Baurecht

Grundsätzlich kein Raum mehr für das Rücksichtnahmegebot, wenn Bauvorhaben den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften entspricht

Aktenzeichen  AN 3 K 17.01187

Datum:
3.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 5655
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 2, Abs. 9 S. 1 Nr. 3, Art. 59, Art. 68 Abs. 1
VwGO § 67 Abs. 2 S. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, § 154 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Zwar kommt den landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften für die Beurteilung des planungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots keine rechtliche Bindungswirkung zu. Eine Verletzung scheidet unter diesem Gesichtspunkt jedoch im Sinne einer Indizwirkung in aller Regel aus, wenn die gesetzlich vorgesehenen Abstandsflächen eingehalten sind. (Rn. 30) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber die diesbezüglichen nachbarlichen Belange und das damit gegebene Konfliktpotenzial in einen vernünftigen und verträglichen Ausgleich gebracht hat. (Rn. 30) (red. LS Alexander Tauchert)
3 Trotz Einhaltung der baurechtlichen Abstandsflächenvorschriften kann im Einzelfall jedoch eine Nachbarklage dann erfolgreich sein, wenn der Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme darin liegt, dass andere schützenswerte Belange, die nicht durch die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO abgedeckt werden, in unzumutbarer Weise beeinträchtigt werden. (Rn. 31) (red. LS Alexander Tauchert)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Verfahrenskosten zu tragen.

Gründe

Streitgegenstand vorliegender Klage ist die der Beigeladenen mit Bescheid des Landratsamtes … vom 31. Mai 2017 erteilte Genehmigung für die veränderte Ausführung des mit Bescheid des Landratsamtes … vom 9. August 2016 genehmigten Bauvorhabens „Einfamilienwohnhaus mit Doppelgarage“.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung, die gemäß Art. 68 Abs. 1 1. Hs. BayBO zu erteilen ist, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, entgegenstehen, haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass die Nachbarn durch die Genehmigung zugleich in ihren Rechten verletzt sind, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies ist nur dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. z.B. BVerwG v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – BayVBl. 1990, 154 ff.).
Der Kläger wird durch den streitgegenständlichen Baugenehmigungsbescheid nicht in solch Drittschutz gewährenden Normen verletzt.
1. Soweit sich der Kläger auf eine Verletzung von Art. 6 BayBO beruft, so vermag dies im hier gegebenen vereinfachten Baugenehmigungsverfahren, Art. 59 BayBO, schon deshalb nicht zum Klageerfolg zu führen, weil Art. 6 BayBO nicht zum Prüfprogramm jenes vereinfachten Verfahrens gehört und deshalb die Baugenehmigung bezüglich der Einhaltung der Abstandsflächen auch keine vom Nachbarn angreifbare Regelung trifft.
Darüber hinaus sind für das streitgegenständliche Vorhaben (Stützmauer in einer Höhe von 0,80 m im Norden bis zu 1,50 m im Süden und Aufschüttung von 0,30 m im Norden bis 0,90 m im Süden) keine Abstandsflächen einzuhalten, Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO, so dass – unabhängig von dem durch das Vorliegen eines im vereinfachten Verfahren zu prüfenden Vorhabens bestimmten Regelungsgehalt der Baugenehmigung – der Kläger sich auch aus diesem Grund nicht erfolgreich auf eine Nichteinhaltung von Abstandsflächen berufen könnte.
a) Die Stützmauer bildet mit der Aufschüttung eine funktionale Einheit, denn sie dient erkennbar der Sicherung der Aufschüttung vor dem Abrutschen auf das jeweilige Nachbargrundstück. Diese funktionelle Einheit unterfällt in ihrer Gesamtheit der Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO (vgl. BayVGH v. 22.2.2017 – 15 CS 16.1883 – juris).
Die Stützmauer mit der dahinterliegenden Aufschüttung ist (wohl) zur angemessenen und zulässigen Nutzung des hängigen westlichen Grundstücksbereichs des Baugrundstücks erforderlich.
Mit der (westlichen) Stützmauer soll das Abrutschen der vorgenommenen Aufschüttungen hin zum Klägergrundstück verhindert werden. Durch die Aufschüttung soll im westlichen Grundstücksbereich, welcher sowohl vom Osten nach Westen als auch in stärkerem Maße von Norden nach Süden ein Gefälle aufweist, die Terrassenerrichtung niveaugleich ans Wohnhaus und eine angemessene Gartennutzung ermöglicht werden.
b) Auch wenn man annehmen wollte, dass die Stützmauer mit der Hinterfüllung nicht der Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BaBO unterfallen würde, wäre kein Verstoß gegen Art. 6 BayBO gegeben, denn die Stützmauer mit Hinterfüllung – und gleiches gilt bei gesonderter Betrachtung der streitgegenständlichen Auffüllungen – hat keine gebäudeähnliche Wirkung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO. Ob einer Anlage gebäudeähnliche Wirkung zukommt, lässt sich nicht grundsätzlich, sondern nur einzelfallig unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des Abstandsflächenrechts bestimmen, wobei die Größe der Anlage und z.B. auch das Mate-rial, aus welchem sie hergestellt ist, sowie ihre Zweckbestimmung eine Rolle spielen. Bauliche Anlagen, die eine mit den in Art. 6 Abs. 9 Satz 1 BayBO genannten Anlagen vergleichbare Nutzung aufweisen, sind demnach anders zu beurteilen als bauliche Anlagen mit Aufenthaltsfunktion (vgl. BayVGH v. 12.9.2013 – 14 CE 13.928 – juris).
Gebäudeähnliche Wirkung wird in solchen Fällen in aller Regel erst ab einer Höhe von ca. 1,80 m bis 2 m angenommen (vgl. z.B. BayVGH v. 8.7.2008 – 14 CS 08.647, 14 ZB 08.730 – juris).
Somit wäre vorliegend auch für den Fall, dass die Privilegierungsvorschrift des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO nicht zur Anwendung gelänge, nicht vom Erfordernis der Einhaltung von Abstandsflächen zur Grundstücksgrenze zum klägerischen Grundstück hin auszugehen.
2. Auch das im Begriff des Einfügens in § 34 Abs. 1 BayBO enthaltene drittschützende Gebot der Rücksichtnahme ist nicht verletzt.
Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängen von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommen soll, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG in ständiger Rechtsprechung, z.B. U.v. 23.9.1999 – 4 C 6.98 – juris).
Entspricht ein Bauvorhaben – wie hier oben unter 1. ausgeführt – den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften (Art. 6 BayBO), ist insoweit für das Gebot der Rücksichtnahme grundsätzlich kein Raum mehr. In Bezug auf eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung ist das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme in den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften der Bayerischen Bauordnung konkretisiert worden (vgl. BVerwG v. 16.9.1993, BVerwGE 94, 151).
Zwar kommt den landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften für die Beurteilung des planungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots keine rechtliche Bindungswirkung zu. Eine Verletzung scheidet unter diesem Gesichtspunkt jedoch im Sinne einer Indizwirkung in aller Regel aus, wenn die gesetzlich vorgesehenen Abstandsflächen eingehalten sind. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber die diesbezüglichen nachbarlichen Belange und das damit gegebene Konfliktpotenzial in einen vernünftigen und verträglichen Ausgleich gebracht hat.
Trotz Einhaltung der baurechtlichen Abstandsflächenvorschriften kann im Einzelfall jedoch eine Nachbarklage dann erfolgreich sein, wenn der Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme darin liegt, dass andere schützenswerte Belange, die nicht durch die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO abgedeckt werden, in unzumutbarer Weise beeinträchtigt werden. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ wird. Eine erdrückende Wirkung eines die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen einhaltenden Gebäudes kann jedoch nur dann angenommen werden, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse und ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück derart unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die schiere Größe des „erdrückenden Vorhabens“ auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik“ wahrgenommen wird (vgl. z.B. OVG Nordrhein-Westfalen v. 9.2.2009, NVwZ-RR 2009, 459).
Unter Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das streitgegenständliche Bauvorhaben der Beigeladenen dem Kläger gegenüber nicht als rücksichtslos.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine abgetreppte Stützmauer handelt (1,50 m im Süden, 0,50 m im Norden) und von dem 3,80 m langen 1,50 m hohen Teilstück mehr als die Hälfte im Bereich des sich auf dem Klägergrundstück grenzständig vorhandenen Nebengebäudes befindet.
Auch vermittelt das in Art. 34 Abs. 1 BauGB seinen Niederschlag gefundene Gebot der Rücksichtnahme im Allgemeinen keinen Schutz vor Einblicken in benachbarte Grundstücke (vgl. z.B. BayVGH v. 17.4.2015 – 15 CS 14.2612 – juris).
Angesichts der konkreten Vorhabensgestaltung im Rahmen der gegebenen Grundstückssitua-tion ist nichts erkennbar, was vorliegend zu einer anderen Beurteilung führen müsste.
Nach alldem kann eine Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens nicht bejaht werden.
Somit war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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