Baurecht

Erfolgloser einstweiliger Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren gegen Bebauungsplan

Aktenzeichen  1 NE 20.2322

Datum:
22.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6083
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6

 

Leitsatz

1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind, jedenfalls bei Bebauungsplänen, zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrages, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Bauvorhaben, für das bereits eine Baugenehmigung erteilt wurde, kann mit einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht mehr verhindert werden. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Planbedingt sind nur solche Nachteile, welche die Festsetzungen des Bebauungsplans den Betroffenen auf Dauer auferlegen. Probleme, welche sich allein aus der Realisierung eines Bebauungsplanes ergeben, gehören wegen ihrer zeitlichen Begrenzung selbst dann regelmäßig nicht zu den Konflikten, welche der Bebauungsplan selbst lösen muss, wenn die vollständige Realisierung des Planes mehrere Jahre in Anspruch nimmt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert wird auf 12.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen den Bebauungsplan Nr. … „A.“, den die Antragsgegnerin am 18. Oktober 2018 beschlossen und am 10. Juli 2019 bekanntgemacht hat, sowie dessen 1. Änderung vom 14. Oktober 2019, bekanntgemacht am 27. November 2019.
Das bislang unbebaute Plangebiet umfasst eine Fläche von 3,68 ha und liegt am südwestlichen Ortsrand der Stadt S. Der Bebauungsplan weist in seinem Geltungsbereich ein reines Wohngebiet aus. Es sollen dort insgesamt ca. 120 Wohneinheiten (Reihenhäuser und Mehrfamilienhäuser) sowie eine Kindertageseinrichtung entstehen. Mit der 1. Änderung des Bebauungsplans, die den ursprünglichen Bebauungsplan ersetzt, wird zusätzlich im südöstlichen Plangebiet auf einer im bisherigen Bebauungsplan als Grünfläche vorgesehenen Fläche ein Bereich für Versorgungsanlagen (Nahwärmeversorgung) ausgewiesen.
Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus und einem Nebengebäude bebauten Grundstücks FlNr. …, Gemarkung S., das im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 8028 der Stadt S. liegt, der ein reines Wohngebiet ausweist. Das Anwesen liegt durch eine Straße und eine Grünfläche getrennt südöstlich des Plangebiets.
Das Landratsamt erteilte mit Bescheid vom 6. Juli 2020 der … GmbH eine Baugenehmigung für den Neubau einer Heizzentrale für das Wärmenetz des Neubaugebiets auf dem im Bebauungsplan als Fläche für Versorgungsanlagen vorgesehenen Bereich. Hiergegen erhoben die Antragsteller am 27. Juli 2020 Anfechtungsklage, über die bislang nicht entschieden wurde.
Am 10. Juli 2020 stellten die Antragsteller Normenkontrollantrag gegen den Bebauungsplan Nr. … sowie gegen die 1. Änderung des Bebauungsplans „A.“ und beantragten am 20. Oktober 2020,
den Bebauungsplan Nr. … „A.“ in der Fassung der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. … durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag außer Vollzug zu setzen.
Die Antragsteller seien bereits durch den Baustellenverkehr und Baustellenlärm massiv beeinträchtigt. Sobald das Heizkraftwerk den Betrieb aufnehme, seien die Antragsteller massiven Immissionen ausgesetzt. Die einstweilige Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile für die Antragsteller und aus anderen wichtigen Gründen für die Bauwerber und künftige Eigentümer und Bewohner des Plangebiets dringend geboten. Dem Antrag fehle es auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Zum Zeitpunkt der Antragstellung habe weder eine bestandskräftige noch vollziehbare Baugenehmigung für die Heizzentrale vorgelegen. Zudem könnten sich die Antragsteller nicht mit einem anderen effektiven Rechtsschutz gegen die bevorstehende Errichtung der über 120 Wohneinheiten und den damit einhergehenden, für die Antragsteller nachteiligen Betrieb der Heizzentrale wenden. Nur die Außervollzugsetzung könne die Position der Antragsteller verbessern.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Den Antragstellern fehle es im Hinblick auf die festgesetzte Versorgungsanlage am Rechtsschutzbedürfnis, da für die festgesetzte Heizzentrale bereits eine Baugenehmigung erteilt sei, mit den Bauarbeiten begonnen worden sei und die Antragsteller hiergegen einen Antrag nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hätten. Jedenfalls aber sei der Antrag unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die Baugenehmigung für die Heizzentrale gerichteten Klage der Antragsteller mit Beschluss vom 29. Oktober 2020 abgelehnt (11 SN 20.4302). Die hiergegen erhobene Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag zurückgewiesen (1 CS 20.2787).
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Normaufstellungsakten sowie auf die Gerichtsakten in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und des Hauptsacheverfahrens Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO, der nach seinem erkennbaren Rechtsschutzziel dahingehend auszulegen ist, dass er sich gegen die 1. Änderung des Bebauungsplan Nr. … richtet, die den Bebauungsplan Nr. … „A.“ ersetzt, hat keinen Erfolg.
Dabei kann offenbleiben, ob nach Erteilung der Baugenehmigung für die Heizzentrale das Rechtsschutzinteresse für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO fehlt, da jedenfalls die Voraussetzungen für eine Außervollzugsetzung nicht vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.2016 – 1 NE 16.1174 – juris Rn. 5). Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung ist weder zur Abwehr schwerer Nachteile noch aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten.
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind, jedenfalls bei Bebauungsplänen, zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrages, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn dessen (weiterer) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (BVerwG, B.v. 30.4.2019 – 4 VR 3.19 – juris Rn. 4). Wegen der weitreichenden Folgen, welche die Aussetzung des Vollzugs von Rechtsvorschriften hat, ist dabei in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfG, B.v. 5.7.1995 – 1 BvR 2226/94 – BVerfGE 93, 181; BayVGH, B.v. 28.11.2019 – 1 NE 19.1502 – juris Rn. 14).
Hieran gemessen bedarf es vorliegend bereits keiner Entscheidung, ob der Normenkontrollantrag der Antragsteller voraussichtlich Erfolg haben wird. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, fehlt es an schweren Nachteilen oder anderen wichtigen Gründen, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit aus dem weiteren Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren entstehen und mithin eine vorläufige Regelung unaufschiebbar machen könnten. Die Verwirklichung der Heizzentrale auf dem im Bebauungsplan als Versorgungsfläche ausgewiesenen Bereich stellt keinen schweren Nachteil dar, da hierdurch voraussichtlich für die Antragsteller keine unzumutbaren Beeinträchtigungen entstehen. Der Senat verweist hierzu auf seinen Beschluss vom heutigen Tag (1 CS 20.2787) im Beschwerdeverfahren der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer gegen die erteilte Baugenehmigung gerichteten Klage. Im Übrigen hätte eine vorläufige Außervollzugsetzung der Norm keine unmittelbaren Auswirkungen auf die erteilte Baugenehmigung. Die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans durch eine einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO wirkt nicht für die Vergangenheit (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.2016 – 1 NE 16.1174 – juris Rn. 5; B.v. 7.7.2003 – 1 NE 03.984 – juris Rn. 16). Sie führt lediglich dazu, dass der angefochtene Bebauungsplan ab dem Zeitpunkt der Anordnung vorläufig nicht mehr angewendet werden kann. Mit der einstweiligen Anordnung könnte der Bebauungsplan auch nicht vorläufig für unwirksam erklärt werden, so dass damit auch nicht die (vorläufig) verbindliche Klärung einer Rechtsfrage verbunden ist. Wegen dieser eingeschränkten Wirkung, die bereits ergangene Verwaltungsakte und ihre Ausnutzung unberührt lässt, kann ein Bauvorhaben, für das bereits eine Baugenehmigung erteilt wurde, mit einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht mehr verhindert werden (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 5.6.2008 – 1 MN 328/07 – juris Rn. 62 ff.; BayVGH, B.v. 26.6.2001 – 15 NE 01.1292 – juris Rn. 15 ff.).
Hinsichtlich der Wohnbebauung ist zwar nicht ersichtlich, dass bereits Freistellungsverfahren durchgeführt oder Baugenehmigungen erteilt worden sind. Allerdings haben die Antragsteller keine unmittelbar aus der Wohnbebauung resultierenden schweren Nachteile dargelegt. Dass erst die Fertigstellung der Wohnbebauung zur Aufnahme des Betriebs der Heizzentrale führt, ist nur eine mittelbare Folge der erteilten Baugenehmigung. Die seitens der Antragsteller befürchtete verkehrsmäßige Erschließung des Baugebiets von Süden ist im Bebauungsplan bislang nicht vorgesehen. Die geltend gemachten Beeinträchtigungen durch Baustellenverkehr und Baulärm rechtfertigen ebenfalls keine Außervollzugsetzung des Bebauungsplans. Lärmbelästigungen aus Baustellenlärm, die im Zuge des Vollzugs des Bebauungsplanes auftreten, sind grundsätzlich nicht in die Abwägung einzubeziehen (vgl. BVerwG, B.v. 12.3.1999 – 4 BN 6.99 – BauR 1999, 878; BayVGH, B.v. 20.4.2011 – 15 N 10.1320 – BauR 2011, 1775). Planbedingt sind nur solche Nachteile, welche die Festsetzungen des Bebauungsplans den Betroffenen auf Dauer auferlegen. Probleme, welche sich allein aus der Realisierung eines Bebauungsplanes ergeben, gehören wegen ihrer zeitlichen Begrenzung selbst dann regelmäßig nicht zu den Konflikten, welche der Bebauungsplan selbst lösen muss, wenn die vollständige Realisierung des Planes mehrere Jahre in Anspruch nimmt (BVerwG, B.v.12.3.1999 a.a.O.). Da der geltend gemachte Baustellenverkehr und Baulärm im Hauptsacheverfahren unbeachtlich ist, kann hierauf auch keine Außervollzugsetzung des Bebauungsplans nach § 47 Abs. 6 VwGO gestützt werden. Im Übrigen entsteht ein Großteil der Bebauung im Plangebiet mehr als 100 m vom Wohnhaus der Antragsteller entfernt, so dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der damit einhergehende Baulärm für die Antragsteller unzumutbar wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 8 GKG. Sie orientiert sich an Nummern 1.5 und 9.8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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