren Abstandsflächenregelungen aufgestellt wurden und das Änderungsgesetz 1982 ein neues Abstandsflächensystem eingeführt hat (Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 6 Rn. 291).
3. Auch auf die weiteren von den Beteiligten aufgeworfenen Fragestellungen kommt es mithin mangels Entscheidungserheblichkeit nicht mehr an. Dies gilt insbesondere auch dafür, ob § 7 des Bebauungsplans ausschließlich von den Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 4 BayBO 1969 (Abstandsflächen auf demselben Grundstück zwischen gegenüberliegenden Gebäuden) suspendieren wollte und die Nachbargrundstücke unberührt bleiben sollten. Nur am Rande sei daher angemerkt, dass die der Vorschrift zugrundeliegenden Verfahrensvorgänge auf eben diese Absicht der Plangeberin schließen lassen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Es entspricht der Billigkeit, der Beigeladenen die Kosten hälftig aufzuerlegen. Diese hat einen Sachantrag gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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