Baurecht

Beseitigungsanordnung mit Zwangsgeldandrohung – Gebäudegleiche Wirkung

Aktenzeichen  M 8 K 15.4746

Datum:
28.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO BayBO Art. 76 S. 1
BayBO BayBO Art. 2 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Art. 6 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 5, Abs. 9 Nr. 1, Art. 63 Abs. 1
VwZVG VwZVG Art. 29, Art. 31 Abs. 2, Art. 36

 

Leitsatz

1 Eine Überdeckung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 BayBO muss auf eine gewisse Dauer angefügt sein und eine bestimmte Festigkeit und Verbindung mit den Trägern haben. Voraussetzung für das Vorliegen einer Überdachung ist daher eine Abgrenzung zum Freiraum und eine Abschirmung gegenüber Witterungseinflüssen. (red. LS Andreas Decker)
2 Bei einer Markise, die auf einer festen, mit dem Erdboden verbundenen Konstruktion angebracht ist, handelt es sich um eine Überdachung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 BayBO, auch wenn diese zeitweilig witterungsbedingt angebracht und wieder entfernt werden kann. (red. LS Andreas Decker)
3 Ob einer Anlage oder Einrichtung gebäudegleiche Wirkungen im Sinn von Art. 6 Abs. 1 S. 2 BayBO zukommt, lässt sich nicht allgemein, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des Abstandsflächenrechts bestimmen. (red. LS Andreas Decker)
4 Die Gewährung einer Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen setzt eine atypische Grundstückssituation voraus. (red. LS Andreas Decker)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Die Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 29. September 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
I. Die angefochtene Beseitigungsanordnung unter Ziffer 1 des Bescheids erweist sich insgesamt als rechtmäßig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Beseitigungsanordnung liegen vor.
Nach Art. 76 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
Eine Beseitigungsanordnung kann ergehen, wenn die zu beseitigende Anlage sich in ihrem Bestand als formell und materiell illegal darstellt (BayVGH, B. v. 20.01.2003 – 20 ZB 99.3616 – juris Rn. 3).
Gemessen an diesen Vorgaben sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Beseitigungsanordnung erfüllt. Die nicht verfahrensfreie Holzbetonkonstruktion an der westlichen Grundstücksgrenze des klägerischen Grundstücks ist nicht genehmigt und damit formell rechtswidrig und widerspricht auch dem materiellen Recht, so dass nicht auf andere Weise – durch Erteilung einer Baugenehmigung – rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
1. Grundsätzlich bedarf die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von baulichen Anlagen der Baugenehmigung, soweit sich aus den Vorschriften der Art. 56 bis 58, 72 und 75 nichts anderes ergibt. Die Grenzbebauung an der westlichen Grundstücksgrenze bedarf als Teil eines genehmigungspflichtigen Gesamtbauvorhabens – Neuerrichtung eines Doppelhauses – einer Baugenehmigung.
Für die errichtete Holzbetonkonstruktion an der Grundstücksgrenze liegt eine bauaufsichtliche Genehmigung nicht vor, da mit der (Tektur-)Baugenehmigung vom 22. April 2015 nur eine Grenzbebauung mit einer Gesamtlänge von 9 m genehmigt wurde. Für eine 12 m lange Holzbetonkonstruktion, bestehend aus einem Carport und einem Freisitz an der westlichen Grundstücksgrenze, liegt dagegen keine entsprechende Baugenehmigung vor.
Der Argumentation der Klägerseite, bei dem errichteten Freisitz und Carport handele es sich nicht um eine einheitliche bauliche Anlage, weshalb diese jeweils für sich genommen zu betrachten sei, kann nicht gefolgt werden, da sich die Grenzbebauung sowohl optisch als auch konstruktiv als eine Einheit darstellt, die nicht in zwei voneinander unabhängige Teile aufgeteilt werden kann.
Daher ist die bestehende 12 m lange Grenzbebauung als eine einheitliche – genehmigungspflichtige – Anlage zu betrachten.
