Baurecht

Beseitigungsanordnung für Markisenanlage (Freischankflächenüberdachung), Ermessen, Gleichheitsgrundsatz, Verhältnismäßigkeit, „…gärten“

Aktenzeichen  M 8 K 20.4257

Datum:
28.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11113
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 76 S. 1
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.     
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 17. August 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Die angefochtene Beseitigungsanordnung unter Ziffer 1 des Bescheids erweist sich insgesamt als rechtmäßig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen liegen vor, Ermessensfehler sind nicht auszumachen.
Nach Art. 76 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
Eine Beseitigungsanordnung kann ergehen, wenn die zu beseitigende Anlage sich in ihrem Bestand als formell und materiell illegal darstellt (BayVGH, B. v. 20.01.2003 – 20 ZB 99.3616 – juris Rn. 3).
1.1. Die zu beseitigende Anlage ist formell illegal, da insoweit keine Baugenehmigung vorliegt.
Grundsätzlich bedarf die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von baulichen Anlagen der Baugenehmigung, soweit sich aus den Vorschriften der Art. 56 bis 58, 72 und 73 BayBO nichts anderes ergibt, Art. 55 Abs. 1 BayBO.
Die streitgegenständliche Markisenanlage bedarf einer bauaufsichtlichen Erlaubnis nach Art. 59 BayBO. Sie erfüllt aufgrund ihrer Tiefe von ca. 6,0 m nicht die Voraussetzungen, welche an verfahrensfreie Terrassenüberdachungen nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 g) BayBO gestellt werden. Überdies ist darauf hinzuweisen, dass auch ein verfahrensfreies Bauvorhaben vorliegend aufgrund der Überschreitung der festgesetzten Baulinie zumindest einer isolierten Befreiung bedürfen würde (Art. 63 Abs. 3 BayBO).
1.2. Da die Anlage auch nicht genehmigungsfähig ist, weil sie materiellem Baurecht widerspricht, können auf andere Weise rechtmäßige Zustände nicht hergestellt werden. Die streitgegenständliche Markisenanlage wurde im Vorgarten komplett außerhalb des Bauraumes vor der Baulinie errichtet. Die Voraussetzungen für die aufgrund dessen nach § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB erforderliche Befreiung liegen nicht vor. Das Vorhaben berührt die Grundzüge der Planung.
Zweifel an der Wirksamkeit des gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG übergeleiteten Baulinienplans bestehen nicht. Die Festsetzungen des Baulinienplans sind für die mit dem Hauptbaukörper baulich verbundene Markisenanlage auch beachtlich (vgl. ausführlich zu übergeleiteten Baulinienplänen: VG München, U.v. 25.5.2009 – M 8 K 08.4972, n.V.; nachfolgend: BayVGH, B.v. 5.10.2011 – 2 ZB 09.1772 – juris). Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Anlage bestimmt sich daher hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans – hier der Baulinie – befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung und des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Alle Alternativen des § 31 Abs. 2 BauGB setzen als „vor die Klammer gezogenes“ Tatbestandsmerkmal voraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Dieses Erfordernis soll verhindern, dass die Befreiung als Instrument genutzt wird, um eine der Gemeinde vorbehaltene Änderung bauplanerischer Festsetzungen mit dem dafür vorgesehenen Verfahren zu ersetzen. Die Befreiung wirkt etwa dann in diesem Sinne als unzulässiger Planersatz, wenn sie aus Gründen erteilt wird, die in gleicher Weise eine Vielzahl anderer von der Festsetzung betroffener Eigentümer anführen könnten (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 1 ZB 17.2289 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 2.11.2006 – 8 S 361/06 – juris Rn. 30).
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Die Grundzüge der Planung werden durch die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption gebildet (vgl. BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30). Entscheidend ist insofern, ob die Befreiung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30).
Die streitgegenständliche Baulinie verfolgt zweifellos das städtebauliche Konzept eines von Bebauung freien Streifens – Vorgarten – zwischen Straße und Häusern (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 22.9.2003 – 2 ZB 03.1973 – BeckRS 2003, 30749) sowie die städtebaulich-gestalterische Funktion, eine einheitliche Häuserflucht entlang der Straße zu erhalten.
