Baurecht

Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans

Aktenzeichen  M 11 SN 18.972

Datum:
27.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6624
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 4 S. 4

 

Leitsatz

Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche, zur zulässigen Dachneigung und zum Haustyp dürften aller Voraussicht nach tatsächlich funktionslos geworden sein, wenn hinsichtlich des Bauraums fünf Bezugsfälle, hinsichtlich der Dachneigung vier Bezugsfälle und hinsichtlich des Gebäudetyps neun Bezugsfälle benannt werden, bei denen die jeweiligen Festsetzungen nicht eingehalten sind. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf EUR 3.750,- festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.
Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus (Firstrichtung Ost – West) bebauten Grundstücks FlNr. …, Gemarkung … Unmittelbar im südwestlichen Bereich grenzt das Vorhabengrundstück FlNr. … an. An letzteres grenzt ebenfalls unmittelbar im südlichen Bereich das Grundstück FlNr. … der Gemarkung … an. Dieses ist aufgrund entsprechendem Genehmigungsbescheid des Landratsamts … (im Folgenden: Landratsamt) vom 4. Februar 2014 mit einem Mehrfamilienhaus mit fünf Wohneinheiten, einer Grundfläche von 230 Quadratmetern, einer Wandhöhe von 5,90 m, einer Firsthöhe von 11,44 m, einer Dachneigung von 42 Grad und einer Firstausrichtung von West nach Ost bebaut.
Sämtliche dieser Grundstücke liegen im Umgriff des Bebauungsplans „…“ der Gemeinde …, der am 22. April 1955 in Kraft getreten ist. Für das Vorhabengrundstück werden darin ein Bauraum von 13 m (Ost-West-Richtung) x 16 m (Nord-Süd-Richtung), eine Dachneigung von 27 bis 31 Grad sowie der „Gebäudetyp B“ (Einfamilienhaus) festgesetzt.
Unter dem 8. Dezember 2016 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den „Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit Tiefgarage“ mit acht Wohneinheiten, einer Grundfläche von 220 Quadratmetern, einer Wandhöhe von 5,90 m, einer Dachneigung von 42 Grad sowie einer Firsthöhe von 11,30 m auf FlNr. … der Gemarkung … Gemäß Antrag ist der Baukörper so situiert, dass die Baugrenzen gemäß Bebauungsplan an der Südwestseite zwischen 4,14 m und 4,64 m sowie an der Nordwestseite zwischen 3,96 m und 4,72 m überschritten werden. Im östlichen Bereich ist der nach Bebauungsplan vorgegebene Bauraum dagegen nicht ausgenutzt. Von den klägerischen Grundstücken aus gesehen ist der gesamte Baukörper somit, im Vergleich zum gemäß Bebauungsplan vorgesehenen Bauraum, um zwischen ca. 4 und ca. 7 m diagonal nach hinten verschoben.
Mit Beschluss des Bau-, Umwelt- und Verkehrsausschusses der Gemeinde … vom 17. Januar 2017 wurde die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens verweigert. Das Bauvorhaben sei maximal dem Bauvolumen bzw. der Baumasse des südlichen Nachbargrundstücks FlNr. … mit maximal fünf Wohneinheiten anzupassen.
Mit Bescheid vom 2. Juni 2017 wurde der Beigeladenen antragsgemäß eine Baugenehmigung, unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens nach Art. 67 Abs. 1 BayBO i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB, erteilt.
Der Bescheid wurde den Antragstellern am 9. Juni 2017 zugestellt.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 10. Juli 2017, eingegangen bei Gericht am selben Tag – einem Montag –, ließen die Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 2. Juni 2017 erheben (M 11 K 17.3139).
Mit weiterem Schriftsatz vom 28. Februar 2018, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließen die Antragsteller zudem sinngemäß beantragen,
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller im Verfahren M 11 K 17.3139 gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 02.06.2017, Az.: … wird angeordnet.
II.
