Baurecht

Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung nach der Bauweise

Aktenzeichen  M 9 K 16.2701

Datum:
16.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO BauNVO § 22 Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

1 Wenn die Bebauung in der näheren Umgebung, die den Maßstab bildet, Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand umfasst und diese Bauweise wegen ihrer Regellosigkeit auch keine abweichende Bauweise iSd § 22 Abs. 4 S. 1 BauNVO darstellt, fügen sich sowohl Gebäude mit als auch Gebäude ohne einen seitlichen Grenzabstand in die Umgebung ein. (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Einzelfall kann das Gebot der Rücksichtnahme entsprechend dem Rechtsgedanken des § 22 Abs. 3 BauNVO eine Abweichung von diesem Grundsatz erfordern, wenn die vorhandene Bebauung des Nachbargrundstücks es erfordert, dass das Interesse des Bauherrn an der Ausnutzung des Grenzanbaus aus Rücksicht auf die vorhandene Bebauung des Nachbarn zurückzutreten hat. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kostenschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kostengläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Die Klage ist zulässig. Nach dem Rechtsgedanken von Treu und Glaube entsprechend § 242 BGB ist eine Klage des Nachbarn unzulässig, wenn dieser z. B. durch Nichteinhaltung der Abstandsflächen seines Wohnhauses einen baurechtlichen Nachbarrechtsverstoß begangen hat und sich gegen entsprechende Verstöße seines Nachbarn wendet. Der Grundsatz von Treu und Glaube verbietet es, selbst gegen Baurecht zu verstoßen und von dem Nachbarn dennoch die Einhaltung baurechtlicher Vorschriften zu verlangen. Eine entsprechende Nachbarklage ist dann bereits nicht zulässig.
Im vorliegenden Fall ist keine solche Konstellation gegeben. Das Gericht geht nach dem Ergebnis des Augenscheins, den Lageplänen und den Ausführungen der Kläger, der Beklagten sowie der Bauherrenseite davon aus, dass bauplanungsrechtlich auf und an der Grenze gebaut werden darf, so dass bauordnungsrechtlich keine Abstandsflächen einzuhalten sind, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Da aus diesem Grunde kein wechselseitiger Nachbarrechtsverstoß durch den Grenzanbau vorliegt, sind baurechtliche Abwehrrechte nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen und die Klage zulässig (vgl. z. B. BayVGH, U. v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131).
2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Eine Verletzung des hier allein in Betracht kommenden Gebots der Rücksichtnahme gegenüber den Klägern durch den Vorbescheid vom 9. Mai 2016 liegt nicht vor.
Ein Nachbar, der sich gegen ein Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung oder der Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Dies kann zum einen der Fall sein, wenn das Bauvorhaben zwar den von der Umgebung gebildeten Rahmen wahrt, sich aber dennoch nicht in seine Umgebung einfügt, weil es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige in unmittelbarer Nähe vorhandene Bebauung fehlt. Dies kann zum anderen auch dann der Fall sein, wenn das Vorhaben deshalb rücksichtslos ist, weil es etwa aufgrund seiner Höhe oder Situierung ein Nachbargebäude unzumutbar verschattet (BayVGH, B. v. 24.8.2016 – 9 CS 15.1695). Im vorliegenden Fall sind die Kläger nur von den geplanten Gebäuden Haus Nr. 2 und Haus Nr. 2 a) betroffen. Nach dem Ergebnis des Augenscheins, den Lageplänen und der mündlichen Verhandlung befinden sich Haus Nr. 1 und Haus Nr. 3 sowie Haus Nr. 1 b) in ausreichender Entfernung zum Klägergrundstück, so dass weder im Hinblick auf die Größe noch die Nähe Anhaltspunkte für eine mögliche Beeinträchtigung nachbarlicher Belange bestehen.
