Baurecht

Erfolglose Klage eines Gewerbenachbarn gegen die Errichtung eines Elektrofachmarktes

Aktenzeichen  AN 9 K 16.01816

Datum:
13.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 129443
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 30, § 31 Abs. 2
BayBO Art. 2 Abs. 4 Nr. 3, Nr. 4, Art. 60, Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1, Art. 71
BauNVO 1968 § 8 Abs. 2 Nr. 1, § 11 Abs. 3, § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die mit einem Vorbescheid bezweckte Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren kann nur denjenigen Nachbarn gegenüber eintreten, die im Vorbescheidsverfahren beteiligt worden sind. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei Art. 66 Abs. 1 BayBO handelt es sich um eine reine Verfahrensvorschrift, die den Nachbarn zwar reflexartig begünstigt, die aber nicht drittschützend ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
3 Aus der Nennung der Lage, des Umfangs und der Zweckbestimmung als Kriterien in § 11 Abs. 3 BauNVO 1968 ist zu entnehmen, dass die Frage der vorwiegend übergemeindlichen Versorgung anhand objektiver Kriterien zu beantworten ist, etwa anhand von Umsatzzahlen (vgl. BVerwG BeckRS 9998, 27275). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
4 Der Anliegergebrauch sichert nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Erreichbarkeit eines innerörtlichen Grundstücks nur in seinem Kern, gewährt jedoch keinen Schutz vor Beeinträchtigungen, solange die Straße als Verkehrsmittler grundsätzlich erhalten bleibt, und auch keinen Anspruch auf eine optimale Zufahrt. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Anfechtungsklage gegen den Baugenehmigungsbescheid ist zulässig, insbesondere liegt die Klagebefugnis der Klägerin gemäß § 42 Abs. 2 VwGO vor. Zwar wurde bereits durch den Vorbescheid vom 10. März 2016 die dort unter Ziffer 3 gestellte Frage nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens, welche insbesondere die auch im vorliegenden Verfahren problematisierte Zulässigkeit nach der Art der baulichen Nutzung und die Zulässigkeit der Überschreitung der Baugrenzen durch Überbauung der … umfasst, positiv beantwortet bzw. es wurden Befreiungen erteilt. Die mit dem Vorbescheid bezweckte Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren kann indes – ungeachtet der von der Klägerin in dem Verfahren AN 9 K 16.01809 erhobenen Klage gegen diesen Vorbescheid – nur denjenigen Nachbarn gegenüber eintreten, die im Vorbescheidsverfahren beteiligt worden sind (vgl. Simon/Busse, BayBO, Art. 71, Rn. 108). Da von einer Beteiligung der Klägerin ausweislich der Verfahrensakten antragsgemäß abgesehen wurde, enthält die hier streitgegenständliche Baugenehmigung vom 30. August 2016 ihr gegenüber erstmalig verbindliche – sie möglicherweise in ihren Rechten verletzende – Festsetzungen zu den genannten Fragenkomplexen.
2. Die Klage ist unbegründet. Die angegriffene Baugenehmigung der Stadt … vom 30. August 2016 ist – soweit im Rahmen einer Nachbarklage einer Nachprüfung zugänglich – rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß Art. 68 Abs. 1 BayBO darf die Baugenehmigung nur versagt werden, wenn das zur Genehmigung gestellte Vorhaben gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Der Nachbar hingegen kann die Baugenehmigung mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn sie rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen sind, sondern gerade dem Schutz eines von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises, namentlich des betroffenen Nachbarn zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das ist der Fall, wenn er in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist (st. Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87; BVerwGE 89, 69; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017, m.w.N. – juris). Hinzu kommt, dass ein Verstoß gegen eine solche Vorschrift nur dann in Betracht kommt, wenn die Baugenehmigung hierzu auch Feststellungen trifft (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris, Rn. 22). Dies ist davon abhängig, ob die entsprechende Vorschrift im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen war. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung ist darauf beschränkt, ob durch die angegriffene Baugenehmigung Vorschriften verletzt sind, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, und die zum Prüfungsmaßstab der Baugenehmigung gehören.
