Baurecht

baurechtliche Nachbarklage, Errichtung von zwei Dachterrassen auf Flachdächern eines Wohnhauses, Abstandsflächen, regellose Bebauung, Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften, Atypik, nachbarliche Belange, sozialer Wohnfriede, Rücksichtnahmegebot, Einsichtnahme

Aktenzeichen  W 5 S 21.132

Datum:
15.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16224
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80a Abs. 3
BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Aufwendungen selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich als (Mit-)Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …6/2 der Gemarkung F …, H1.straße … in F …, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die dem Beigeladenen mit Bescheid vom 21. Dezember 2020 erteilte Baugenehmigung zur Nutzung von zwei Flachdächern als Dachterrasse am Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. …7 der Gemarkung F …, …gasse in F … (Baugrundstück).
1. Das Grundstück Fl.Nr. …6/2 der Gemarkung F … des Antragstellers befindet sich südlich der Haupt straße und ist zur Straßenseite hin traufständig mit einem Wohnhaus bebaut, das zu beiden Seiten auf der Grundstücksgrenze steht. Auf der rückwärtigen Seite des Wohnhauses reicht das Wohnhaus im Erdgeschoss im östlichen Grundstücksbereich bis zur nördlichen Grenze des Baugrundstücks. Im Obergeschoss befindet sich eine Terrasse, die ebenfalls bis zur Grenze reicht. Im westlichen Grundstücksbereich befand sich ursprünglich ein Nebengebäude, das Ende der 1990er Jahre umgebaut wurde, in das Büroräume eingebaut wurden und das mit dem vorderen Wohnhaus zusammengebaut wurde (Baugenehmigung vom 16.10.1997, BV-Nr.1318/97). Diese Baugenehmigung enthält den Hinweis Nr. 912b, dass die gesamten Außenwände des Nebengebäudes zur Fl.Nr. …7 gemäß Art. 32 Abs. 2 Nr. 1 BayBO als bauordnungsgemäße Brandwände (DIN 4102) zu erstellen seien. Dieses Gebäude erstreckt sich in einem Abstand von ca. 0,80 m traufständig entlang der westlichen Grundstücksgrenze des Baugrundstücks Richtung Süden. Das Baugrundstück, das straßenmäßig von Süden, aus der …gasse, erschlossen ist, ist mit einem Wohnhaus bebaut, das im Erdgeschoss auf allen vier Seiten auf den Grundstücksgrenzen steht. Im Norden, zum Grundstück des Antragstellers, wurde aufgrund der Baugenehmigung vom 25. Juli 2019 (BV-Nr. 2017-761) ein eingeschossiger Anbau („Keller 3“) errichtet, der bis zur nördlichen Grundstücksgrenze reicht und nach oben mit einem Flachdach abgeschlossen wird. Die Bebauung im Obergeschoss (Wohnzimmer), das ebenfalls mit einem Flachdach versehen ist, ist im Osten und Westen grenzständig und hält im Norden, also zur Südgrenze des östlichen Teils des Grundstücks Fl.Nr. …6/2 einen Abstand von 3,895 m ein. Das Baugrundstück und das Grundstück Fl.Nr. …6/2 des Antragstellers befinden sich im unbeplanten Innenbereich von F …
2. Mit Bauantrag vom 6. Juli 2020 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzung von zwei Flachdächern als Dachterrasse auf dem Baugrundstück. Mit Antrag vom 15. Dezember 2020 begehrte er jeweils die Erteilung einer Abweichung von den Vorschriften über die Abstandsflächen der Bayerischen Bauordnung hinsichtlich des Obergeschosses und des Dachgeschosses für eine Nutzung des Flachdaches als Dachterrasse. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass durch die historisch gewachsene Grundstücksanordnung die heutige Abstandsflächenregelung nicht einhaltbar sei; nur dadurch sei auch die vorgefundene, bestehende Verdichtung des Dorfgebietes möglich. Unter dem 15. Dezember 2020 wurden geänderte Pläne vorgelegt. Diese sehen im Obergeschoss eine Dachterrasse vor, die im Westen und Norden an die Grundstücksgrenze zu Fl.Nr. …6/2 und …8 heranreicht. Im Osten wird mittels eines Geländers nun – im Unterschied zur ursprünglichen Planung, bei der die Terrasse bis an die dortige Grenze reichte – ein Abstand von 3,00 m zur Grundstücksgrenze Fl.Nr. …8 eingehalten. Die Dachterrasse hat gemäß Planunterlagen eine Fläche von 15,54 m². Die im Dachgeschoss geplante Dachterrasse weist nun – im Unterschied zur ursprünglichen Planung, bei der die Terrasse auch hier bis an die Grenzte reichte – einen Abstand von 2,00 m zur westlichen Grundstücksgrenze Fl.Nr. …6/2 auf, hält im Norden einen Abstand von 3,98 m zur Grenze des Grundstücks Fl.Nr. …6/2 und in Richtung Osten einen Abstand von 3,00 m zur Grenze des Grundstücks Fl.Nr. …8 ein. Die Dachterrasse weist eine Fläche von 7,32 m² auf.
Mit Bescheid vom 21. Dezember 2020 erteilte das Landratsamt W. dem Beigeladenen die Baugenehmigung nach den Plänen vom 15. Dezember 2020 (Ziffer 1). Des Weiteren wurden nach Ziffer 2 von den baurechtlichen Vorschriften des Art. 6 BayBO (Freihaltung von Abstandsflächen vor Außenwänden von Gebäuden) Abweichungen zugelassen (Abstandsflächen ausgehend von den Dachterrassen im Ober- und Dachgeschoss nach Westen zu Fl.Nr. …6/2, nach Norden zu Fl.Nr. …6/2 und …8 und nach Osten zu Fl.Nr. …8).