Die aufschiebende Wirkung der unter I. genannten Klage wird im Wege einer gerichtlichen Zwischenregelung bis zur Entscheidung des Gerichts über den vorliegenden Antrag einstweilen angeordnet.
III.
Dem Antragsgegner wird aufgegeben, gegenüber der Beigeladenen eine für sofort vollziehbar erklärte Baueinstellungsverfügung hinsichtlich der begonnenen Arbeiten zur Errichtung des streitgegenständlichen Vorhabens zu erlassen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass im Bebauungsplan „…“ – soweit lesbar – für das Vorhabengrundstück eine Wandhöhe von 3,20 festgesetzt sei. Aufgrund der Gebäudestellung dürfte dort auch eine Firstrichtung parallel zur Straßenbegrenzungslinie angeordnet sein. Im Übrigen ergäben sich die Maße aus den Genehmigungsunterlagen. Die Festsetzungen dieses Bebauungsplans seien nicht funktionslos. Es habe somit hinsichtlich des Haustyps, der Dachneigung, der Baugrenzenüberschreitung sowie der Firstrichtung jeweils Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB bedurft. Befreiungen nach dieser Vorschrift hätten aber ohnehin nicht gewährt werden können, da jeweils die Grundzüge der Planung berührt würden und nachbarliche Interessen negativ tangiert würden. § 31 Abs. 2 BauGB habe bereits an sich nachbarschützende Wirkung. Bei einer fehlerhaften Befreiung von nicht drittschützenden Festsetzungen stehe dem Nachbarn dagegen ein Abwehranspruch dann zu, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht zugleich die gebotene Rücksicht auf die Interessen der Nachbarn genommen habe. Das Bundesverwaltungsgericht ziehe hieraus den Schluss, dass Drittschutz eines Nachbarn bei einer rechtswidrigen Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung dann bestehe, wenn seine nachbarlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Vorliegend habe die Genehmigungsbehörde ihr Ermessen gar nicht ausgeübt, da sie fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ hinsichtlich der dort getroffenen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche obsolet seien. Damit liege ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor. Hätte das Landratsamt vom Ermessen Gebrauch gemacht, hätte es zumindest in die Überlegung einschließen müssen, dass jedenfalls die seitlichen Baugrenzen zum Grundstück der Antragsteller hin drittschützende Wirkung aufwiesen. Im Hinblick auf das vorliegende Gebäudeschema könne im Wege der Auslegung erkannt werden, dass die Gemeinde eine Einheitlichkeit ihres Planungswillens dokumentiert habe wissen wollen. Auch wenn auf dem Grundstück FlNr. … vom Landratsamt ein „Ausreißer“ genehmigt worden sei, seien hierdurch die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht funktionslos geworden. Selbst wenn die entsprechenden Festsetzungen des Bebauungsplans funktionslos seien und die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche somit jeweils nach § 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 BauGB zu beurteilen sei, sei die Baugenehmigung den Antragstellern gegenüber rechtswidrig, da das Vorhaben ihnen gegenüber rücksichtslos sei. Durch die Verschiebung des Baukörpers und dem hierdurch bedingten Heranrücken an die seitliche Grundstücksgrenze komme dem Vorhaben eine einmauernde Wirkung zu, die allein schon durch die Gebäudehöhe von 11,30 m und der Geschossigkeit E+2+D noch verstärkt werde. Das Vorhaben halte sich nicht an den aus der Umgebung ableitbaren Maßstab. Das Gebäude auf FlNr. … stelle insoweit nur einen nichtprägenden Ausreißer dar. Im Übrigen sei der Bebauungsplan nicht insgesamt funktionslos und daher im Übrigen anzuwenden, selbst falls die Festsetzungen zum Haustyp, zur Dachneigung, zur Firstrichtung und zu den Baugrenzen funktionslos geworden seien. Im Hinblick auf die vorhandene Baugrenzenüberschreitung sei ein übermäßiges, erdrückendes Heranrücken an die Bebauung der Antragsteller gegeben. Das städtebauliche Gefüge werde hierdurch negativ tangiert.