Ein solcher Verstoß ist im vorliegenden Fall nicht gegeben.
2.1 Einschlägig ist vorliegend der umfassende Prüfungsmaßstab des Baugenehmigungsverfahrens gemäß Art. 60 BayBO, da es sich bei dem geplanten …Markt aufgrund seiner Geschossfläche von über 1.600 m² und seiner Verkaufsfläche von über 800 m² um einen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 Nr. 3 und 4 BayBO handelt.
2.2 Eine Rechtsverletzung kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass die Klägerin im Baugenehmigungsverfahren entgegen Art. 66 Abs. 1 BayBO nicht beteiligt worden ist oder dass ihre Einwendungen – wie sie meint – falsch behandelt worden seien. Zwar ist sie im Hinblick auf die von ihr vorgebrachten Einwendungen als Nachbar im Sinne des Baurechts anzusehen. Allerdings handelt es sich bei Art. 66 Abs. 1 BayBO um eine reine Verfahrensvorschrift, die den Nachbarn zwar reflexartig begünstigt, aber nicht drittschützend ist. Es kommt alleine darauf an, ob das genehmigte Vorhaben gegen materielles Baurecht verstößt und den Nachbarn insofern in seinen Rechten verletzt (vgl. BayVGH, B.v. 2.2.2001 – 26 ZS 00.2347 – juris, Rn. 12; Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl., 2012, Art. 66, Rn. 35).
2.3 Ein Gebietserhaltungsanspruch, der grundsätzlich unabhängig von einer besonderen persönlichen Betroffenheit Nachbarn desselben Plangebiets die Möglichkeit einräumt, das Eindringen gebietsfremder Nutzungen abzuwehren (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB/BauNVO, 7. Aufl., 2013, § 29 BauGB, Rn. 44; BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 4 B 87.99 – juris), steht der Klägerin nicht zu, da der …Elektrofachmarkt an seinem Standort nach der Art der baulichen Nutzung allgemein zulässig ist. Das Baugrundstück befindet sich im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … der Stadt … vom 21. Juli 1977, der in seinem Planteil für den maßgeblichen Bereich ein Gewerbegebiet (GE) festsetzt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner öffentlichen Bekanntmachung (Juli 1977) wurden damit gemäß § 1 Abs. 3 BauNVO 1968 die entsprechenden Vorschriften über die Baugebiete der Baunutzungsverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. November 1968 (BGBl. I S. 1238, ber. 1969 I S. 11 – BGBl. III 213-1-2) Bestandteil dieses Bebauungsplans. Danach ist im festgesetzten Gewerbegebiet ein Einzelhandelsbetrieb grundsätzlich als nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1968 allgemein zulässig, solange er nicht sondergebietspflichtig ist. Für die Frage der Sondergebietspflichtigkeit kommt es nicht darauf an, ob sich der Markt als großflächiger Einzelhandelsbetrieb darstellt, der auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung, auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung oder die Funktionsfähigkeit zentraler Versorgungsbereiche wesentliche Auswirkungen hat, da diese Begriffe erst in späteren Fassungen Einzug in die Baunutzungsverordnung gefunden haben. Insofern geht die mit der angegriffenen Baugenehmigung erteilte Befreiung ins Leere.
