Baurecht

Kein gebietsübergreifender Gebietserhaltungsanspruch. Erfolglose Nachbarklage gegen Vorbescheid für Neubau eines Pflegeheim.

Aktenzeichen  9 ZB 19.506

Datum:
15.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30462
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 71
BauGB § 31 Abs. 2, § 33, § 34, § 35, § 36 Abs. 1 S. 1
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 2, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
BauNVO § 6 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4, Nr. 5, Nr. 6, Nr. 7

 

Leitsatz

1 Die Mitwirkung der Gemeinde gemäß § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren bei Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB dient lediglich der Sicherung der gemeindlichen Planungshoheit, nicht hingegen auch den Interessen einzelner Grundstückseigentümer (vgl. VGH München BeckRS 2017, 103915). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der bloße Verweis auf eine Vielzahl von Befreiungen zeigt keine Anhaltspunkte dafür auf, dass der Satzungsgeber mehreren Festsetzungen zusammen eine nachbarschützende Wirkung beimessen wollte (vgl. VGH München BeckRS 2014, 45846). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3 Mangels einer Befreiung von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans kommt es hier nicht darauf an, ob die Befreiungen die Grundzüge der Planung berühren (vgl. VGH München BeckRS 2018, 1363). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 17 K 17.1631 u.a. 2018-12-06 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt die Klägerin einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin, auf deren Grundstück eine Druckerei betrieben wird und sich eine Betriebshalle für den Vertrieb und die Lagerung von Messtechnik aus Stahl befindet, wendet sich gegen die Errichtung eines Pflegeheims auf dem nördlichen Nachbargrundstück. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 6 „…“ der Gemeinde S* … bei Ansbach, der u.a. für das Grundstück der Klägerin überwiegend ein eingeschränktes Gewerbegebiet und für das Grundstück der Beigeladenen ein Mischgebiet festsetzt.
Mit Bescheid vom 26. Juli 2017 erteilte das Landratsamt Ansbach der Beigeladenen einen Vorbescheid über die grundsätzliche Genehmigungsfähigkeit für den Neubau eines Pflegeheims und stellte Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 6 hinsichtlich der Vollgeschosse, der Dachneigung und der Traufhöhe in Aussicht. Mit Nachtragsbescheid vom 7. Juni 2018 wurde eine Befreiung von der Festsetzung Nr. 13 des Bebauungsplans Nr. 6 in Aussicht gestellt. Gegen beide Bescheide hat die Klägerin jeweils Klage erhoben, die vom Verwaltungsgericht mit Urteil vom 6. Dezember 2018 abgewiesen wurden. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bescheide keine drittschützenden Rechte verletzten und kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vorliege. Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung der Klägerin.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Hieraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
Das Zulassungsvorbringen, das nahezu ausschließlich auf die Behandlung des Bauvorhabens im Gemeinderat und die Erteilung des Einvernehmens der Gemeinde S* … abstellt, zeigt ein fehlerhaftes Verständnis der Bedeutung des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Zusammenhang mit § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Die vorgesehene Mitwirkung der Gemeinde im bauaufsichtlichen Verfahren bei Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB dient lediglich der Sicherung der gemeindlichen Planungshoheit, nicht hingegen auch den Interessen einzelner Grundstückseigentümer (BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 9 ZB 15.2092 – juris Rn. 5 m.w.N.). Sofern sich die Einwendungen im Zulassungsvorbringen darüber hinaus der Erteilung des Vorbescheids durch das Landratsamt zuordnen lassen, bleibt der Antrag ebenfalls erfolglos.