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Mit Schriftsatz vom 16. März 2018 trat der Antragsgegner dem Antrag entgegen und verwies zur Begründung seines Ablehnungsantrags auf die im zugehörigen Klageverfahren bereits vorgelegte Klageerwiderung vom 22. August 2017. In dieser wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Antragsteller durch die Erteilung der Baugenehmigung nicht in drittschützenden Rechtspositionen verletzt worden seien. Der Bebauungsplan setzte hinsichtlich des Vorhabengrundstücks neben den anderen bereits zutreffend genannten Festsetzungen eine zulässige Wandhöhe von 5,90 m fest. Die Ausführungen in der Klagebzw. Antragsbegründung seien insoweit nicht korrekt, als im Bebauungsplan weder eine maximal zulässige Grundfläche noch eine Firsthöhe oder eine Firstrichtung festgesetzt werde. Der Bebauungsplan „…“ sei funktionslos. Baugrenzenüberschreitungen würden sich, neben dem erst kurze Zeit zuvor genehmigten Vorhaben auf FlNr. …, auch auf den Grundstücken FlNr. …, … und … finden. Das Gebäude auf FlNr. … befinde sich sogar vollständig außerhalb der Baugrenzen. Vom Bebauungsplan abweichende Dachneigungen fänden sich bei den Gebäuden auf FlNr. …, …, … und … Der Gebäudetyp sei auf den FlNrn. …, …, …, …, …, …, …, … und … nicht eingehalten. Die genannten Festsetzungen im Bebauungsplan seien funktionslos geworden, da die ursprünglich mit diesen Festsetzungen verfolgten Planungsziele nicht mehr auf absehbare Zeit verwirklicht werden könnten. Befreiungen von funktionslosen Festsetzungen seien nicht erforderlich, sodass für das streitgegenständliche Vorhaben die planungsrechtliche Beurteilung bzgl. dieser Kriterien nach § 34 BauGB erfolgt sei. Das Vorhaben sei auch, insbesondere hinsichtlich dieser Kriterien, gemäß § 34 BauGB zulässig. Die genehmigte Wandhöhe entspreche mit 5,90 m der Festsetzung im Bebauungsplan. Die Grundfläche des Vorhabens liege mit 220 Quadratmetern unterhalb der Grundfläche des Gebäudes auf FlNr. … mit 230 Quadratmetern. Auch weise das streitgegenständliche Vorhaben, ebenso wie das Gebäude auf FlNr. … eine Dachneigung von 42 Grad auf. Die Firsthöhe des streitgegenständlichen Vorhabens liege mit 11,30 m ebenfalls unterhalb der Firsthöhe des größten Bezugsfalls auf FlNr. … mit 11,44 m. Das Vorhaben sei gegenüber den Antragstellern nicht rücksichtslos und füge sich hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung sogar in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots wegen mangelnder Belichtung, Belüftung und Besonnung des Grundstücks der Antragsteller scheide bereits deshalb aus, da die erforderlichen Abstandsflächen vorliegend, ungeachtet der Tatsache, dass dies nicht vom Prüfungsumfang der Baugenehmigung erfasst und eine Verletzung der Abstandsflächen von den Antragstellern auch nicht vorgetragen ist, eingehalten seien. Auch seien weitere tatsächliche Gegebenheiten, die eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots erkennen ließen, insbesondere eine etwaige erdrückende, einmauernde oder abriegelnde Wirkung, nicht erkennbar. Selbst für den Fall, dass die Festsetzungen zur überbaubaren Fläche, zur Dachneigung und zum Haustyp nicht als funktionslos angesehen würden, wären die Antragsteller nicht in Nachbarrechten verletzt. Bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB sei hinsichtlich des Nachbarschutzes danach zu unterscheiden, ob die Vorschrift von der befreit werden solle, nachbarschützend sei oder nicht. Der durch eine nachbarschützende Festsetzung vermittelte Drittschutz erstrecke sich darauf, dass bei einer Befreiung die nachbarlichen Belange ermessensgerecht gewürdigt worden seien. Bei der Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Vorschrift hingegen ergebe sich der Nachbarschutz aus dem Gebot der Rücksichtnahme, ohne dass es auf Ermessensfehler bei der Erteilung der Befreiung ankomme. Die maßgeblichen Festsetzungen vermittelten hier weder