Entscheidend ist nach § 11 Abs. 3 BauNVO 1968 vielmehr, ob es sich bei dem …Markt um einen Verbrauchermarkt handelt, der nach Lage, Umfang und Zweckbestimmung vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienen soll. Dies ist im vorliegenden Fall zu verneinen. Zwar fällt der Elektrofachmarkt unter den Begriff des „Verbrauchermarktes“, da er mit einer Verkaufsfläche von 2.312,78 m² auf die Abgabe von Elektroartikeln in großen Stückzahlen abzielt (zum Begriff des Verbrauchermarktes vgl. BVerwG, U.v. 18.6.2003 – 4 C 5.02 – juris). Die Kammer geht indes nicht davon aus, dass der …Markt vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienen soll. Das Tatbestandsmerkmal „vorwiegend“ bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch und nach dem Sinn der gesetzlichen Regelung mehr als die Hälfte, nämlich bezogen auf die Versorgung, also auf den Warenabsatz an Personen außerhalb des Gemeindegebiets. Aus der Nennung der Lage, des Umfangs und der Zweckbestimmung als Kriterien in § 11 Abs. 3 BauNVO 1968 ist zu entnehmen, dass die Frage der vorwiegend übergemeindlichen Versorgung anhand objektiver Kriterien zu beantworten ist, etwa anhand von Umsatzzahlen (vgl. BVerwG, B.v. 1.9.1989 – 4 B 99.89 – juris, Rn. 4; Fickert/Fieseler, BauNVO, 3. Aufl., 1971, § 11, Rn. 132). Ausweislich der vorgelegten Verträglichkeitsanalyse aus dem Mai 2016 erwartet der Beigeladene für den geplanten …Markt einen Gesamtumsatz von 11,8 Mio. Euro. 7,7 Mio. Euro, und damit deutlich mehr als die Hälfte, sollen davon allein aus dem Stadtgebiet von … generiert werden, nämlich 3,0 Mio. Euro aus Zone 1 (Kerneinzugsgebiet – … Nord) und 4,7 Mio. Euro aus Zone 2 (Naheinzugsgebiet – Stadtgebiet … nördlich der … bzw. nördlich der …*). 3,9 Mio. Euro Umsatz werden aus Zone 3 (Ferneinzugsgebiet – Einzugsgebiet nördlich und östlich der BAB … bzw. der Achse …, bis … im Norden und … im Osten) erwartet. Letztere liegt – mit der Achse … in der … Südstadt – jedenfalls teilweise im Stadtgebiet, nur die Bereiche bis … und … sind übergemeindliche, nördlich der Stadt … liegende Einzugsbereiche. Dass bei dieser Betrachtung nahezu der gesamte südliche Teil der Stadt … sowie die gesamte südliche Peripherie ausgeklammert wurden, erscheint nachvollziehbar, da sich in der … im Südwesten … ein zweiter …Markt befindet, der aufgrund seiner Lage wohl eher geeignet ist, die Kaufkraft aus dem … Süden aufzunehmen. Aber selbst wenn diese Annahme fehlginge, und Teile des … Südens ebenfalls zum Einzugsbereich des streitgegenständlichen …Marktes in der … gerechnet werden müssten, er also auch aus diesen Bereichen nennenswerten Umsatz generieren würde, so müsste dies sogar noch zu einem höheren innerstädtisch generierten Umsatzanteil führen. Auch ist den genannten Umsatzzahlen nach Einschätzung der Kammer objektiver Wert beizumessen. Zum einen beruhen sie auf Umsatzzahlen der Elektrohandelsbranche aus dem Jahr 2014, zum anderen auf Erfahrungswerten des Gutachtenerstellers. Diese sind auch nachvollziehbar, da der Einzelhandelsstandort in der … durch den dort seit Jahren bestehenden …Markt bereits erschlossen ist, und der nunmehr streitgegenständliche Neubau im Wesentlichen über die gleiche Verkaufsfläche und über das gleiche Sortiment verfügen soll. Auch wenn sich der Beigeladene – wie von der Klägerin vermutet – durch die Baumaßnahme eine Umsatzsteigerung versprechen sollte, so ist angesichts des derzeit weit überwiegenden Umsatzanteils aus dem Stadtgebiet nicht zu erkennen, dass der Neubau gerade bei potenziellen Kunden außerhalb des Stadtgebiets zu einer derartigen Attraktivitätssteigerung führen würde, dass deren Anteil am Gesamtumsatz des Marktes den Anteil des Umsatzes aus dem Stadtgebiet in absehbarer Zeit überschreiten könnte. Zweifel an der Belastbarkeit des vorgelegten Gutachtens vermochte auch die Klägerin nicht zu wecken. Dass auf Seite 15 der Auswirkungsanalyse von ca. 1,0 Mio. Einwohnern und daneben von 463.222 Einwohnern gesprochen wird, lässt sich so verstehen, dass sich die Zahl von 1,0 Mio. Einwohnern auf das gesamte Einzugsgebiet, also das gesamte Stadtgebiet von …, sowie die nördliche und die südliche Peripherie, bezieht, wohingegen die Zahl von 463.222 Einwohnern nur die Zonen 1, 2 und 3, also das nördliche Stadtgebiet und die