Zur Begründung der Ziffer 2 des Tenors wurde u.a. ausgeführt, dass die Abweichungen von den gemäß Art. 6 BayBO festgesetzten Abstandsflächen nach Art. 63 BayBO hätten erteilt werden können. Aufgrund der geplanten Baumaßnahme sei die abstandsflächenrechtliche Situation neu zu würdigen. Das Bestandsgebäude habe bereits aufgrund seiner grenzständigen Bauweise die Abstandsflächen auf dem Baugrundstück nicht nachweisen können. Dies treffe aufgrund der beengten Altortsituation auch auf die umliegenden Wohngebäude zu. Nach Auffassung des Landratsamtes könnten die beantragten Abweichungen erteilt werden. Die im Obergeschoss geplante Dachterrasse reiche im Westen an die Nachbargrenze Fl.Nr. …6/2 heran. Hier stehe an der Grenze ein traufständiges Bestandsgebäude mit Aufenthaltsräumen, welches einen Grenzabstand von 80 cm einhalte. Im Bereich der Dachterrasse sei eine Brandwand mit brandschutztechnischer Festverglasung genehmigt. Belichtung, Belüftung und Besonnung seien unproblematisch. Hinsichtlich des sozialen Wohnfriedens werde eine Abweichung auch als nachbarverträglich angesehen, da die geplante Dachterrasse unter dem Niveau der Festverglasung liege, so dass keine erhöhte Einsichtnahme auf das Nachbargrundstück gegeben sei. Nach Norden komme zum Grundstück des Antragstellers eine Abstandsfläche mit den Maßen von 3,43 m x 4,24 m (gerundet 14,54 m²) zu liegen. Hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung werde der Antragsteller durch die Abstandsfläche nicht schlechter gestellt, da er in diesem Bereich über einen Bestandsbalkon verfüge, der bis an die Grundstücksgrenze heranreiche. Da der Balkon des Antragstellers über dem Niveau der geplanten Dachterrasse liege, komme es durch die Umnutzung zu keiner Verschlechterung für den Antragsteller. Ein Schattenwurf gehe im überwiegenden Maße vom bereits bestehende Gebäudeteil (Keller 3) aus, der für sich gesehen aber keine Auswirkungen auf den Balkon des Antragstellers habe. Hinsichtlich des Wohnfriedens sei davon auszugehen, dass aufgrund der niedrigeren Höhe keine Verschlechterung zuungunsten des Nachbarn zu befürchten sei. Hinsichtlich der Dachterrasse im Dachgeschoss werde Richtung Westen ein Abstand von 2,00 m eingehalten. In Anlehnung an die Regelungen des Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 Buchst. c BayBO werde somit der Abstand gewahrt, der auch von einem abstandsflächenfreien Balkon mindestens einzuhalten wäre. Gemäß den genehmigten Planunterlagen befänden sich in dem Nachbargebäude an dieser Stelle Aufenthaltsräume. Öffnungen, eine Dachgaube oder Ähnliches seien in diesem Bereich nicht vorhanden. Die grenznahe Wand (Abstand von 80 cm) sei insgesamt als Brandwand beauflagt. Hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung würden keine gegenteiligen Einwirkungen auf den Nachbarn erwartet. Da eine öffnungslose Wand vorhanden sei, würden noch nicht einmal Verschattungen erwartet. Auch der soziale Wohnfrieden könne in diesem Bereich nicht gestört sein, weil eine Einsichtnahmemöglichkeit trotz der exponierten Lage nicht gegeben sei. Zum Grundstück des Antragstellers Richtung Norden komme die Abstandsfläche der geplanten Dachterrasse mit einer Tiefe von 2,05 m bei einer Breite von 1,86 m auf dem Nachbargrundstück zu liegen (gerundete Fläche von 3,81 m²). Aufgrund der Geometrie und der Größe der Dachterrasse könne von einer lediglich geringfügigen Nutzung sowie aufgrund des anschließenden Schlafzimmers mutmaßlich von einem elterlichen Rückzugsort ausgegangen werden. Der Platz werde lediglich für einen Gartentisch und zwei Stühle reichen. Eine Einsichtnahme auf das nachbarliche Grundstück sei zwar gegeben, allein durch das bestehende bodentiefe Fenster sei aber eine solche ohnehin schon möglich. Gerade im Hinblick auf die Dachterrasse im Obergeschoss, bei welcher eher eine Einsichtnahme durch die Nachbarn gegeben sei, könne hier von einer Art Interessenausgleich der nachbarlichen Belange ausgegangen werden. Hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung bestünden keine Bedenken, da die Dachterrasse einen Abstand von 3,98 m zur Nachbargrenze einhalte.
3. Gegen den Bescheid vom 21. Dezember 2020, dem Antragsteller zugestellt gegen Postzustellungsurkunde am 29. Dezember 2020, ließ der Antragsteller am 28. Januar 2021 durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben (W 5 K 21.131). Er stellte am gleichen Tag im hiesigen Verfahren sinngemäß den Antrag,
„die aufschiebende Wirkung (…) des Bescheids des Landratsamts W. Bauamt, … vom 21.12.2020“
anzuordnen.