Dieses Planungsziel ist bisher verwirklicht worden. Das Gericht konnte sich bei Einnahme des Augenscheins überzeugen, dass in dem durch den Bebauungsplan vorgesehenen Vorgartenbereich entlang der H1. straße zwischen H2. Straße und H1. straße keine Vorbauten zu finden sind. Die Erteilung einer Befreiung für die Überschreitung der Baulinie über den gesamten Vorgartenbereich hinweg bis zur Straßenbegrenzung hätte erhebliche Bezugsfallwirkung und würde dem städtebaulichen Konzept tiefgreifend widersprechen. Insbesondere durch die bauliche Verbindung mit dem Gebäude wirkt die massive Markisenanlage wie eine erdgeschossige Erweiterung des Hauptbaukörpers. Da weder eine Sondersituation auf dem streitgegenständlichen Grundstück erkennbar ist, noch die Überschreitung als geringfügig angesehen werden kann, würde erstmals ein erheblicher Eingriff in die planerische Grundkonzeption erfolgen.
1.3. Die Beklagte hat bei dem Erlass der streitgegenständlichen Verfügung rechtsfehlerfrei von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht, Art. 76 BayBO.
Gemäß § 114 Satz 1 VwGO prüft das Verwaltungsgericht bei Ermessensentscheidungen nur, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Das Verwaltungsgericht hat insoweit nur eine Rechtmäßigkeitsprüfung vorzunehmen, darf aber die behördlichen Ermessenserwägungen nicht durch eigene ersetzen.
1.3.1. Nach Art. 40 BayVwVfG ist das Ermessen gemäß dem Zweck der Ermächtigung auszuüben. Es entspricht regelmäßig dem pflichtmäßigen Ermessen, die Beseitigung formell und materiell rechtswidriger Anlagen anzuordnen (BVerwG, U.v. 11.04.2002 – 4 C 4/01 – BVerwGE 116, 169-175 = juris Rn. 25; BayVGH, U.v. 6.2.1908 – 15 B 1048/79 – BayVBl 1981, 89; Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 76 Rn. 213 m.w.N.). Bei der Ermessensentscheidung, ob eine im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtete bauliche Anlage zu beseitigen ist, genügt es daher regelmäßig, dass die Behörde zum Ausdruck bringt, der beanstandete Zustand müsse wegen seiner Rechtswidrigkeit beseitigt werden (BayVGH, B.v. 18.05.2012 – 1 ZB 11.1210 – juris Rn. 14). Die Behörde darf allerdings Umstände, die vom Regelfall abweichen, nicht unbeachtet lassen (BayVGH, U.v. 9.8.1984 – 26 B 82 A. 692 – BayVBl. 85, 751).
Daran gemessen sind die von der Beklagten im Bescheid angestellten Ermessenserwägungen, welche mit Schreiben vom 26. August 2020 in zulässiger Weise ergänzt wurden (vgl. zur grundsätzlichen Möglichkeit, Ermessenserwägungen bereits im Verwaltungsverfahren zu ergänzen: Geis in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: August 2021, § 40 Rn. 113) nicht zu beanstanden.
Die Beklagte hat sich bei ihrer Ermessensausübung mit allen relevanten Gesichtspunkten auseinandergesetzt und das private Interesse der Klägerin an der Beibehaltung der streitgegenständlichen Einhausung mit dem öffentlichen Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände abgewogen, wobei sie Letzterem den Vorrang einräumte. Hiergegen ist nichts einzuwenden. Insbesondere durfte die Beklagte berücksichtigen, dass die Klägerin die genehmigte Freischankfläche weiterhin betreiben kann, ggf. unter Einsatz von Sonnenschirmen.
Da das öffentliche Baurecht grundstücksbezogen ist, werden die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen regelmäßig keine oder nur eine nachrangige Rolle im Rahmen der Ermessensentscheidung spielen (Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 76 Rn. 210 m.w.N.). Auch erhebliche finanzielle Verluste des Betroffenen aufgrund der Beseitigung hindern daher den Erlass der Anordnung nicht (Molodovsky/Famers/Waldmann in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2021, Art. 76 Rn. 68), denn wer ohne erforderliche Genehmigung eine Anlage errichtet, hat das Risiko einer baurechtswidrigen Ausführung selbst zu tragen (vgl. BVerwG, B.v. 30.8.1996 – 4 B 117/96 – BRS 58, 252). Eine besondere, vom Regelfall abweichende Schutzbedürftigkeit der Klägerin ist auch bei Berücksichtigung der „Corona-Pandemie“ nicht zu erkennen, zumal die Klägerin bereits seit mehreren Jahren unberechtigt Nutzungen aus der baurechtswidrigen Anlage gezogen hat.