nördliche, bzw. nordöstliche Peripherie umfasst. Im Ergebnis unschädlich ist auch, dass das Gutachten ursprünglich zu einer – nicht genehmigungserheblichen – Fragestellung in Auftrag gegeben wurde, und die dort zugrunde gelegten Zahlen – unter anderem die Umsatzzahlen – für den Nachweis dienten, dass mit dem Vorhaben keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche verbunden seien. Jedenfalls lassen sich aus den Umsatzzahlen auch verlässliche Rückschlüsse auf die – genehmigungserhebliche – Frage ziehen, inwieweit das Vorhaben der übergemeindlichen Versorgung dient. Es begegnet hier auch keinen Bedenken, dass es sich bei der Verträglichkeitsanalyse aus dem Mai 2016 um ein Parteigutachten handelt. Es entspricht im Bauverfahren gängiger Praxis, dass Gutachten von Seiten des Bauherren vorgelegt werden, da es grundsätzlich seine Aufgabe ist, die Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die Genehmigungsfähigkeit seines Bauvorhabens ergibt. Dies allein bewirkt nicht den Anschein der Parteilichkeit des Gutachtens. Zudem hätte es unter den gegebenen Umständen eher im Interesse des Beigeladenen gelegen, die aus dem Stadtgebiet … generierten Umsatzzahlen im Verhältnis zu denen des Umlandes möglichst niedrig anzusetzen, weil dies auch geringere Auswirkungen auf die zentralen Versorgungsbereiche der Stadt … hätte vermuten lassen. Aus den genannten Gründen war die Einholung eines zweiten Gutachtens nicht erforderlich, sodass eine Beweiserhebung entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten bedingten Beweisantrag des Klägervertreters nicht geboten war.
Damit ist das Bauvorhaben als nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb aller Art nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1968 im vorliegenden Gewerbegebiet allgemein zulässig. Dafür, dass es nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO 1968, der sich auf die Zulässigkeit nach der Art der baulichen Nutzung bezieht, im Einzelfall gebietsunverträglich wäre, gibt es keine Hinweise. Soweit die Klägerin versucht, dieses aus der Überschreitung der Baugrenzen herzuleiten, wird auf die Ausführungen unter 2.4 verwiesen. Auch auf das Einzelhandelskonzept der Beklagten war im vorliegenden Fall nicht abzustellen, weil dieses zwar bei der Bauleitplanung Beachtung verlangt und auch in der Lage ist, zentrale Versorgungsbereiche zu definieren, für die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens indes der bereits bestehende Bebauungsplan Nr. … maßgeblich ist.
2.4 Auch wegen der Überbauung der … steht der Klägerin kein Abwehranspruch zur Seite. Ein solcher folgt nicht aus der von der Stadt … erteilten Befreiung von der Baugrenze. Die Klägerin wird durch sie nicht über das zumutbare Maß in ihren nachbarlichen Interessen beeinträchtigt – das Rücksichtnahmegebot ist insofern nicht verletzt. Ein darüber hinausgehender Abwehranspruch besteht nicht.
2.4.1 Die Festsetzung der Baugrenze in dem Bebauungsplan Nr. … der Stadt … vom 21. Juli 1977 vermittelt der Klägerin im vorliegenden Fall keinen Drittschutz. Festsetzungen im Bebauungsplan haben – mit Ausnahme der Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – juris) – nicht schon aus sich heraus drittschützende Wirkung. Dies gilt auch für die Festsetzung einer Baugrenze, mit der die überbaubare Grundstücksfläche bestimmt wird (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris). Ob der Festsetzung ausnahmsweise Drittschutz zukommt, ist maßgeblich vom Willen der planenden Gemeinde abhängig, der durch Auslegung zu ermitteln ist (vgl. BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.90 – juris). Ihr Wille, dass der Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises, namentlich des klagenden Nachbarn, bezweckt ist, muss mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan selbst oder aus anderen objektiv erkennbaren Umständen hervortreten. Hierfür finden sich im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte. Die Baugrenze stellt nicht individuell auf die unterschiedlichen Grundstücke ab, sondern umschließt nahezu die gesamte Fläche des festgesetzten Gewerbegebietes. Dass die Freihaltung der Verkehrsflächen nicht nur der allgemeinen Erschließung, sondern darüber hinaus konkreten Individualinteressen dienen soll, ist ebenfalls nicht erkennbar.