Der Umstand, dass sowohl Haus Nr. 2 als auch Haus Nr. 2 a) unmittelbar an das ebenfalls grenzständig stehende Wohnhaus der Kläger angrenzen, stellt keinen planungsrechtlichen Verstoß gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene tatbestandliche Gebot des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung dar. Wenn wie hier die Bebauung in der näheren Umgebung, die den Maßstab bildet, Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand umfasst und diese Bauweise wegen ihrer Regellosigkeit auch keine abweichende Bauweise i. S. des § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO darstellt, fügen sich sowohl Gebäude mit als auch Gebäude ohne einen seitlichen Grenzabstand in die Umgebung ein.
3. Das Gebot der Rücksichtnahme erfordert keine Abweichung von diesem Grundsatz. Im Einzelfall kann das Gebot der Rücksichtnahme entsprechend dem Rechtsgedanken des § 22 Abs. 3 BauNVO eine Abweichung von diesem Grundsatz erfordern, wenn die vorhandene Bebauung des Nachbargrundstücks es erfordert, dass das Interesse des Bauherrn an der Ausnutzung des Grenzanbaus aus Rücksicht auf die vorhandene Bebauung des Nachbarn zurückzutreten hat (König in König/Röser/Stock, BauNVO, § 22 Rn. 26).
Die von den Klägern vorgetragene Verschattung durch den Grenzanbau aufgrund der Höhenunterschiede und Größe des geplanten Neubaus betrifft nicht Haus Nr. 2 a), das mit einer Wandhöhe von 3 m und einer Firsthöhe von ca. 4,20 m nicht höher als das Wohnhaus der Kläger mit einer Wandhöhe von ca. 3,80 m und einer Firsthöhe von 7,35 m ist. Der Anbau ist auch nicht aus sonstigen Gründen rücksichtslos, da das Gebäude der Kläger dort keine Fenster hat.
Auch Haus Nr. 2 verletzt nicht durch eine unzumutbare Verschattung das Gebot der Rücksichtnahme. Das geplante Mehrfamilienhaus ist zwar mit einer Grundfläche von 21,17 m auf 16,61 m, drei Vollgeschossen, einer Wandhöhe von ca. 6,31 m und einer Firsthöhe von ca. 12 m als Anbau deutlich massiver und höher. Eine unzumutbare Verschattung des Grundstücks der Kläger ist jedoch bereits deshalb ausgeschlossen, da der Teil des Hauses Nr. 2, der nicht unmittelbar an das klägerische Wohnhaus angrenzt, nicht an der Grenze zum Klägergrundstück liegt, sondern sowohl Abstandsflächen als Schatten auf das eigene Grundstück des Bauherrn wirft. Soweit dieses Gebäude als Grenzanbau errichtet wird, ist die Wand des Wohnhauses der Kläger fensterlos. Soweit ein Teil des Hauses Nr. 2 das Haus der Kläger überragt wird dadurch der Lichteinfall weder auf dem Grundstück noch innerhalb des klägerischen Wohnhauses beeinträchtigt. Der Höhenunterschied der Gebäude in dem Teil des Hauses Nr. 2, der an das Haus der Kläger angebaut ist, nimmt weder Aufenthaltsräumen noch Freiflächen, sondern allenfalls dem Dach Licht. Die Kläger können nicht beanspruchen, dass weder das Nachbargrundstück noch ihre Dachfläche durch den deutlich höheren Anbau verschattet werden. Sie haben in diesem Bereich keine schützenswerten eigenen Aufenthaltsräume oder Freiflächen.
Sonstige Verletzungen des Gebots der Rücksichtnahme sind nicht erkennbar. Insbesondere sind bauordnungsrechtlich keine Abstandsflächen erforderlich, da im vorliegenden Fall nach dem Bauplanungsrecht, das Vorrang hat, an die Grenze gebaut werden darf, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ist deshalb zu Recht unterblieben.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Nach § 162 Abs. 3 VwGO entspricht es der Billigkeit, dass die Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des beigeladenen Bauherrn tragen, da dieser einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 f. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500,00 festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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