aus sich heraus drittschützende Wirkung noch deshalb, weil ein etwaiger derartiger Wille der Gemeinde ermittelbar wäre. Eine einmauernde oder erdrückende Wirkung könne vorliegen, wenn sich übergroße Baukörper in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden befänden. Dies sei hier nicht der Fall. Durch die Verschiebung des Bauraums rücke das verfahrensgegenständliche Vorhaben um ca. 3 m von der Südgrenze der Antragsteller ab. Zwischen dem streitgegenständlichen Vorhaben und dem Wohnhaus der Antragsteller liege ein Abstand von 23 m. Auch seien die Außenmaße, mithin Länge, Breite und Höhe des Vorhabens nicht überdimensioniert. Entgegen den Ausführungen der Antragsteller werde das Vorhaben nicht „E+2+D“ sondern „E+1+D“ ausgeführt. Das Vorhaben halte die erforderlichen Abstandsflächen ein und weise zum Grundstück der Antragsteller hin „1 H“ nach. Der Nachweis der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen indiziere, dass das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot nicht verletzt sei. Dass sich das Vorhaben den Antragstellern gegenüber als rücksichtslos darstelle, sei nicht erkennbar.
Die Beigeladene beantragte mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 22. März 2018, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen dasselbe vorgetragen, das der Antragsgegner bereits vorgetragen hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch diejenigen des zugehörigen Klageverfahren (M 11 K 17.3139) sowie die Bauvorlagen und die von den Antragstellern vorgelegte Kopie der Planzeichnung des Bebauungsplans Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Dritten, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an.
Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsbehelfs ergibt, dass dieser letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.07.1973 – 1 BvR 155/73 -, 1 BvR 23/73 -, BVerfGE 35, 382; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B.v. 14.01.1991 – 14 CS 90.3166 -, BayVBl 1991, 275).
Die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Behördenakten samt Plänen ergibt, dass die Klage der Antragsteller aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird.
Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall, dass Nachbarn – wie sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt – eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Eine baurechtliche Nachbarklage kann allerdings auch dann Erfolg haben, wenn ein Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwG, U.v. 25.02.1977 – 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122).
Vorliegend verletzt die angefochtene Baugenehmigung die Antragsteller voraussichtlich nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Es erscheint bereits fraglich, ob die Antragsteller sich auf eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme berufen können, soweit sie die Nichteinhaltung bzw. fehlende Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich solcher Festsetzungen geltend machen, die sie selbst nicht eingehalten haben bzw. von denen ihnen selbst eine Befreiung gewährt geworden ist. Ein derartiges Vorgehen könnte sich als treuwidrig darstellen. Dies käme vorliegend insbesondere hinsichtlich einer etwaigen Baugrenzenüberschreitung in Betracht, da die Beigeladene das Grundstück der Antragsteller im Rahmen des Befreiungsantrags als Bezugsfall ebenfalls für die Baugrenzenüberschreitung benannt hat (vgl. Bl. 27 der Behördenakte) sowie hinsichtlich eines etwaigen Verlaufs der Firstrichtung von Ost nach West, sofern dies tatsächlich vorläge.
2. Dies braucht letztlich aber nicht entschieden zu werden, da bei überschlagsmäßiger Prüfung der Angelegenheit aufgrund der Aktenlage eine Rechtsverletzung der Antragsteller durch die angefochtene Baugenehmigung aller Voraussicht nach ohnehin ausscheiden dürfte, da sich das Vorhaben den Antragstellern gegenüber nicht als rücksichtslos darstellt.