Zur Begründung des Antrags wie auch der Klage wurde vorgetragen: Der Antragsteller habe die Nachbarunterschrift unter die Baugenehmigung von vorneweg verweigert. Das Landratsamt sei bisher auch der Ansicht gewesen, dass diese Terrasse nicht genehmigungsfähig sei, weil die Abstandsflächenvorschriften nicht eingehalten werden könnten. Aufgrund des Einwirkens der Käuferin des Objekts habe das Landratsamt dann eingelenkt. Historisch gesehen habe die Möglichkeit für den Bauherrn bestanden, ebenerdig eine Terrasse zu gestalten, stattdessen würden nun höhergelegene Terrassen geplant und genehmigt. Der Antragsgegner argumentiere hinsichtlich des sozialen Wohnfriedens damit, dass die Abweichung als nachbarverträglich anzusehen sei, da die geplante Dachterrasse unter dem Niveau der Festverglasung liege. Bekanntlicherweise sei aber allein eine Festverglasung nicht dazu geeignet, Gespräche oder Ähnliches abzuhalten. Auch wäre durch Grillen oder durch andere Betätigung auf der Terrasse eine Geräusch- und Geruchskulisse gegeben, die dem sozialen Wohnfrieden nicht dienlich sei. Genau aus diesem Grund seien Abstandsvorschriften erlassen worden. Das Landratsamt argumentiere, dass der Antragsteller ja bereits einen Bestandsbalkon habe, weshalb hier die Abstandsflächen nicht schädlich seien. Wer hier zuerst da gewesen sei, spiele keine Rolle mehr. Dem könne aus den genannten Gründen nicht gefolgt werden. Abgesehen von dem durch die Genehmigung geschafften Näheverhältnis, das hier unzumutbar sei, sei es auch so, dass die Nutzer der neuen Flachdachterrasse eben nicht durch die Einsichtnahme der Nachbarn geschützt seien. Mit längerer Nutzung würden die Nutzer vergessen, wer zuerst da gewesen sei, sodann werde es Streit darüber geben, wer, wo wie sich verhalten dürfe. All dies sei durch die Abweisung der Baugenehmigung zu verhindern. Das Landratsamt gehe auch unzutreffender Weise davon aus, dass die Hauptnutzung von der Terrasse im Obergeschoss ausgehen werde. Dies könne aber den Nutzern nicht vorgeschrieben werden. Auch hinsichtlich der Terrasse im Dachgeschoss sei die Abweichung allen Beteiligten unzumutbar. Hier säßen Antragsteller und die Bewohner des streitgegenständlichen Dachobjekts quasi nebeneinander. Die Abweichungen seien ohne Zustimmung der Nachbarn abzuweisen. Zuletzt müsse man berücksichtigen, dass der Bauherr das Objekt verkauft habe. Wer ein solches Objekt erwerbe, müsse wissen, dass eine enge Bebauung zu starken Nutzungseinschränkungen führe. Wenn das Landratsamt darauf hinweise, dass es eine Novellierung der Bayerischen Bauordnung geben werde, sei festzuhalten, dass es weiterhin bei dem Mindestabstand von drei Metern bleibe, so dass sich an der Beurteilung des vorliegenden Bauantrags nichts ändere. Es werde auch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 9. Mai 2016 verwiesen, wonach für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO eine atypische Fallgestaltung Voraussetzung sei. Zwar liege hier das Baugrundstück in einem historischen Ortskern, historisch an der Bebauung sei hier aber konkret nichts. Die genannten Anforderungen würden vom Antragsgegner nicht einmal dezidiert dargestellt. Liege die erforderliche Atypik nicht vor, erweise sich die trotzdem erteilte Abweichung von den gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen als rechtswidrig und die Baugenehmigung sei auf die Nachbarklage hin aufzuheben, so der Bayer. Verwaltungsgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015.
4. Das Landratsamt W. stellte für den Antragsgegner den Antrag,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen: Der zulässige Antrag sei unbegründet. Der Hauptsacherechtsbehelf habe keine Aussicht auf Erfolg, da die Baugenehmigung rechtmäßig sei und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletze. Insbesondere seien die zugunsten des Beigeladenen erteilten Abweichungen von den Abstandsflächenvorschriften gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO rechtmäßig.
Der Antragsgegner wiederholte und vertiefte seine Begründung des Bescheids vom 21. Dezember 2020. Abstandsflächen dienten dem Zweck, zwischen Bebauungen für ausreichend Besonnung, Belichtung und Luftzufuhr zu sorgen. Darüber hinaus sollten sie den sozialen Wohnfrieden zwischen den Nachbarn wahren. Dieser Schutzzweck werde durch die erteilten Abweichungen von den Abstandsflächen nicht gefährdet. Insbesondere sei der Schutz des Wohnfriedens gewährleistet. Es müsse der Behauptung des Antragstellers entgegengetreten werden, dass die Nachbarn quasi direkt nebeneinandersitzen würden, bestehe hier doch ein Abstand von 4 m. Nach der zum 1. Februar 2021 novellierten BayBO – worauf im streitgegenständlichen Bescheid lediglich ein Hinweis erfolgt sei – würden bei der nun gültigen Abstandsflächentiefe von 0,4 H dagegen in diese Richtung überhaupt keine Abstandsflächen mehr auf dem Grundstück des Antragstellers zu liegen kommen. Insgesamt führe vorliegend die bereits bestehende dichte Bebauung dazu, dass nahezu jedwede bauliche Veränderung der bestehenden Anwesen in der vorzufindenden Lage geeignet sei, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen. Dem Antragsteller sei – sollte man insoweit überhaupt von einer Einsichtnahmemöglichkeit ausgehen – diese auch im Sinne des Rücksichtnahmegebots zumutbar. Bezüglich der in der Antragsbegründung aufgeführten Rechtsprechung und des daraus herauszulesenden Erfordernisses einer Atypik sei darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber mit Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ausdrücklich klargestellt habe, dass es für die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften keiner Atypik mehr bedürfe.
5. Der Beigeladene äußerte sich (auch im Klageverfahren) nicht und stellte keinen Antrag.
6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Nach sachgerechter Auslegung (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO) ist der Antrag des anwaltlich vertretenen Antragstellers, der sich gegen die Baugenehmigung des Landratsamts W. vom 21. Dezember 2020 wendet und explizit beantragt hat, „die aufschiebende Wirkung (…) des Bescheids des Landratsamts W. Bauamt, … vom 21.12.2020“ anzuordnen, dahingehend zu verstehen, dass ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. Dezember 2020 gestellt wird.
Der so verstandene Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1. Der Antrag ist zulässig.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (§ 80 Abs. 1 VwGO) entfällt vorliegend, weil er sich gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens wendet (§ 212a BauGB). In einem solchen Fall kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ganz oder teilweise anordnen (§ 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO). Ein derartiger Antrag kann unmittelbar bei Gericht gestellt werden.
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist unbegründet.
Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
Vorliegend lässt sich nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung anhand der Akten feststellen, dass die Anfechtungsklage des Antragstellers gegen die Baugenehmigung des Landratsamts W. vom 21. Dezember 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird, da der angefochtene Bescheid den Antragsteller nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind; insoweit ist das Landratsamt W. hier zutreffender Weise vom vereinfachten Genehmigungsverfahren des Art. 59 BayBO ausgegangen.
Die Baugenehmigung ist nur dann aufzuheben, wenn sie rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332; B.v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231; BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 – IV C 31.77; alle juris).