2. Die streitgegenständliche Grenzbebauung widerspricht jedenfalls insoweit dem materiellen Baurecht, als sie die Länge von 9 m überschreitet. Sie verstößt gegen die Vorschriften des Bauordnungsrechts und ist damit nicht genehmigungsfähig.
Die an der Grundstücksgrenze errichtete Holzbetonkonstruktion mit einer Länge von 12 m unterliegt nicht der Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO und ist damit abstandsflächenrelevant. Da die erforderlichen gesetzlichen Abstandsflächen nicht auf dem Grundstück des Klägers eingehalten werden können bzw. keine entsprechende Abstandsflächenübernahme von Seite des Eigentümers des westlich angrenzenden Grundstücks besteht und auch kein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO gegeben ist, kann eine Baugenehmigung für die bestehende Grenzbebauung nachträglich nicht erteilt werden.
2.1 Gemäß Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO sind in den Abstandsflächen der Gebäude ohne eigene Abstandsfläche Garagen einschließlich deren Nebenräume mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 9 m zulässig. Da vorliegend die Gesamtlänge von 9 m überschritten wird, ist die Privilegierungsnorm des Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO nicht anzuwenden.
Die Abstandsflächenrelevanz der bestehenden Grenzbebauung scheidet vorliegend auch nicht etwa deswegen aus, da es sich dabei um eine nicht überdeckte Konstruktion handelt.
Zwar regelt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO, dass vor den Außenwänden von oberirdischen Gebäuden grundsätzlich Abstandsflächen einzuhalten sind. Ein Gebäude im Sinne des Art. 6 Abs. 1 BayBO ist nach der Begriffsbestimmung des Art. 2 Abs. 2 BayBO eine selbständig benutzbare, überdeckte bauliche Anlage (vgl. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayBO), die von Menschen betreten werden kann. Eine Überdeckung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 BayBO muss jedoch auf eine gewisse Dauer eingefügt sein und eine bestimmte Festigkeit und Verbindung mit den Trägern haben. Voraussetzung für das Vorliegen einer Überdachung ist daher eine Abgrenzung zum Freiraum und Abschirmung gegenüber Witterungseinflüssen (vgl. vgl. Dirnberger in: Simon/Busse, BayBO, 122. EL Januar 2016, Art. 2 Rn. 246; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 16.2.2016 – OVG 10 N 22.13 – juris Rn. 8). Bei einer Markise, die auf eine feste, mit dem Erdboden verbundene Konstruktion angebracht ist, handelt es nach der Rechtsprechung um eine Überdachung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 BayBO, auch wenn diese zeitweilig, witterungsbedingt angebracht und wieder entfernt werden kann, sodass ein mit der Markise versehener Freisitz vorliegend abstandsflächenrelevant wäre (vgl. OVG NRW, U.v. 16.5.1997 – 7 A 6272/95 – juris Rn. 12 mit Verweis auf BayVGH, U.v. 9.10.1986 – 26 B 84 A.2610 – BRS 46 Nr. 133).
Jedoch auch wenn der streitgegenständliche Freisitz im Anschluss an den 9 m langen Carport ohne Überdachung belassen wird, ist die Abstandflächenrelevanz der Gesamtanlage an der westlichen Grundstücksgrenze zu bejahen.
Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist die Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächen gegenüber Gebäuden und Grundstücksgrenze auch vor anderen Anlagen, von denen gebäudegleiche Wirkungen ausgehen, erforderlich. Ob einer Anlage oder Einrichtung gebäudegleiche Wirkungen im Sinn von Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO zukommen, lässt sich nicht allgemein, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des Abstandsflächenrechts bestimmen. Von Bedeutung sind dabei nicht nur die Größe der Anlage, sondern etwa auch das Material, aus dem sie besteht, sowie ihre Zweckbestimmung. Erforderlich ist eine Würdigung der mit den Abstandsflächenbestimmungen verfolgten Zielsetzungen, wie bspw. Gewährleistung einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung eines Grundstücks als Grundlage für gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Verhinderung der Brandübertragung und Wahrung des Wohnfriedens (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2015 – 2 ZB 13.2522 – juris).