1.3.2. Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist ferner weder willkürlich noch unverhältnismäßig oder verstößt gegen den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung.
Aus dem Gleichbehandlungsgebot bzw. dem Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) folgt, dass die Behörde grundsätzlich auch im Ermessensbereich zu gleichmäßiger Behandlung gleich gelagerter Fälle verpflichtet ist. Gleichheitssatzwidrig ist eine Beseitigungsanordnung dann, wenn sie als systemlos oder willkürlich bezeichnet werden muss, weil die Behörde ohne vernünftigen, aus der Natur der Sache folgenden oder sonst wie einleuchtenden Grund im wesentlichen gleiche Sachverhalte ungleich behandelt (BayVGH, U.v. 5.7.1982 – 72 XV 77 – BayVBl. 1983, 243).
Ein Verstoß der Beklagten gegen diesen Grundsatz ist jedoch nicht erkennbar. Gleichheitswidrig geduldete, mit der streitgegenständlichen Anlage vergleichbare Vorbauten waren beim Augenschein nicht auszumachen. Ferner gab die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung an, dass die von der Klägerin im Verfahren als Bezugsfälle in der „näheren Umgebung“ genannten Überdachungen von Freischankflächen zwischenzeitlich aufgegriffen worden seien und eine bauaufsichtliche Prüfung stattfinde. Der erkennenden Kammer ist überdies bekannt, dass die Beklagte in vergleichbaren Fällen regelmäßig bauaufsichtlich einschreitet.
Eine Selbstbindung der Verwaltung bzw. ein Verstoß gegen das Willkürverbot in Bezug auf die im Rahmen der „Corona“-Pandemie im Stadtgebiet der Beklagten eingeführten sogenannten „…gärten“ ist überdies nicht zu erkennen. Bei den sog. „…gärten“ handelt es sich um temporäre Einrichtungen. Ob der Betrieb einer genehmigten Freischankfläche grundsätzlich mit dem Betrieb eines solchen „…gartens“ vergleichbar ist, kann vorliegend jedoch dahinstehen. Der Klägerin wurde nämlich nicht der Betrieb der Freischankfläche bzw. des Wirtsgartens untersagt, sondern lediglich die Beseitigung der ohne Genehmigung errichteten Einhausung der Freischankfläche, also die Entfernung eines vor die Baulinie tretenden Bauteils, aufgegeben. Damit liegt schon kein vergleichbarer Fall vor.
Die Beseitigungsanordnung ist auch verhältnismäßig. Die Forderung, ein keinen formellen Bestandsschutz genießendes und materiell baurechtswidriges Bauwerk zu beseitigen, verstößt in aller Regel nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 76 Rn. 238 m.w.N.). So liegt es auch hier. Ein milderes, weniger eingreifendes Mittel zur Herstellung rechtmäßiger Zustände ist vorliegend nicht erkennbar. Der durch die Beseitigung auf Seiten der Klägerin zu erwartende Schaden bzw. die befürchteten finanziellen Einbußen stehen nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Zweck, rechtmäßige Zustände herzustellen, zumal die Klägerin die Freischankfläche an sich uneingeschränkt im Rahmen der Genehmigung weiterhin nutzen kann.
2. Das auf der Grundlage der Art. 19, 29, 31, 36 VwZVG angedrohte Zwangsgeld begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Insbesondere ist die Zwangsgeldhöhe mit 1.000,- Euro im Hinblick auf den gesetzlichen Rahmen nach Art. 31 Abs. 2 VwZVG von mindestens 15,- und höchstens 50.000,- Euro unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses der Klägerin an dem Unterbleiben der Beseitigung nicht ansatzweise zu beanstanden. Gleiches gilt für die gesetzte Frist von einem Monat nach Unanfechtbarkeit der Beseitigungsanordnung, Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VwZVG.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergeht gemäß § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.


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