2.1. Der Vortrag der Antragstellerseite, dass die angegriffene Baugenehmigung den Antragsteller in seinem Recht auf Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO verletze, kann nicht zum Erfolg des Antrags führen. Denn es liegt keine Verletzung abstandsflächenrechtlicher Vorschriften (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. Art. 6 BayBO) zu Lasten des Antragstellers vor.
2.1.1. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe und beträgt gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (in der bis zum 31. Januar 2021 geltenden Fassung) 1 H, mindestens 3 m. Allerdings ist die Neuregelung in Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (BayBO-Novelle 2021 durch G. v. 23.12.2020 – GVBl. S. 663), wonach die Tiefe der Abstandsfläche grundsätzlich (nur noch) 0,4 H, mindestens 3 m beträgt, auch dem hiesigen gerichtlichen Verfahren zugrunde zu legen. Zwar ist bei Nachbarklagen maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich der Zeitpunkt der Genehmigungserteilung (vgl. BayVGH, U.v. 4.10.1991 – 2 B 88.1284 – juris). Aus Gründen der Prozessökonomie sind jedoch nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn zu berücksichtigen, weil ihm aufgrund der veränderten Umstände im Falle der Aufhebung der Baugenehmigung ein Anspruch auf erneute Genehmigungserteilung zustünde (BayVGH, U.v. 4.10.1991 – 2 B 88.1284; BVerwG, B.v. 22.4.1996 – 4 B 54.96; beide juris).
Insoweit lässt sich den genehmigten Planunterlagen unzweifelhaft entnehmen, dass bzgl. des streitgegenständlichen Vorhabens die nach Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO erforderlichen Abstandsflächen von 0,4 H, mindestens 3 m hinsichtlich der Dachterrasse im Obergeschoss in Richtung Westen und Norden und hinsichtlich der Dachterrasse im Dachgeschoss Richtung Westen nicht eingehalten werden können und sich (teilweise) auf das Grundstück des Antragstellers erstrecken. Richtung Norden hält die Dachterrasse im Dachgeschoss die Abstandsflächen nach der Neuregelung ein (Abstand von 3,98 m zur Grundstücksgrenze Fl.Nr. …6/2 bei einer Höhe Oberkante Geländer von 6,18 m; 0,4 H = 2,47 m, mindestens 3,00 m).
2.1.2. Allerdings hat hier das Landratsamt W. auf den Antrag vom 15. Dezember 2020 im streitgegenständlichen Baugenehmigungsbescheid u.a. Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO von den Abstandsflächen hinsichtlich der Dachterrassen im Ober- und im Dachgeschoss auf der Nord- und Westseite erteilt. Es ist aber schon fraglich, ob die Baugenehmigungsbehörde zu Recht davon ausgegangen ist, dass das Vorhaben des Beigeladenen insoweit einer Abweichung von den Regelungen über Abstandsflächen bedarf, so dass sie ins Leere gehen würde. Im Einzelnen:
Zwar sind nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Eine Abstandsfläche ist nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO aber gerade nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf.
Diese Regelung räumt dem Städtebaurecht den Vorrang ein, soweit es die Errichtung von Gebäuden ohne Grenzabstand regelt. Dazu gehören die Vorschriften über die geschlossene (§ 22 Abs. 3 BauNVO) und abweichende Bauweise (§ 22 Abs. 4 BauNVO). Nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO werden in der offenen Bauweise die Gebäude mit seitlichem Grenzabstand (Bauwich) als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder als Hausgruppen mit einer Länge von höchstens 50 m errichtet. Nach § 22 Abs. 3 Satz 1 BauNVO werden in der geschlossenen Bauweise die Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand errichtet, es sei denn, dass die vorhandene Bebauung eine Abweichung erfordert.
Dieser Vorrang des Planungsrechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, vielmehr kommt auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. Kraus in Simon/Busse, BayBO, 39. EL Okt. 2020, Art. 6 Rn. 33 f. m.w.N. zur Rspr.). Eine solche geschlossene Bauweise (Bebauung der seitlichen Grundstücksgrenzen) bzw. abweichende Bauweise kann also nicht nur in einem Bebauungsplan festgesetzt werden, sondern sie kann sich in den Fällen, in denen nach § 34 BauGB der planungsrechtliche Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens die vorhandene Bebauung ist, auch aus dieser ergeben, mit der Folge, dass sie dann die verbindliche Bauweise ist.
Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO kommt nach zutreffender Auffassung auch dann zur Anwendung, wenn die vorhandene Mischung von Gebäuden in der Umgebung des Baugrundstücks mit und ohne seitlichen Grenzabstand „regellos“ erscheint, wie dies hier der Fall ist (BayVGH, B.v. 8.10.2013 – 9 CS 13.1636; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363; U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616; alle juris). Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist für eine einschränkende Auslegung, dass diese Vorschrift bei „regelloser“ Bauweise nicht zur Anwendung komme, kein Raum. Außerdem ist in historisch gewachsenen, nicht von einer Bauleitplanung gelenkten Strukturen kaum jemals eine völlige Regelmäßigkeit anzutreffen. Das Anliegen, eine Grenzbebauung bei einer vorhandenen Mischung aus unterschiedlichen Bauweisen, wie im vorliegenden Fall, aufgrund städtebaulich zu missbilligender Zustände zu verhindern, ist vielmehr über das Bauplanungsrecht wegen eines Verstoßes gegen das objektive Gebot der Rücksichtnahme zu lösen (vgl. BayVGH, U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616 – juris Rn. 31).