Wird die Befreiung – wie hier – von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung erteilt, steht dem Nachbarn über den Anspruch auf hinreichende Würdigung seiner nachbarlichen Interessen hinaus kein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde zu (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris, Rn. 33; BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 – juris, Rn. 5). Drittschutz wird insofern lediglich durch das Gebot, die nachbarlichen Interessen zu würdigen, vermittelt, weil die Baugenehmigungsbehörde hier in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf die schutzwürdigen Belange des jeweiligen Nachbarn zu achten hat. Alle übrigen denkbaren Fehler der Befreiung würden diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar objektiv rechtswidrig machen, den Nachbarn jedoch nicht in seinen eigenen Rechten berühren und ihm somit keinen Abwehranspruch vermitteln (vgl. Ebd.). Unter welchen Voraussetzungen die Rechte des Nachbarn verletzt sind, bemisst sich ausschließlich nach den vom Bundesverwaltungsgericht zum Gebot der Rücksichtnahme entwickelten Maßstäben.
Das bauplanungsrechtliche Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme, welches im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans über § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO (vgl. BVerwG, U.v. 5.8.1983 – 4 C 96.79 – juris) bzw. bei der Erteilung von Befreiungen von nicht drittschützenden Vorschriften gemäß § 31 Abs. 2 BauGB über das Tatbestandsmerkmal der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die Zulässigkeitsprüfung findet (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris, Rn. 40, m.w.N.), ist im vorliegenden Fall nicht verletzt. Das Rücksichtnahmegebot vermittelt grundsätzlich nicht einen Abwehranspruch des Nachbarn gegen alle Beeinträchtigungen, sondern nur gegen solche, die die Schwelle der Zumutbarkeit überschreiten. Davon, dass mit der Überbauung der J. Straße für den Betrieb der Klägerin unzumutbare Beeinträchtigungen verbunden sein werden und ihr Betrieb in erheblicher und existenzgefährdender Weise gefährdet wird, geht die Kammer nicht aus. Für das Grundstück der Klägerin FlNr. … bestehen zahlreiche bestandskräftige Baugenehmigungen, mit denen der Klägerin bzw. dem Vorgängerbetrieb immer wieder Erweiterungen sowohl der baulichen Anlagen als auch des Betriebsumfangs genehmigt wurden. Aus ihnen geht indes nicht hervor, dass der klägerische Betrieb regelmäßig von Schwerbzw. Sondertransporten, die die übliche Durchfahrtshöhe von 4,50 müberschreiten, versorgt werden soll, geschweige denn dass der Betrieb auf solche Transporte zwingend angewiesen ist. Solches ergibt sich auch nicht aus dem schriftsätzlichen Vortrag der Klägerin. Es wurde zwar vorgetragen, im Frühjahr 2017 werde eine Anlage aus Südkorea angeliefert, die aufgrund ihrer Größe nur im zerlegten Zustand durch die überbaute Engstelle der … passen werde. Jedenfalls aber konnte die Anlage – wenn auch zerlegt – transportiert werden. Das bestätigte der Geschäftsführer der … GmbH der Klägerin auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung und erklärte auch, dass keine Mehrkosten angefallen seien; man erwarte Mehrkosten jedoch für die Zukunft. Substantiiert wurde diese Befürchtung indes nicht. Vielmehr wurde bis zuletzt kein Nachweis über die von der Klägerin behaupteten Sondertransporte mit einer Höhe von über 4,50 min der Vergangenheit – etwa durch die Vorlage von Genehmigungen, die nach ihrem eigenen Vortrag für die Transporte erforderlich waren, oder Bestätigungen der durchführenden Transportunternehmen – erbracht. Auch die in der Bauakte befindlichen E-Mails vom 18. April und vom 18. Mai 2016 genügen – gleich wie sie auszulegen