Bei der streitgegenständlichen baulichen Anlage an der Grundstücksgrenze, die aus Sicht des Gerichts als eine einheitliche bauliche Anlage zu beurteilen ist, handelt es sich um eine massive Konstruktion in Form eines Holzgerüstes, das auf fest mit dem Erdboden verbundenen Betonsäulen gründet. Die Konstruktion verfügt über eine Gesamtlänge von 12 m und eine Höhe von 3 m und tritt optisch deutlich in Erscheinung, wie insbesondere aus den dem Gericht vorliegenden Satellitenbildern (vgl. www.google.de/maps) ersichtlich ist. Aufgrund der aus quer- und längsverlaufenden Holzlatten bestehenden Überdachungskonstruktion entsteht der Eindruck einer massiven Einhausung. Zwar ist diese Überdachungskonstruktion nicht geeignet, gegen Witterungseinflüsse zu schützen. Sie wirkt jedoch wie eine 12 m lange Einhausung direkt an der Grundstücksgrenze, die insbesondere gegenüber dem westlichen Nachbar eine gebäudegleiche Wirkung hat. Wegen der Massivität der Gesamtanlage sind Belange der Belichtung und Belüftung vorliegend beeinträchtigt.
Im Übrigen erscheint der Vortrag der Klägerseite, es sei keine Überdachung des Freisitzes geplant, insoweit nicht nachvollziehbar, als im südwestlichen Bereich der Holzkonstruktion eine Dachrinne zur Entwässerung des Dachbereichs angebracht ist.
2.2 Die vorliegend gemäß Art. 6 Abs. 1 BayBO anfallenden Abstandsflächen können auf dem klägerischen Grundstück nicht eingehalten werden, da die Anlage direkt an der Grundstücksgrenze errichtet wurde. Da auch keine Abstandsflächenübernahme mit den erforderlichen Abmessungen von 12 m x 3 m besteht, ist einen Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht vorliegend zu bejahen.
2.3 Schließlich steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen zu, da es bereits an der erforderlichen atypischen Grundstückssituation fehlt (vgl. BayVGH, B.v. 26.03.2015 – 2 ZB 13.2395). Denn soweit ein sinnvolles Vorhaben auch dergestalt verwirklicht werden kann, dass gleichwohl die erforderlichen Abstandsflächen eingehalten werden, kann eine Atypik nicht mehr angenommen werden. Für die Frage der Atypik ist vielmehr von Bedeutung, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks – auch unter den Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO – möglich und zumutbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.8.2011 – 15 CS 11.1640 – juris). Hier könnte der Abstandsflächenverstoß bereits durch die Kürzung der Grenzbebauung auf die nach Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO zulässigen 9 m ausgeräumt werden.
3. Die Beklagte hat bei dem Erlass der streitgegenständlichen Verfügung rechtsfehlerfrei von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht (Art. 76 BayBO). Sie hat sich bei ihrer Ermessensausübung mit allen relevanten Gesichtspunkten auseinandergesetzt und das private Interesse des Klägers an der Beibehaltung der streitgegenständlichen Grenzbebauung mit dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften – insbesondere unter Berücksichtigung des fehlenden Nachbareinverständnisses – abgewogen. Die von der Beklagten gefundene Ermessensentscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden.
4. Das auf der Grundlage der Art. 29, 31, 36 VwZVG angedrohte Zwangsgeld begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Insbesondere ist die Zwangsgeldhöhe von 2.000,- Euro im Hinblick auf den gesetzlichen Rahmen nach Art. 31 Abs. 2 VwZVG von mindestens 15,- und höchstens 50.000,- Euro unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses des Klägers an dem Unterbleiben der Beseitigung angemessen.
5. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergeht gemäß § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.


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