Der aus dem in der Behördenakte enthaltenen Katasterplan und einem Luftbild ersichtliche Bebauungsbereich im Altortbereich des Marktes F … südlich der H1.straße, zwischen dem … Tor (im Westen) und dem …tor (im Osten) sowie dem Main (im Süden) wird weder allein durch die geschlossene noch die offene noch die halboffene Bauweise geprägt. Gleiches gilt für den engeren Bereich zwischen der H1.straße (im Norden), der …gasse (im Westen) und der Fischergasse (im Süden und Osten). Das Baugrundstück selbst zeigt eine geschlossene Bauweise, denn das vorhandene Wohnhaus steht (nach dem Auszug aus dem Liegenschaftskataster und dem Luftbild) nicht nur mit seinen beiden seitlichen Außenwänden auf der Grundstücksgrenze, sondern auch mit seiner südlichen, vorderen Außenwand. Auch auf dem Grundstück des Antragstellers findet sich die Bebauung sowohl im vorderen als auch im rückwärtigen Grundstücksbereich (auf Höhe des Baugrundstücks) auf beiden seitlichen Grundstücksgrenzen bzw. in deren unmittelbarer Nähe sowie an der vorderen Grenze. Auf den südwestlich des Grundstücks des Antragstellers gelegenen Grundstücken Fl.Nr. …3, …2 und …1 ist eine Grenzbebauung an beiden Grundstücksseiten gegeben, sowie an der vorderen Grundstücksgrenze und teilweise auch an der hinteren Grundstücksgrenze. Die sich südlich bzw. südöstlich an das Baugrundstück anschließenden Grundstücke Fl.Nr. …2 und …3 sind an allen vier Grundstücksgrenzen bebaut. Östlich des Baugrundstücks findet sich auf Höhe des Wohngebäudes des Beigeladenen sowohl auf dem Grundstück Fl.Nr. …8 und …9 wohl jeweils eine halboffene Bauweise. Offene Bauweise ist im Umgriff des Baugrundstücks zwar ebenfalls gegeben, wenn auch selten. Nach allem existiert jedenfalls im fraglichen Bereich um das Baugrundstück eine Regel, den Bereich an den seitlichen und rückwärtigen Grundstücksgrenzen von einer Bebauung freizuhalten, offensichtlich nicht.
Kommt in einem unbeplanten Gebiet, wie im vorliegenden Fall, teilweise offene, teilweise geschlossene, aber auch abweichende Bauweise vor, dann sind regelmäßig die offene und die geschlossene Bauweise planungsrechtlich in dem Sinn zulässig, dass nicht an die Grundstücksgrenze gebaut werden muss, aber an die Grenze gebaut werden darf (BayVGH, B.v. 16.1.2014 – 9 CS 13.1808 – juris Rn. 13; U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616 – juris Rn. 30 ff.). Daraus folgt, dass hier einiges dafürspricht, dass sich die Errichtung der Dachterrassen des Beigeladenen (teilweise) an der Grundstücksgrenze zum Grundstück des Antragstellers planungsrechtlich innerhalb des aus der Umgebung hervorgehenden Rahmens hält.
2.1.3. Abgesehen davon begegnet auch die Erteilung der Abweichungen durch das Landratsamt W. nach Art. 63 Abs. 1 BayBO keinen Bedenken. Die Baugenehmigungsbehörde hat dem Beigeladenen hinsichtlich der Dachterrassen im Obergeschoss und im Dachgeschoss an der Westseite und der Nordseite zum Grundstück des Antragstellers ohne Rechtsverstoß Abweichungen von den Abstandsflächen gewährt. Im Einzelnen:
Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen u.a. von Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind. Im Einzelnen:
Das Vorbringen der Antragstellerseite, wonach – unter Verweis auf eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung aus dem Jahr 2016 – die Erteilung einer Abweichung eine atypische Fallgestaltung voraussetze, während vorliegend eine solche von Seiten des Antragsgegners nicht einmal dezidiert dargestellt sei, kann dem Antrag nicht zum Erfolg verhelfen.
Soweit der Antragstellerbevollmächtigte die vor der Änderung der Bayerischen Bauordnung zum 1. September 2018 erfolgte Rechtsprechung der bayerischen Verwaltungsgerichte zur Atypik wiedergegeben hat, kann dem die Kammer nur beipflichten. Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, musste es – so die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (statt vieler vgl. BayVGH, B.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 17) und der bayerischen Verwaltungsgerichte – im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird. Es müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 63 Rn. 12; Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 17. Edition Stand Juni 2020, Art. 63 Rn. 41). Voraussetzung für einen atypischen Sachverhalt ist mithin, dass Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen.
In Reaktion auf diese Rechtsprechung hat allerdings der Bayerische Landesgesetzgeber mit der Novellierung der Bayerischen Bauordnung durch § 1 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018 (GVBl. S. 523) mit Wirkung zum 1. September 2018 dem Art. 6 Abs. 1 BayBO folgenden Satz 4 angefügt: „Art. 63 bleibt unberührt“. Was auf den ersten Blick wie eine bloße Klarstellung klingt – selbstverständlich konnten schon bisher Abweichungen nach Art. 63 BayBO von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts erteilt werden – zeigt sich in ihrer weitreichenden Bedeutung für die Praxis erst bei einem Blick in die Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/21574, 13): Dort wird ausgeführt, dass der neue Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO einem Bedürfnis der Praxis Rechnung trage und „ausdrücklich klar“ stelle, dass tatbestandliche Voraussetzungen einer Abweichung von Vorgaben des Abstandsflächenrechts ausschließlich in Art. 63 geregelt seien (Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 17. Edition Stand Juni 2020, Art. 6 Rn. 250 und Art. 63 Rn. 42). Die Gesetzesbegründung stellt weiter darauf ab, dass eine „Atypik“, wie sie die Rechtsprechung auch nach der Änderung der abstandsrechtlichen Vorschriften durch das Gesetz vom 12. April 1994 (GVBl. Nr. 8/1994, S. 210) als zusätzliches (nunmehr ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) einer Abweichung verlangt, vom Gesetz nicht gefordert wird. Allerdings kann vom Wortlaut her eine eindeutige Regelung, wonach Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften keine Atypik verlangen, dem Gesetzestext jedenfalls nicht entnommen werden. Damit stellt sich aber schon die Frage, ob der Gesetzgeber seinen Willen mit Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO hinreichend konkret im Gesetz abgebildet und damit tatsächlich wirksam umgesetzt hat (Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 17. Edition Stand Juni 2020, Art. 6 Rn. 250b und Art. 63 Rn. 42). Die bisher hierzu ergangene Rechtsprechung der bayerischen Verwaltungsgerichte ist uneinheitlich. Während beispielsweise das Verwaltungsgericht Augsburg (U.v. 11.7.2019 – Au 5 K 19.54 – BeckRS 2019, 16762 Rn. 35) unter Zugrundelegung der ausdrücklichen Gesetzesbegründung davon ausgeht, dass das bislang in der Rechtsprechung geforderte Vorliegen einer atypischen, von der gesetzlichen Regelung nicht zureichend erfassten oder bedachten Fallgestaltung nicht mehr erforderlich ist, ist nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts München (U.v. 24.7.2019 – M 9 K 18.5334 – BeckRS 2019, 16519 Rn. 29) an der Notwendigkeit einer atypischen Grundstückssituation, die sich nach der bisherigen Rechtsprechung ohnehin aus dem Tatbestand des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ableitet, festzuhalten (vgl. zum Meinungsstand: VG Augsburg, U.v. 28.10.2020 – Au 4 K 20.793 – BeckRS 2021, 2172 Rn. 26 und B.v. 19.11.2019 – Au 4 S 19.1926 – BeckRS 2019, 30307 Rn. 28 f.).