sein mögen – bei weitem nicht dem Substantiierungserfordernis. Daneben stellt die Klägerin jedoch selbst dar, dass ihr Betrieb von durchschnittlich 410 Lkw und Kleinlastern pro Werktag angefahren werde. Mangels anderweitiger Angaben muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen Lkw um solche mit Normalmaßen handelt. Das legt den Schluss nahe, dass der weit überwiegende Teil der notwendigen An- und Abfahrten zu dem Betriebsgrundstück nach wie vor ungehindert erfolgen kann, und der Betrieb in seinem derzeitigen Umfang durch die Höhenbeschränkung nicht in erheblicher und existenzgefährdender Weise beeinträchtigt wird. Was den Einwand der Klägerin anbelangt, die zu bearbeitenden Werkstücke bzw. die einzusetzenden Maschinen würden in Zukunft immer größer werden und insofern auch ein Schritthalten der Betriebsanlagen erfordern, so kann dies nicht durchdringen. Die für ein bestimmtes Grundstück und für einen bestimmten Betriebsgegenstand erteilten Baugenehmigungen vermitteln das Recht, diesen innerhalb einer bestimmten Variationsbreite auszuüben und schützen ihn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen, geben jedoch keinen Anspruch darauf, Rahmenbedingungen vorzufinden, die es ermöglichen, den Betriebsumfang in der Zukunft unbeschränkt zu erweitern. Im Übrigen wurden Betriebserweiterungsabsichten nicht konkret vorgetragen.
Die übrigen in der mündlichen Verhandlung genannten Beeinträchtigungen erscheinen nicht unzumutbar, da sie erkennbar nicht dauerhaft, sondern durch die Baustellensituation bedingt sind. So ist zu erwarten, dass sich die Parkproblematik nach Abriss des alten …Gebäu-des und Errichtung des Parkplatzes entschärfen wird. Auch erscheint die derzeit fehlende Beschilderung als ein lösbares Problem, zumal der Beigeladene in der mündlichen Verhandlung persönlich erklärt hat, er wolle einen Werbepylon mit entsprechenden Hinweisen auf die Hinterliegerfirmen errichten lassen.
Nach alledem wird die Klägerin durch die erteilte Befreiung von den Baugrenzen nicht in ihren Rechten verletzt.
2.4.2 Auch sonst steht der Klägerin gegen die Überbauung der … kein Abwehranspruch zur Seite. Nach der „Nassauskiesungsentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts lässt sich aus dem Eigentumsgrundrecht in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht ein Anspruch auf Einräumung gerade derjenigen Nutzungsmöglichkeit herleiten, die dem (Grundstücks-) Eigentümer den größtmöglichen wirtschaftlichen Vorteil verspricht (vgl. BVerfG, B.v. 15.7.1981 – 1 BvL 77/78 – juris, Rn. 166). Ein solcher Anspruch folgt auch nicht aus dem Rechtsinstitut des Anliegergebrauchs, welches nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Erreichbarkeit eines innerörtlichen Grundstücks nur in seinem Kern sichert, jedoch keinen Schutz vor Beeinträchtigungen gewährt, solange die Straße als Verkehrsmittler grundsätzlich erhalten bleibt, und welches insbesondere keinen Anspruch auf eine optimale Zufahrt gewährt (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2014 – 8 CE 14.1882; U.v. 1.12.2009 – 8 B 09.1980; U.v. 15.3.2006 – 8 B 05.1356 – juris). Als Verkehrsträger bleibt die … im vorliegenden Fall jedenfalls erhalten, da sie nach wie vor von Fahrzeugen mit normalen, StVZO-konformen Abmessungen befahren werden kann.
2.5 Vorschriften des Bauordnungsrechts, auf die sich die Klägerin berufen könnte, werden nicht verletzt.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da der Beigeladene sich nach § 154 Abs. 3 VwGO durch die Stellung eines Antrags einem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass die Klägerin nach § 162 Abs. 3 VwGO auch dessen außergerichtlichen Kosten zu tragen hat.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben