Baurecht

Kein Nachbarschutz bei Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung

Aktenzeichen  9 ZB 16.1012

Datum:
27.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 15278
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 59 S. 1, Art. 71
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Betrifft die erteilte Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans eine Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient (hier: Vollgeschosszahl und Dachform), so hat der Nachbar über den Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessen hinaus keinen umfassenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Nachbarschutz richtet sich dann nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird. Alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 15.1363 2016-03-17 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 17. März 2016 ist wirkungslos geworden.
III. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen als Gesamtschuldner. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Das Verfahren ist aufgrund der übereinstimmenden Erledigterklärungen der Parteien beendet und einzustellen; das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 17. März 2016 ist wirkungslos geworden (§ 173 VwGO, § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend).
Die Kostenentscheidung ist gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands des Rechtsstreits zu treffen. Für die hierbei maßgebliche Beurteilung der Erfolgsaussichten bis zum Eintritt der Erledigung kommen wegen des kursorischen Charakters der Kostenentscheidung etwa erforderliche weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts nicht in Betracht; auch schwierige Rechtsfragen sind nicht mehr zu entscheiden (BayVGH, B.v. 26.01.2017 – 9 ZB 15.2286 – juris Rn. 3). Bei Anwendung dieses Maßstabes entspricht es der Billigkeit, die Kosten den Klägern (diesen untereinander als Gesamtschuldner) aufzuerlegen. Hierfür sprechen im Wesentlichen folgende Erwägungen:
Es ist zwar anerkannt, dass eine Baugenehmigung aufzuheben ist, wenn Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 28.12.2016 – 9 ZB 14.2853 – juris Rn. 6). Eine derartige Unbestimmtheit des Vorbescheids in nachbarrechtlich relevanten Merkmalen lag aber nicht vor, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat.
Entgegen der Behauptung der Kläger nimmt der Vorbescheid vom 7. Juli 2015 ausdrücklich Bezug auf die zusammen mit dem Antrag eingereichte „zeichnerische Darstellung mit Berechnung für das Maß der baulichen Nutzung“, die Konkretisierung der Pläne zur Sitzung des Gemeinderats am 30. Oktober 2014 sowie die Berechnung der GRZ vom 27. November 2014. Aufgrund der Fragestellung umfasst der Vorbescheid damit – lediglich – die Feststellung, dass auf dem Grundstück FlNr. 90/3 Gemarkung Atzelsberg die Errichtung von 4 Doppelhäusern [8 Doppelhaushälften] mit Carports mit jeweils zwei Vollgeschossen und Flachdach mit den sich aus dem eingereichten Lageplan und der eingereichten Ansicht ergebenden Maßen sowie den in der Aufstellung genannten Eckdaten unter Beachtung der genannten Nebenbestimmungen grundsätzlich genehmigungsfähig ist. Zu Lasten der Kläger gehende Unklarheiten in Hinblick auf die Beurteilung der Verletzung von Nachbarrechten ergeben sich daraus nicht. Einen darüber hinausgehenden materiellen Anspruch darauf, dass der Bauantragsteller einwandfreie Bauvorlagen einreicht, hat der Nachbar grundsätzlich nicht (vgl. BayVGH, B.v. 28.12.2016 – 9 ZB 14.2853 – juris Rn. 6), zumal nur die mit dem Vorbescheid entschiedenen Fragen Gegenstand der Feststellungswirkung des Vorbescheids sind.
Mit dem Einwand, der Vorbescheid sei nicht zuletzt in Hinblick auf die Dachform zu unbestimmt, weil er auch die Errichtung von Doppelhäusern mit Satteldächern umfasse, lässt sich ebenfalls keine Verletzung von drittschützenden Vorschriften begründen, weil das Vorbringen unzutreffend ist. Gegenstand der Feststellungswirkung des Vorbescheids sind nur die mit dem Vorbescheid entschiedenen Fragen, ausweislich des Vorbescheids also die Errichtung von Doppelhäusern „mit der geplanten Dachform Flachdach“.
Eine Verletzung von Nachbarrechten der Kläger durch den angefochtenen Vorbescheid wegen Nichteinhaltung von Abstandsflächen kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Prüfungsumfang im Vorbescheidsverfahren auf das jeweilige Prüfprogramm im entsprechenden Baugenehmigungsverfahren beschränkt ist (vgl. Art. 71 Satz 4 BayBO). Bei Vorhaben, die – wie hier – im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, kann deshalb nur über die Vereinbarkeit mit den in Art. 59 Satz 1 BayBO angeführten Vorschriften entschieden werden (vgl. Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 71 Rn. 7). Die Prüfung der Abstandsflächenvorschriften ist darin nicht vorgesehen; eine Abweichung (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) wurde diesbezüglich nicht beantragt. Im Übrigen war die Einhaltung von Abstandsvorschriften nicht Gegenstand des Vorbescheidsantrags und kann daher schon deshalb nicht von seiner Feststellungswirkung umfasst sein.
Abgesehen davon könnte auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine – unterstellte – Verletzung der Abstandsflächenvorschriften eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots indizieren würde (BayVGH B. v. 23.3.2016 – 9 ZB 13.1877 – juris Rn. 7).
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung regelmäßig keine drittschützende Wirkung zukommt, weil diese wegen ihrer städtebaulichen Ordnungsfunktion in erster Linie öffentlichen Belangen dienen und nicht dem Schutz Dritter. Entsprechendes gilt für Festsetzungen zur Dachform sowie für Festsetzungen von Parkflächen. Zutreffend ist auch, dass die damit vorgegebene Ordnung der Bebauung ausnahmsweise auch anders motiviert sein kann als städtebaulich. Insoweit ist der Wille der planenden Gemeinde maßgebend, der durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln ist (BayVGH, B.v.21.9.2016 – 9 ZB 14.2715 – juris Rn. 11).
Hierzu hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass der Bebauungsplan Nr. 2 Rathsberg Süd weder im Text, noch in der Begründung Ausführungen enthält, dass den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur Dachform ausnahmsweise eine drittschützende Wirkung zukommen soll. Vielmehr sieht der Bebauungsplan für das Baugrundstück ein sehr großes Baufenster vor; die Baugrenzen werden von dem geplanten Bauvorhaben eingehalten. Allein der Umstand, dass sich in der näheren Umgebung eine villenartige Wohnbebauung befindet, widerspricht nicht einer nachträglichen Nachverdichtung. Entsprechende Festsetzungen, die gerade dem Erhalt der bisherigen villenartigen Bebauung des Plangebiets dienen, sind von der Gemeinde nicht, auch nicht nachträglich getroffen worden. Darüber hinaus sind auch keine sonstigen Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Plangeber mit den planerischen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur Dachform nicht nur städtebauliche Ziele verfolgt, sondern erkennbar auch den Schutz der Nachbarn im Blick hatte.
Eine nachbarschützende Wirkung der fraglichen Maßfestsetzungen ließ sich entgegen der Ansicht der Kläger auch nicht damit begründen, dass hier „Quantität in Qualität“ umschlage und daher der Sache nach die Art der baulichen Nutzung betroffen wäre. Denkbar ist dies etwa dann, wenn die quantitative Dimensionierung eines Vorhabens derart aus dem Rahmen fällt, dass eine in dem Baugebiet in seiner konkreten Ausgestaltung unzumutbare Qualität im Hinblick auf die Art der Nutzung erreicht wird (vgl. OVG NW, B.v.21.2.2005 – 10 B 1269/04 – juris Rn. 10; Söfker, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2017, § 15 BauNVO Rn. 18). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat (vgl. auch OVG B, U.v. 30.6.2017 – OVG 10 B 10.15 – juris Rn. 40; BayVGH, B.v. 3.2.2014 – 9 CS 13.1916 – juris Rn. 13).
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Rechtsschutz des Nachbarn im Rahmen von Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB davon abhängt, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Betrifft die erteilte Befreiung aber – wie hier – eine Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient (Vollgeschosszahl und Dachform), so hat der Nachbar über den Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessen hinaus keinen umfassenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. Der Nachbarschutz richtet sich dann nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 15). Alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte nicht berührt werden (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5; OVG NW, U.v. 9.5.2016 – 10 A 1611/14 – juris Rn. 49).
Im Ergebnis gilt nichts anderes, wenn eine an sich erforderliche Befreiung nicht erteilt worden ist. Hat die Baugenehmigungsbehörde ein Vorhaben ohne eine solche Befreiung genehmigt, so können Rechte des Nachbarn nur durch die Baugenehmigung selbst, nicht jedoch durch die fehlende Befreiung bzw. durch das Unterbleiben einer Ermessensbetätigung verletzt sein. Zwar ist § 15 Abs. 1 BauNVO nicht unmittelbar anwendbar, wenn ein Vorhaben den Festsetzungen eines Bebauungsplans widerspricht, doch kann in einem solchen Fall Nachbarschutz in entsprechender Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO unter Berücksichtigung der Interessenbewertung nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommen. Denn wenn schon gegen Baugenehmigungen, die in Übereinstimmung mit den Festsetzungen eines Bebauungsplans erteilt worden sind, eine Verletzung des in § 15 Abs. 1 BauNVO konkretisierten Rücksichtnahmegebots geltend gemacht werden kann, so muss dies im Ergebnis erst recht im Hinblick auf Baugenehmigungen gelten, die diesen Festsetzungen widersprechen (vgl. OVG NW, U.v. 9.5.2016 – 10 A 1611/14 – juris Rn. 51).
Auch hinsichtlich des Gebots der Rücksichtnahme ist eine Rechtsverletzung nicht ersichtlich. Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme ergab sich nicht aus dem Vorbringen, vom Bauvorhaben gehe eine erdrückende Wirkung aus. Eine solche erdrückende Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Bauvolumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 28.12.2016 – 9 ZB 14.2853 – juris Rn. 9). Das Verwaltungsgericht hat hierzu zu Recht ausgeführt, davon könne bei dem Bauvorhaben nicht gesprochen werden, da es das sehr groß angelegte Baufenster des Bebauungsplans einhalte, die Gesamthöhe jedes Gebäudes 5 m betrage und die kürzeste Entfernung einer der geplanten Doppelhaushälften zum nächstgelegenen Wohnhaus auf FlNr. 90/5 Gemarkung Atzelsberg etwa 7 – 8 m betrage.
Die Gesamtschuldnerhaftung der Kläger für die Kosten folgt aus § 159 Satz 2 VwGO. Da sich die Beigeladene mangels Antragstellung im gerichtlichen Verfahren (sowohl in erster Instanz als auch im Zulassungsverfahren) keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, trägt diese ihre außergerichtlichen Kosten selbst, § 154 Abs. 3 Halbs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 2 VwGO).


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