Vorliegend muss dem nicht weiter nachgegangen werden, weil die Kammer keinen Zweifel daran hat, dass hier tatsächlich ein atypischer Fall vorliegt. Zwar hat das Landratsamt W. in der Begründung der Abweichungsentscheidung – wie der Bevollmächtigte des Antragstellers zu Recht rügt – keine Begründung für eine Atypik vorgebracht. Dies wohl deshalb, weil es – wie in der Antragserwiderung dargelegt wird – aufgrund der Neuregelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO davon ausgeht, dass es einer solchen nicht mehr bedarf. Allerdings hat der Beigeladene zur Begründung seiner Anträge auf Abweichung ausgeführt, dass durch die historisch gewachsene Grundstücksanordnung die heutige Abstandsflächenregelung nicht mehr einhaltbar sei und nur so die vorgefundene, bestehende Verdichtung des Dorfgebiets möglich sei (vgl. Abweichungsanträge vom 15.12.2020, Bl. 16 und Bl. 18 der Bauakte). Anders als der Bevollmächtigte des Antragstellers meint, liegt hier zur Überzeugung der Kammer, die diese aus den in den Behördenakten enthaltenen Liegenschaftskatasterauszügen und einem Luftbild gewinnen konnte, eine atypische Fallgestaltung vor. Die Besonderheit des Falles, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber dem Grundstück des Antragstellers rechtfertigt, ergibt sich jedenfalls aus der Lage der betroffenen Grundstücke und der hierauf errichteten (Wohn-) Gebäude, insbesondere dem Zuschnitt des Baugrundstücks und dessen Umgriff im südlichen Altortbereich des Marktes F … Im fraglichen Bereich, sowohl im engeren Umgriff des Baugrundstücks, nämlich zwischen der H.straße (im Norden), der …gasse (im Westen) und der …gasse im Süden und Osten) als auch im weiteren Umgriff des Baugrundstücks, also südlich der H1.straße, zwischen dem … Tor (im Westen) und dem …ltor (im Osten) sowie dem Main (im Süden) halten nur vergleichsweise wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstandsflächen des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO ein. Dies gilt gerade auch für die an das Baugrundstück im Osten und Westen angrenzenden Anwesen, so auch das des Antragstellers. Die Atypik kann sich aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation ergeben (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – NVwZ-RR 2015, 365; zusammenfassend: BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, 84). Diese besondere städtebauliche Situation kann begründet sein in der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern. Diese Rechtsprechung bezieht sich grundsätzlich auf Bereiche, die durch eine enge, grenzständige oder grenznahe Bebauung geprägt sind, und in denen die geltenden Abstandsflächen generell nicht eingehalten werden können (BayVGH, B.v. 5.4.2012 – 15 CS 11.2628 – BeckRS 2012, 52948; B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, 84; B.v. 22.9.2006 – 25 ZB 01.1004 – BeckRS 2007, 24316). Eine derartige Situation in einem historischen Ortskern in einer Lage, die geprägt ist durch enge, grenzständige oder grenznahe Bebauung, in der die geltenden Abstandsflächen generell nicht eingehalten werden können, ist vorliegend aber gegeben.
2.1.4. Anders als der Bevollmächtigte des Antragstellers meint, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Abweichungen vorliegend zu bejahen. Denn die erteilten Abweichungen erweisen sich unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar.
Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz – wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme – eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (Dhom, in Simon/Busse, BayBO, Art. 63 Rn. 31 ff.). Werden die nachbarlichen Interessen nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt, dann wird der Nachbar auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Vorschrift, von der die Abweichung zugelassen wird, nicht dem Nachbarschutz dient. Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Insofern entspricht es gesicherter Auffassung‚ dass der Zweck des Abstandsflächenrechts darin besteht‚ eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für notwendige Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern (z.B. BayVGH‚ U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A.1224 – BayVBl 1986‚ 143; U.v. 14.12.1994 – 26 B 93.4017 – VGHE n.F. 48‚ 24). Dies kann bereits unmittelbar den gesetzlichen Vorschriften des Art. 6 Abs. 5 Satz 3 Halbs. 2‚ Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 BayBO entnommen werden.
Eine Beeinträchtigung der geschützten Nachbarbelange Belichtung, Belüftung und Besonnung durch die beiden Dachterrassen ist nach Überzeugung der Kammer von vorneherein auszuschließen, da es zu keiner Erhöhung der Außenwände des Wohnhauses des Beigeladenen kommt. Das Landratsamt W. hat sich im Rahmen der Erteilung der Abweichung umfassend mit der Situation auch der betroffenen Nachbarn und den vg. Belangen in sachgerechter, auf den Einzelfall bezogener Weise auseinandergesetzt. Ermessensfehler sind insoweit nicht erkennbar. Im Einzelnen:
Die Baugenehmigungsbehörde hat im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt, dass in Bezug auf die Dachterrasse im Obergeschoss Richtung Westen auf dem Nachbargrundstück en traufseitiges Bestandsgebäude in einem Abstand von 80 cm zur Grenze stehe und insoweit eine Brandwand mit brandschutztechnischer Festverglasung genehmigt sei. Belichtung, Belüftung und Besonnung seien unproblematisch, da die Terrasse auf dem Keller 3 aufsitze, der Freibereich selbst verursache keine gravierende Verschärfung der Verschattungssituation. Nach Norden komme zum Grundstück des Antragstellers eine Abstandsfläche mit den Maßen von 3,43 m x 4,24 m zu liegen. Hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung werde der Antragsteller durch die Abstandsfläche nicht schlechter gestellt, da er in diesem Bereich über einen Bestandsbalkon verfüge, der bis an die Grundstücksgrenze heranreiche. Da der Balkon des Antragstellers über dem Niveau der geplanten Dachterrasse liege, komme es durch die Umnutzung zu keiner Verschlechterung für den Antragsteller. Ein Schattenwurf gehe im überwiegenden Maße vom bereits bestehende Gebäudeteil (Keller 3) aus, der für sich gesehen aber keine Auswirkungen auf den Balkon des Antragstellers habe. Hinsichtlich der Dachterrasse im Dachgeschoss werde – so die Baugenehmigungsbehörde – Richtung Westen ein Abstand von 2,00 m eingehalten. Es werde somit der Abstand gewahrt, der auch von einem abstandsflächenfreien Balkon mindestens einzuhalten wäre. Gemäß den genehmigten Planunterlagen befänden sich in dem Nachbargebäude an dieser Stelle Aufenthaltsräume. Öffnungen, eine Dachgaube oder Ähnliches seien in diesem Bereich nicht vorhanden. Die grenznahe Wand mit einem Abstand von 80 cm sei insgesamt als Brandwand beauflagt. Hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung würden keine gegenteiligen Einwirkungen auf den Nachbarn erwartet. Da eine öffnungslose Wand vorhanden sei, würden noch nicht einmal Verschattungen erwartet. Richtung Norden bestünden schon deshalb hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung keine Bedenken, da die Dachterrasse einen Abstand von 3,98 m zur Nachbargrenze einhalte. Die Kammer teilt diese Einschätzung vollinhaltlich, zumal von Antragstellerseite auch im gerichtlichen Verfahren nicht das Geringste vorgebracht wird, was dafür sprechen könnte, dass die notwendige Belichtung der Wohn- und Aufenthaltsräume im Anwesen des Antragstellers beeinträchtigt würde. Beeinträchtigungen der Belüftung und Besonnung des Anwesens des Antragstellers sind genauso wenig ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden.
Soweit sich die Antragstellerseite auf eine Beeinträchtigung des Wohnfriedens durch die östlich bzw. südlich ihres Anwesens geplanten beiden Dachterrassen beruft und auch vorbringt, dass hierdurch ein Näheverhältnis geschaffen werde, das unzumutbar sei, und insbesondere die Terrasse im Dachgeschoss dazu führe, dass beide Nachbarn quasi nebeneinander säßen, kann dies dem Antrag ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen. Die Kammer neigt zwar der Auffassung zu‚ dass über die vg. Zwecke hinaus auch der sog. Wohnfrieden bzw. Sozialabstand als Zweck des Abstandsflächenrechts anzuerkennen ist (vgl. zum Streitstand: BayVGH, U.v. 31.7.2020 – 15 B 19.832 – juris Rn. 22; B.v. 17.7.2018 – 9 ZB 15.2458 – juris Rn. 10).
Allerdings lässt sich vorliegend – wie das Landratsamt zutreffender Weise ausgeführt hat – eine Verschlechterung der Situation nicht feststellen. Auch insoweit hat sich das Landratsamt W. im Rahmen der Erteilung der Abweichung umfassend mit diesem Belang auseinandergesetzt. So hat es hinsichtlich der Dachterrasse im Obergeschoss in überzeugender Weise dargelegt, dass hinsichtlich des sozialen Wohnfriedens eine Abweichung Richtung Westen auch als nachbarverträglich angesehen werde, weil die geplante Dachterrasse unter dem Niveau der Festverglasung liege, so dass keine erhöhte Einsichtnahme auf das Nachbargrundstück gegeben sei. Nach Norden ergebe sich ebenfalls keine Verschlechterung, da hier das Anwesen des Antragstellers über einen Bestandsbalkon verfüge, der bis an die Grundstücksgrenze heranreiche. Da der Balkon des Antragstellers über dem Niveau der geplanten Dachterrasse liege, sei hinsichtlich des Wohnfriedens davon auszugehen, dass auch insoweit keine Verschlechterung zuungunsten des Nachbarn zu befürchten sei. Hinsichtlich der Dachterrasse im Dachgeschoss könne der soziale Wohnfrieden in diesem Bereich nicht gestört sein, weil eine Einsichtnahmemöglichkeit trotz der exponierten Lage nicht gegeben sei. Zum Grundstück des Antragstellers Richtung Norden komme die Abstandsfläche der geplanten Dachterrasse mit einer Tiefe von 2,05 m bei einer Breite von 1,86 m auf dem Baugrundstück zu liegen (gerundete Fläche von 3,81 m²). Aufgrund der Geometrie und der Größe der Dachterrasse könne von einer lediglich geringfügigen Nutzung ausgegangen werden. Eine Einsichtnahme auf das nachbarliche Grundstück sei zwar gegeben, allein durch das bestehende bodentiefe Fenster sei aber eine solche ohnehin schon möglich.
Nach allem ist die Kammer der Überzeugung, dass der soziale Wohnfrieden durch die Errichtung der beiden Dachterrassen nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. In dicht bebauten Bereichen – wie hier gegeben – sind gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten üblich und regelmäßig hinzunehmen. Der Antragsteller konnte insbesondere nicht darauf vertrauen, dass der Beigeladene sein Bestandsgebäude nicht entsprechend der baulichen Entwicklung im inneren Bereich erweitern würde. Dass in solch einer städtebaulich beengten Situation wechselseitige Blickbeziehungen und Einblickmöglichkeiten in die Nachbargrundstücke, auf dort vorhandene Terrassen und Balkone oder gar Wohnungen bestehen, ist letztlich zwangsläufig und daher von den Betroffenen hinzunehmen. Wer sich dadurch gestört fühlt, muss Maßnahmen in seinem eigenen Wohnbereich ergreifen, um sich dagegen zu schützen (BayVGH, Bv. 6.6.2014 – 9 CS 14.662 – juris Rn 15). Eine besondere Situation, in der in gravierendem, unerträglichen Maß in die Rechte des Antragstellers eingegriffen würde, ist nicht erkennbar. Vielmehr handelt es sich um eine durchaus übliche Wohnsituation.
Bei Berücksichtigung der Gesamtsituation ist auch ein die Belange des Antragstellers überwiegendes Bauherreninteresse gegeben. Hierzu zählt nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch die Schaffung von zeitgemäßem Wohnraum (BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 5). Das Interesse des Beigeladenen an der Schaffung von Wohnraum, also an der sinnvollen wirtschaftlichen Verwertung des vorhandenen Grundstücks unter Einhaltung des bauplanungsrechtlich zulässigen Rahmens überwiegt das Interesse des Antragstellers, hiervon verschont zu bleiben, zumal eine maßgebliche Verschlechterung der (Belichtungs-) Situation durch das Vorhaben nicht zu erwarten ist (s.o.) und die bestehende Situation gerade auch dadurch geprägt ist, dass der Antragsteller die Belichtung, Besonnung und Belüftung seines Wohnanwesens und hier insbesondere der nach Süden ausgerichteten Terrasse weitestgehend nicht auf seinem Grundstück selbst, sondern über den Lichthof des Beigeladenen bewirkt.
Darüber hinaus folgt die Kammer dem von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Rechtssatz, dass sich ein Nachbar nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand (Art. 3 Satz 2 BayBO) zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2018 – 9 CS 18.543; U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131; VGH Mannheim, B.v. 29.9.2010 – 3 S 1752/10; alle juris). Nach diesem Maßstab stünde dem Antragsteller das geltend gemachte Abwehrrecht auch dann nicht zu, wenn die mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugelassene Abweichung nicht den Anforderungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO entsprechen würde.
2.2. Auch aus bauplanungsrechtlichen Gründen spricht nach summarischer Prüfung nichts für einen Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich nach § 34 BauGB, da für das Baugrundstück kein qualifizierter Bebauungsplan existiert und es auch nicht dem Außenbereich nach § 35 BauGB zuzuweisen ist.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang be-bauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Kammer hat keinerlei Bedenken, dass sich das Vorhaben nach den vg. Kriterien nicht einfügen würde, zumal von Antragstellerseite insoweit nichts vorgebracht wurde.
Im Übrigen werden Nachbarrechte durch einen (objektiven) Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nur dann verletzt, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ enthaltene (drittschützende) Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Ihm kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Antragsteller aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 35 Rn. 80).
Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Bauvorhaben des Beigeladenen in seinen Auswirkungen auf das Grundstücke des Antragstellers im Ergebnis nicht als rücksichtslos. Dass das Vorhaben des Beigeladenen dem Antragsteller gegenüber erdrückende Wirkung entfalten würde, kann nicht gesehen werden. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots kann aber auch nicht unter dem – von Antragstellerseite vorgebrachten – Aspekt der Einsichtnahme in sein Grundstück bzw. Gebäude gesehen werden. Vielmehr muss der Antragsteller die Möglichkeit der Einsichtnahme in sein Grundstück hinnehmen. Das öffentliche Baurecht vermittelt keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Der Nachbar hat insbesondere keinen Rechtsanspruch darauf, dass Räume, Fenster, Balkone und Terrassen des Bauvorhabens so angeordnet werden, dass sein Grundstück nicht oder nur eingeschränkt eingesehen werden kann (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Stand 139. EL Okt. 2020, Art. 66 Rn. 440). Das bauplanungsrechtliche Gebot des Einfügens bezieht sich nur auf die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten städtebaulichen Merkmale der Art der baulichen Nutzung, des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche. Die Möglichkeit der Einsichtnahme ist – als nicht städtebaulich relevant – davon nicht angesprochen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72.89 – juris Rn. 7 und B.v. 3.1.1983 – 4 B 224.82 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 15 CS 12.1852 – juris Rn. 11). Das Gebot der Rücksichtnahme bietet in aller Regel keinen Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten auf Grundstücke (vgl. BayVGH, B.v. 6.8.2010 – 15 CS 09.3006 – juris Rn. 28; OVG Schleswig, B.v. 16.10.2009 – 1 LA 42/09 – juris Rn. 11; VGH Mannheim, B.v. 3.3.2008 – 8 S 2165/07 – juris Rn. 8). Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall, in dem Einblicksmöglichkeiten in das Nachbargrundstück, die durch ein neues Bauvorhaben geschaffen werden, unter besonders gravierenden Umständen als Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme angesehen werden, sind hier nicht ersichtlich, zumal die – im Rahmen des vereinfachten Verfahrens nach Art. 80 Abs. 1 BayBO 1994, also ohne Prüfung der brandschutzrechtlichen Bestimmungen erteilte – Baugenehmigung vom 16. Oktober 1997 insoweit lediglich Büroräume und keine Wohnräume umfasst und den ausdrücklichen Hinweis enthält, dass die gesamten Außenwände des Nebengebäudes zur Fl.Nr. …7 gemäß Art. 32 Abs. 2 Nr. 1 BayBO als bauordnungsgemäße Brandwände zu erstellen seien.
3. Nachdem die Klage des Antragstellers nach allem voraussichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben wird, überwiegt das Interesse des Beigeladenen an einer baldigen Ausnutzung der Baugenehmigung das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Somit konnte der Antrag keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Da sich der Beigeladene nicht durch eigene Antragstellung am Prozesskostenrisiko beteiligt hat, entsprach es nicht der Billigkeit, seine eventuell entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen dem Antragsteller aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 GKG. Nachbarklagen werden nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 mit 7.500,00 EUR bis 15.000,00 EUR im Hauptsacheverfahren bewertet. Die Kammer hält im vorliegenden Fall in der Hauptsache einen Streitwert von 7.500,00 EUR als angemessen, der für das vorliegende Sofortverfahren zu halbieren ist (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs).


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