Die Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche, zur zulässigen Dachneigung und zum Haustyp dürften aller Voraussicht nach tatsächlich funktionslos geworden sein. Das Landratsamt hat im zugehörigen Klageverfahren bereits im Klageerwiderungsschriftsatz vom 22. August 2017 hinsichtlich des Bauraums fünf Bezugsfälle, hinsichtlich der Dachneigung vier Bezugsfälle und hinsichtlich des Gebäudetyps neun Bezugsfälle genannt, bei denen die jeweiligen Festsetzungen nicht eingehalten sind. Diese Ausführungen sind von den Antragstellern sowohl im Klageverfahren als auch im vorliegenden Verfahren unbestritten geblieben, sodass das Gericht sie seiner hiesigen Entscheidung zugrunde legt. Die Nennung dieser Bezugsfälle sowie die daraus gezogene Schlussfolgerung der Funktionslosigkeit dieser Festsetzungen seitens des Landratsamts zeigt auch jeweils deutlich, dass – sofern nicht im Einzelfall ohnehin eine Genehmigung unter Erteilung einer Befreiung erfolgt ist – das Landratsamt sich mit dem Vorhandensein zumindest dieser Abweichungen in jedem Fall, im Sinne einer Duldung dieses Zustands abgefunden hat und bauaufsichtlich hiergegen nicht einschreiten wird, selbst falls diese Abweichungen vom Bebauungsplan nicht genehmigt gewesen sein sollten. Diese Bezugsfälle können daher zur Beantwortung der Frage, ob die entsprechenden Festsetzungen funktionslos geworden sind, herangezogen werden. Hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche steht zusätzlich eine Überschreitung durch das Anwesen der Antragsteller auf dem Grundstück FlNr. … im Raum (s.o.; Bl. 27 der Behördenakte).
Aufgrund der tatsächlichen Entwicklung im Bebauungsplangebiet, insbesondere der vom Landratsamt genannten Bezugsfälle ist auch davon auszugehen, dass die ursprüngliche planerische Gesamtkonzeption bzw. das mit den jeweiligen Festsetzungen verfolgte Ziel auf unabsehbare Zeit nicht mehr verwirklicht werden kann. Dies folgt insbesondere aus der hohen Zahl der Bezugsfälle sowie der Tatsache, dass sie in räumlicher Hinsicht über das gesamte Plangebiet verteilt liegen. Für keine der drei fraglichen Festsetzungen ist erkennbar, dass sie noch in der Lage sind, die Bebauung in die städtebaulich gewünschte Richtung zu lenken. Bei derartig zahlreichen Abweichungen über das gesamte Plangebiet verteilt, würde selbst eine hypothetische punktuelle Einhaltung dieser Festsetzungen im vorliegenden Fall, nichts an der Gesamtsituation ändern, dass die streitgegenständlichen Festsetzungen nämlich über das gesamte Plangebiet verteilt an zahlreichen Stellen nicht eingehalten sind. Hinzu kommt noch, dass, obwohl es im gesamten Plangebiet Abweichungen von diesen drei Festsetzungen gibt, diese Abweichungen im Bereich des Vorhabens der Beigeladenen eine deutliche Konzentration aufweisen.
Bezüglich der Ausrichtung der Gebäude, also des Firstverlaufs, ist bereits nicht ersichtlich, weshalb die Antragsteller davon ausgehen, das Vorhaben weise eine im Vergleich zu den Festsetzungen des Bebauungsplans gedrehte Firstrichtung auf. Aus dem mit Genehmigungsstempel des Landratsamts versehenen Grundrissplan, in dem sich auch ein Lageplan befindet, geht hervor, dass das Vorhaben gerade eine Firstrichtung parallel zur …straße aufweist, was genau dem Firstverlauf des im Bebauungsplan eingezeichneten Gebäudes entspricht. Im Übrigen ist auch sehr zweifelhaft, ob die Firstrichtung tatsächlich im Bebauungsplan festgesetzt worden ist, da im Bebauungsplan innerhalb der Bauräume zwar Gebäude eingezeichnet sind, jedoch erkennbar die farbig dargestellten Bauräume die entscheidende Festsetzung darstellen sollten.
Die Firsthöhe ist im Bebauungsplan von vorne herein nicht festgesetzt. Auf der Planzeichnung des Bebauungsplans befindet sich ein eingezeichnetes Gebäudeschema, aus dem sich eindeutig ergibt, dass die im Bebauungsplan festgesetzten Wandhöhen sich auf die Traufhöhe beziehen.
Das streitgegenständliche Vorhaben weist laut den genehmigten Planzeichnungen eine Traufhöhe von 5,90 m auf. Dass abstandsflächenrechtlich unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 4 Satz 4 BayBO im Bereich der nördlichen und südlichen Giebelflächen von einer größeren Wandhöhe als 5,90 m auszugehen ist, steht der Einhaltung der festgesetzten Wandhöhe nach dem vorliegenden Bebauungsplan, unabhängig von der Frage, ob diese Festsetzungen noch gelten, von vorneherein nicht entgegen, da die auf Landesgesetzen beruhenden Regelungen zum Abstandsflächenrecht von vorneherein nicht geeignet sind, um die auf Bundesrecht beruhenden Regelungen zur bauplanungsrechtlich festgesetzten Wandhöhe zu konkretisieren. Im Übrigen ist auch aus dem auf dem Bebauungsplan eingezeichneten Gebäudeschema erkennbar, dass auch der Plangeber vom Vorhandensein von Giebelflächen ausgegangen ist, die für die Berechnung der letzten Endes entscheidenden Traufhöhe unbeachtlich sein sollen. Schließlich kann auch letztlich dahinstehen, ob bzgl. des Vorhabengrundstücks der Haustyp A (Doppelhaus, Wandhöhe 5,90 m) oder der Haustyp B (Einfamilienhaus, Wandhöhe 3,20 m) festgesetzt ist. In ersten Fall wäre die Festsetzung hinsichtlich der Wandhöhe nämlich eingehalten. Im zweiten Fall könnte sogar offen bleiben, ob die mittlerweile eingetretene Funktionslosigkeit der Festsetzungen zum Haustyp dazu geführt hat, dass unabhängig vom ursprünglich festgesetzten Haustyp jedenfalls eine Wandhöhe von 5,90 m festgesetzt ist oder ob aufgrund der Funktionslosigkeit der Festsetzungen zum Haustyp auch die Festsetzungen hinsichtlich der Wandhöhe funktionslos geworden sind, da die Wandhöhe schließlich jeweils in Abhängigkeit vom Haustyp festgesetzt war oder ob aus diesem Grunde sogar der ganze Bebauungsplan unwirksam ist. Im letztgenannten Fall wäre die Festsetzung hinsichtlich der Wandhöhe nämlich entweder ebenfalls eingehalten oder wäre von vorneherein aufgrund Funktionslosigkeit schon nicht mehr beachtlich.
Mithin sind sämtliche von den Antragstellern gerügten Kriterien nicht nach dem Bebauungsplan zu beurteilen, da dieser insoweit bereits keine Festsetzungen enthält oder diese Festsetzungen unwirksam geworden sind. Die genannten Kriterien sind folglich nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zu beurteilen. Lediglich ergänzend, ohne dass es hierauf ankäme, sei darauf hingewiesen, dass es sich bei den Kriterien der Dachneigung, des Haustyps sowie der Zahl der Wohneinheiten um Kriterien handelt, die für die Frage der Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ohnehin von vorneherein irrelevant sind.
All dies braucht jedoch letztlich vorliegend nicht abschließend entschieden zu werden, weil, sofern die betreffenden Festsetzungen überhaupt noch anwendbar sind, mit der überbaubaren Grundstücksfläche, dem Maß der baulichen Nutzung sowie Haustyp und Dachform lediglich Befreiungen von nicht drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans erforderlich gewesen wären. Ein grundsätzlich möglicher abweichender planerischer Wille des Satzungsgebers, dass diesen Festsetzungen ausnahmsweise nachbarschützende Funktion zukommen sollte, ist hier nicht ersichtlich. In einem derartigen Fall, in dem ausschließlich nicht drittschützende Festsetzungen betroffen sind, kann eine dem Nachbarn erteilte Baugenehmigung, selbst falls eine an sich gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erforderliche Befreiung überhaupt nicht erteilt, wenn also die an sich für die Befreiung erforderliche Ermessensentscheidung überhaupt nicht getroffen worden ist, erfolgreich allein wegen einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots angefochten werden (so BVerwG, B. v. 08.07.1998 – 4 B 64-98 – juris Rn. 7).
Einzig und allein entscheidend für die Frage des Erfolgs eines Nachbarrechtsbehelfs ist somit die Frage, ob das Vorhaben den Antragstellern gegenüber gegen das hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen im Kriterium des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
Das Vorhaben stellt sich den Antragstellern gegenüber allerdings nicht als rücksichtslos dar. Die Abstandsflächen in Richtung des Grundstücks der Antragsteller sind auf dem Vorhabengrundstück eingehalten und betragen 1 H. Dies gilt selbst, wenn die Giebelfläche im Norden gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 4 BayBO zu einem Drittel angerechnet wird.
Dass ausweislich der vorgelegten Baupläne die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, die eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung von Nachbargrundstücken sowie einen ausreichenden Sozialabstand sicherstellen sollen, eingehalten sind, ist in der Folge in die weitere Bewertung einzustellen. Zwar bedeutet die Einhaltung der Abstandsflächen nicht, dass damit von einem solchen Bauvorhaben in keinem Fall eine „erdrückende“ Wirkung ausgehen kann. Jedoch spricht die Einhaltung der landesrechtlich verlangten Abstandsfläche regelmäßig indiziell dafür, dass eine „erdrückende Wirkung“ oder „unzumutbare Verschattung“ nicht eintritt (BVerwG, B.v. 11.01.1999 – 4 B 128.98, NVwZ 1999, 879; BayVGH, B.v. 15.03.2011 – 15 CS 11.9). Besondere Gesichtspunkte, die Anlass zu einer anderen Bewertung geben könnten, liegen voraussichtlich nicht vor. Das geplante Wohnhaus ist weder besonders hoch (Wandhöhe ca. 5,90 m) noch – zu den Antragstellern hin – besonders breit (12 m, ohne Berücksichtigung des Balkons). Es steht mehr als acht Meter von der Grundstücksgrenze entfernt. Der Abstand zum Wohngebäude der Antragsteller beträgt sogar 23 m. In Anbetracht dessen, dass nach der gesetzgeberischen Wertung Wohngebäude unter eventueller Ausnutzung des sog. „16-m-Privilegs“ grundsätzlich sogar zulässigerweise in einem Abstand von 6 m zueinander errichtet werden dürften, ist eine erdrückende, einmauernde oder abriegelnde Wirkung im vorliegenden Fall wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Bauraum letztlich zugunsten der Antragsteller um mehrere Meter nach Südwesten verschoben ist, also von ihrem Grundstück und Anwesen Weg. Eine unzumutbare Beeinträchtigung der Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung ist im vorliegenden Fall mithin nicht erkennbar.
Sofern es sich bei den Anträgen zu II. und III. tatsächlich um eigenständige Anträge handelt, haben diese ebenfalls keinen Erfolg. Dem Antrag zu III. dürfte, unabhängig von der Frage der Zulässigkeit im Übrigen, jedenfalls momentan noch das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da die Beigeladene bisher aufgrund ihres Verhaltens keinen Anlass zur Besorgnis gegeben hat, dass sie sich nicht an eine etwaige Anordnung der aufschiebenden Wirkung halten würde, womit bereits ausgesagt wäre, dass sämtliche Bautätigkeit einzustellen wäre. Im Übrigen scheitern beide genannten Anträge bereits jedenfalls daran, dass die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung keine Nachbarrechte der Antragsteller verletzt (s.o.).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen den Antragstellern aufzuerlegen, da die Beigeladene sich durch Stellung eines Sachantrags dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs und entspricht der Hälfte des im Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwerts.


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