1. Die Klägerin, deren Grundstück im Wesentlichen in einem festgesetzten eingeschränkten Gewerbegebiet liegt, kann sich gegenüber dem Vorhaben der Beigeladenen, das in einem festgesetzten Mischgebiet zur Ausführung kommen soll, nicht auf einen Gebietserhaltungsanspruch berufen. Abgesehen davon, dass die Grundstücke in verschiedenen Baugebieten liegen und die hier im Bebauungsplan erfolgte Feinsteuerung der Baugebiete grundsätzlich nur im öffentlichen Interesse erfolgt (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2012 – 14 ZB 11.1591 – juris Rn. 6; OVG NW, B.v. 16.2.2017 – 8 A 2094/17 – juris Rn. 12), kann sich die Klägerin hier auch nicht auf einen gebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruch berufen. Das Verwaltungsgericht hat unter Auslegung des Bebauungsplans darauf abgestellt, dass sich aus der gestuften Festsetzung keine über die allgemeine Verpflichtung zur Festsetzung von zueinander verträglichen Baugebieten hinausgehende Absicht zur Schaffung einer Pufferzone ergibt. Im Hinblick darauf, dass eine Trennung und Abstufung unterschiedlicher Baugebiete zur Vermeidung unzumutbarer Immissionen regelmäßig den objektiv-rechtlichen planungsrechtlichen Anforderungen entspricht (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2016 – 9 ZB 13.2048 – juris Rn. 14), genügt die im Zulassungsvorbringen angeführte lediglich gegenteilige Ansicht der Klägerin nicht, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung darzulegen.
2. Ernstliche Zweifel ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag, die Erteilung der Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 6 sei rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Rechtsschutz des Nachbarn im Rahmen von Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB davon abhängt, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht (BayVGH, B.v. 27.6.2018 – 9 ZB 16.1012 – juris Rn. 11). Es hat sodann ausgeführt, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur Dachneigung hier nicht drittschützend seien, was durch das Zulassungsvorbringen nicht in Frage gestellt wird. Das Verwaltungsgericht hat ferner darauf abgestellt, dass die Festsetzung Nr. 13 des Bebauungsplans Nr. 6 „…“, wonach Wohngebäude im Mischgebiet nur in Verbindung mit den sonstigen Nutzungen gem. § 6 Abs. 2 Nr. 2 bis 7 BauNVO zulässig sind und je sonstige Nutzung nur ein Wohngebäude zulässig ist, nach dem Willen des Plangebers nicht unmittelbar dem Nachbarschutz dienen sollte, sondern dem gemeindlichen Ziel der Schaffung von Gewerbeflächen. Ein darüber hinausgehender Schutz der Gewerbeflächen vor heranrückender Wohnbebauung lässt sich hier weder den textlichen und zeichnerischen Festsetzungen noch den sonstigen vorliegenden Unterlagen entnehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Wohnbebauung im angrenzenden Mischgebiet nicht vollständig ausgeschlossen ist und zudem auf den Gewerbeflächen – unabhängig von der im Mischgebiet genehmigten Nutzung – die festgesetzten flächenbezogenen Schallleistungspegel einzuhalten sind. Der bloße Verweis auf eine Vielzahl von Befreiungen zeigt keine Anhaltspunkte dafür auf, dass der Satzungsgeber mehreren Festsetzungen zusammen eine nachbarschützende Wirkung beimessen wollte (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2014 – 2 ZB 12.1787 – juris Rn. 8). Dementsprechend richtet sich der Nachbarschutz – wie vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegt – nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 15). Alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte nicht berührt werden (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5). Mangels einer Befreiung von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans kommt es daher hier nicht darauf an, ob die Befreiungen – wie die Klägerin meint – die Grundzüge der Planung berühren (BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 15).
3. Aus dem Zulassungsvorbringen lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Baugenehmigungsbehörde bei ihrer Ermessensentscheidung im Rahmen der Befreiungen von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 6 nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen der Klägerin genommen hat. Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen dabei wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 19). Das Verwaltungsgericht hat diese Maßstäbe zutreffend angewandt und ausgeführt, dass die Klägerin – unabhängig von der konkreten Nutzung des Nachbargrundstücks – die festgesetzten flächenbezogenen Schalleistungspegel einhalten muss und darüber hinaus in ihren Erweiterungsabsichten, wie sich aus dem bestandskräftigen Vorbescheid vom 26. Juni 2017 über den Neubau einer Produktionshalle mit Lager und Vertrieb von Folien ergibt, nicht eingeschränkt ist. Dem tritt das Zulassungsvorbringen mit dem bloßen Hinweis auf ein Ruhebedürfnis der Pflegeheimbewohner nicht substantiiert entgegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene im Zulassungsverfahren einen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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