Baurecht

Abweichung von der erforderlichen Abstandsfläche

Aktenzeichen  M 9 K 18.5334

Datum:
24.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 16519
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 1, 4, Abs. 2 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 9 S. 1, 2, Art. 63 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Allein der Wunsch des Bauherrn, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies nach den gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften zulässig ist, begründet noch keine Atypik, die die Erteilung einer Abweichung rechtfertigt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Baugenehmigung vom 4. Oktober 2018, Gz. 42-BV-Nr. 1238-2018-B, wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Die Baugenehmigung verletzt die Kläger in subjektiv-öffentlichen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Vorhaben verletzt Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 BayBO als drittschützende Vorschriften (1.); diesen Verstoß vermag auch die erteilte Abweichung nicht zu überwinden, da diese rechtswidrig ist (2.).
1. Die Kläger werden durch die Baugenehmigung in Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 BayBO verletzt. Der Nachbar kann sich auf die Nichteinhaltung der Privilegierungsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 2 BayBO -Höchstmaß der zulässigen Grenzbebauung – insofern berufen, als dass dann – mangels Erfüllung der Voraussetzungen des Privilegierungstatbestands – Abstandsflächenrecht verletzt ist. Dies gilt unabhängig davon, ob er auf einer Grundstücksseite anliegt, für die isoliert betrachtet die Privilegierungsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 BayBO eingreifen, da die Vorgaben des Art. 6 Abs. 9 BayBO insgesamt zu erfüllen sind (vgl. statt aller VG München, U.v. 6.7.2016 – M 9 K 15.1939 – juris mit ausführlicher Begründung).
2. Die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 BayBO erteilte Abweichung ist rechtswidrig.
Da von nachbarschützendem Recht abgewichen wird, ist die Abweichungsentscheidung auch im Rahmen des Drittrechtsbehelfs vollumfänglich zu überprüfen.
Vorliegend fehlt es an der tatbestandlichen Voraussetzung einer atypischen Grundstückssituation – festgemacht an der Formulierung „Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen“ (vgl. nur Simon/Busse, BayBO, Stand: 132. EL Dezember 2018, BayBO Art. 63 Rn. 18ff.; aus der Rechtsprechung: BayVGH, Endurteil v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris; B.v. 5.11.2015 – 15 B 15.1372 – juris; B.v. 20.9.2011 – 2 CS 11.1849 – juris; VG München, B.v. 18.7.2011 – M 9 SN 11.2628 – EA). Nach einer Grundentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris) kann sich eine atypische Fallgestaltung etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben; in solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen.
Nichts davon ist vorliegend gegeben. Eine sog. Atypik ist auch im Übrigen in keiner Weise ersichtlich. Allein der Wunsch der Bauherrin, ihr Grundstück stärker auszunutzen als dies nach den gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften zulässig ist, begründet noch keine Atypik. Eine (noch) stärkere Ausnutzung ist vorliegend auch insofern wenig nachvollziehbar, als die Beigeladene zu 1. aufgrund bestandskräftiger Baugenehmigung – vorgezeigt im Termin – bereits über mindestens sieben Stellplätze verfügt. Dementsprechend verhält sich die Abweichungsentscheidung zu alledem auch mit keinem Wort.
Ohne atypische Situation aber ist ein Abgehen von den Maßgaben des Art. 6 BayBO unzulässig, da jede Verkürzung der Abstandsflächen zu einer Verschlechterung der Nachbarsituation führt. Fallgestaltungen, in denen das Normziel auf andere Weise erreicht werden kann, sind im Bereich des Abstandsflächenrechts kaum vorstellbar, da der Zweck der Vorschriften in der Regel nicht bspw. durch eine andere als die gesetzlich vorgeschriebene Bauausführung gewahrt werden kann (BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO, Stand: 11. Ed. 1.3.2019, Art. 63 Rn. 40).
Hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO gilt:
Die Beteiligten haben vorliegend, wie sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsvorgang ergibt, ersichtlich nicht auf die durch die BayBO-Novelle 2018 eingeführte Regelung abgestellt.
Unabhängig davon führt die Gesetzesänderung nicht zu einer anderen Beurteilung des Falls. Die Regelung bzw. ihre beabsichtigten Wirkungen erschließen sich nur und ausschließlich durch ein Studium der Gesetzesbegründung. Eine auch nur ansatzweise Umsetzung im Gesetzestext ist nicht erfolgt (vgl. BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO, Stand: 11. Ed. 1.3.2019, Art. 63 Rn. 42). Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO enthält deshalb unter Wahrung des Auslegungsprinzips, wonach auch eine extensive Auslegung ihre Grenze jedenfalls stets im Wortlaut der Regelung findet (statt aller BVerfG, B.v. 28.7.2015 – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14 – NJW 2015, 2949), nur eine Klarstellung, nämlich, dass Abweichungen auch im Bereich des Abstandsflächenrechts möglich sind (zum Verhältnis Gesetzestext – Gesetzesbegründung bspw. BFH, U.v. 28.7.2011 – VI R 38/10 – juris). Diese Abweichungen richten sich (nur) nach Art. 63 BayBO und den dortigen Vorgaben. Die Notwendigkeit einer atypischen Grundstückssituation aber leitete die bisherige Rechtsprechung ohnehin nur aus dem Tatbestand des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ab. Daran ist demnach festzuhalten.
Wollte man die – inkonsistente – Gesetzesbegründung dennoch heranziehen, so müsste man sich sinnvollerweise auf die dort explizit aufgeführten Fälle beschränken – Terrassengeschosse, Änderung von Bestandsgebäuden -, da die Zulassung von Abweichungen ansonsten, mit Ausnahme der Abwägung der betroffenen Belange, willkürlich möglich wäre, wie der vorliegende Fall zeigt. Andererseits hätte es jedenfalls für die Änderung von Bestandsgebäuden keiner Neuregelung – bzw. richtiger: keiner entsprechenden Begründung – bedurft, da diese Fallgestaltungen auch bis dato als atypische Situation angesehen und in die Fallgruppe des sog. normativen Überhangs eingeordnet wurden (Simon/Busse, BayBO, Stand: 132. EL Dezember 2018, Art. 63 Rn. 28). Dementsprechend verweist auch der Standardkommentar (Simon/Busse, BayBO, Stand: 132. EL Dezember 2018, Art. 6 Rn. 65a) zu Recht darauf, dass die Neuregelung
(klarstellend) erreichen [will], dass Abweichungen vom Abstandsflächenrecht beim Aufstocken von Bestandsgebäuden erleichtert möglich sind. Die Rechtsprechung hat gerade für Abweichungen vom Abstandsflächenrecht das Erfordernis der Abweichung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal betont. Dies hat dazu geführt, dass insbesondere die Fälle der Aufstockung vorhandener grenzständiger Gebäude problematisch wurden: Bei profilgleichem Aufstocken ist das Aufstocken abstandsflächenrechtlich unproblematisch zulässig, weil dann ein Fall von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 vorliegt. Erfolgt das Aufstocken aber nicht profilgleich, muss eine fiktive Außenwand gebildet werden, die nicht an der Grenze steht, also abstandsflächenpflichtig ist; Abs. 1 Satz 3 ist auf diese Fälle nicht anwendbar, sodass die zurückgesetzte Aufstockung nur im Wege der Abweichung zulässig ist. In diesen Fällen fehlt es aber sehr oft an der von der Rechtsprechung geforderten Atypik. Hier setzt nun die klarstellende Regelung des neuen Satzes 4 an.
Weiteren Sinn sieht auch Simon/Busse, a. a. O., zu Recht nicht in der Regelung (offen gelassen bei VG Würzburg, B.v. 13.11.2018 – W 5 S 18.1260 – juris).
Die Kostenentscheidung fußt auf § 154 Abs. 1, Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat sich mangels Antragstellung nicht in ein Kostenrisiko begeben, weswegen es nicht der Billigkeit entspräche, der Klägerin auch seine außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben