Baurecht

Kein Verstoß gegen Gebietsbewahrungsanspruch oder Gebietsprägungsanspruch durch Wohngebäude im faktischen allgemeinen Wohngebiet

Aktenzeichen  AN 9 K 19.02401

Datum:
9.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38188
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1, Abs. 2
BauNVO § 4 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 15 Abs. 1 S. 1, S. 2
BayBO Art. 71

 

Leitsatz

1. Umfasst das geplante Vorhaben ausschließlich Wohnnutzung, ist es nach § 34 Abs. 2 BauGB, § 4 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BauNVO im faktischen allgemeinen Wohngebiet generell zulässig. Ein Abwehrrecht des Nachbarn gegen das geplante Vorhaben besteht demgemäß hinsichtlich der Art der Nutzung nicht. Dementsprechend kommt durch ein geplantes Wohngebäude unabhängig von der Zahl der Wohnungen weder eine Störung des nachbarlichen Austauschverhältnisses noch eine Verfremdung des Wohngebiets in Betracht, so dass der Gebietsbewahrungsanspruch des Nachbarn durch das Vorhaben nicht verletzt wird. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die gebietstypische Prägung Wohnen wird durch ein geplantes Wohngebäude nicht verletzt. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass in dem geplanten Bauvorhaben mehrere Wohnungen entstehen, denn die Zahl der Wohnungen ist – jedenfalls im Anwendungsbereich des § 34 BauGB – kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung prägt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist in Ziffer 2 vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% der vollstreckbaren Kosten.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet.
Der Vorbescheid der Beklagten vom 5. November 2019 i.d.F. des Änderungsbescheids vom 14. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Nach Art. 71 Satz 1 BayBO kann vor Einreichung des Bauantrags auf schriftlichen Antrag des Bauherrn zu einzelnen in der Baugenehmigung zu entscheidenden Fragen vorweg ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid) erteilt werden. Ein Vorbescheid beinhaltet die verbindliche Feststellung der Bauaufsichtsbehörde, dass dem Bauvorhaben hinsichtlich der zur Entscheidung gestellten Fragen öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. Die vorweg entschiedenen bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsfragen sind im Baugenehmigungsverfahren nicht mehr zu prüfen. Der Umfang der Bindungswirkung eines bestandskräftigen Bauvorbescheids richtet sich nach den gestellten Fragen und den zugrundeliegenden Plänen (BayVGH, B.v. 29.04.2019 – ZB 15.2606 – juris). Nach ständiger Rechtsprechung können sich Dritte gegen einen Vorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg wehren, wenn der angefochtene Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris; VG Ansbach, U.v. 17.4.2013 – 9 K 12.01176 – BeckRS 2013, 50835).
Die mit dem Vorbescheid, insbesondere den Fragen 1, 2 und 5 abgefragte planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich hier nach § 34 Abs. 1, Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO, da sowohl das Baugrundstück wie die nähere Umgebung in einem Gebiet liegen, für das kein Bebauungsplan existiert, das aber nach der übereinstimmenden Auffassung der Parteien, der die Kammer folgt, innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile liegt und aufgrund der Bebauung und Nutzungsstruktur einem allgemeinen Wohngebiet entspricht. Nachdem das gegenständliche Vorhaben ausschließlich Wohnnutzung umfasst, ist das Vorhaben nach § 34 Abs. 2 BauGB, § 4 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BauNVO im vorliegenden faktischen allgemeinen Wohngebiet generell zulässig. Ein Abwehrrecht der Kläger gegen das geplante Vorhaben besteht demgemäß hinsichtlich der Art der Nutzung nicht, zumal die Kläger selbst auf ihren Grundstücken wohnen. Dementsprechend kommt durch die geplanten Wohngebäude unabhängig von der Zahl der Wohnungen weder eine Störung des nachbarlichen Austauschverhältnisses noch eine Verfremdung des Wohngebiets in Betracht, so dass der Gebietsbewahrungsanspruch der Kläger durch das Vorhaben nicht verletzt wird (vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2019, 9 CS 17.2482).
Soweit sich die Kläger auf einen aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO abgeleiteten Anspruch auf Wahrung der typischen Prägung des Gebiets (Gebietsprägungsanspruch) berufen, kann dies den Klagen nicht zum Erfolg verhelfen. Unabhängig davon, ob ein solcher Anspruch überhaupt besteht, wird die gebietstypische Prägung Wohnen durch die geplanten Wohngebäude nicht verletzt. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass in dem geplanten Bauvorhaben mehrere Wohnungen entstehen, denn die Zahl der Wohnungen ist – jedenfalls im hier vorliegenden Anwendungsbereich des § 34 BauGB – kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung prägt (BayVGH, a.a.O., BVerwG U.v. 13.6.1980 – IV C 98.77). Selbst wenn man davon ausgeht, dass ausnahmsweise Quantität in Qualität umschlagen könnte, kann hier von einer den angenommenen Gebietscharakter verletzenden Wirkung des geplanten Wohnbauvorhabens nicht ausgegangen werden. So fehlt es hier ersichtlich schon an einer homogenen Bebauungs- und Nutzungsstruktur allein im Hinblick auf die Vornutzung des Baugrundstücks und die umfangreiche Bebauung der darauf vorhandenen Polizeiinspektion, aber auch in der näheren Umgebung, wie die ins Verfahren eingeführten Luft- und Lichtbilder zeigen.
Das Vorhaben ist gegenüber den Klägern auch nicht rücksichtslos. Das hier aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO herzuleitende Gebot der gegenseitigen nachbarschaftlichen Rücksichtnahme wäre dann verletzt, wenn das Vorhaben den Klägern unzumutbare Belastungen auferlegen würde, was jeweils im Einzelfall zu prüfen ist. Gegeneinander abzuwägen sind dabei die Schutzwürdigkeit der Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, wobei eine Gesamtschau der vom Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen vorzunehmen ist (BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – juris).
Gemessen an diesen Vorgaben stellt sich das streitgegenständliche Vorhaben entgegen den Ausführungen der Kläger weder im Hinblick auf die gerügte einmauernde oder einkesselnde Wirkung noch hinsichtlich anderer Gesichtspunkte als rücksichtslos dar. Was die Beeinträchtigung der Grundstücke der Kläger durch die geplanten Gebäude angeht, so ist hinsichtlich der Besonnung und Belichtung zunächst festzustellen, dass die drei Wohngebäude mit Flachdach entlang der …Straße genau im Norden der klägerischen Anwesen liegen und somit ein Verlust an Besonnung oder Belichtung praktisch ausgeschlossen erscheint, wohingegen die Wohngebäude auf den Grundstücken der Kläger, insbesondere aber die entlang der nördlichen Grundstücksgrenze vorhandenen und zwischen 2,50 m und ca. 4 m hohen Nebengebäude den unmittelbar nördlichen davon gelegenen Teil des Baugrundstücks durchaus verschatten. Was die entlang der … Straße gelegenen Häuser 4 und 5 des Bauvorhabens angeht, so liegen diese westlich bzw. nordwestlich der klägerischen Gebäude, werden von diesen aber durch das auf dem Grundstück FlNr. … befindliche westliche Reiheneckhaus abgeschirmt. Zudem halte alle fünf Gebäude die Abstandsflächen zu den Anwesen der Kläger ein, wobei vom Haus 1 Abstandsflächen wegen dessen Situierung ohnehin nicht auf die Grundstücke der Kläger fallen könnten, das Haus 2 aufgrund seiner Höhe und der Entfernung zum Anwesen der Kläger zu 2) und 3) sogar H einhält, während das Haus 3 bei einer Wandhöhe von 8,87 m einen Abstand zu den südlich gelegenen Grundstücken der Kläger von ca. 8 m aufweist. Die nach der Abstandsflächensatzung der Beklagten erforderlichen 0,4 H werden deshalb nicht nur eingehalten, sondern die Abstände der Gebäude von den betreffenden Grundstücksgrenzen gehen deutlich darüber hinaus. Eine unzumutbare Einschränkung der Belüftung der klägerischen Grundstücke ist weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen, aber auch eine unzumutbare Beeinträchtigung des Wohnfriedens ist nicht ersichtlich. Soweit die Kläger insoweit auf die nach Süden ausgerichteten geplanten Balkone an den Häusern Nr. 2 und 3 verweisen, so haben auch diese Balkone einen Mindestabstand von 6 m bzw. 10 m zur Grundstücksgrenze, so dass für eine unzumutbare Beeinträchtigung kein Anzeichen ersichtlich ist, zumal der Einblick vom Nachbargrundstück aus auf das eigene Grundstück, der hier gerade auch infolge der umfangreichen nördlichen Grenzbebauung auf den Grundstücken der Kläger ohnehin nur eingeschränkt möglich sein wird, weder generell noch hier im Einzelfall abgewehrt werden kann.
Sonstige im Rahmen des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme heranziehbare Beeinträchtigungen der klägerischen Grundstücke durch das Bauvorhaben sind nicht ersichtlich, insbesondere der vom Vorhaben ausgelöste Verkehr auf dem Baugrundstück bewegt sich nach den Planungen in der Tiefgarage, deren Ausfahrt unterhalb des Hauses 4 und von diesem abgeschirmt zur … Straße hin erfolgt. Soweit sich die Kläger darüber hinaus auf den von ihnen befürchteten übermäßigen Verkehr auf der … Straße berufen, so kann zwar ein Verstoß gegen das Gebot zur Rücksichtnahme ausnahmsweise dann in Betracht kommen, wenn sich die Erschließungssituation eines Grundstücks durch eine vorhabensbedingte Überlastung einer das Grundstück des Betroffenen erschließenden Straße oder durch unkontrollierten Parksuchverkehr erheblich verschlechtert (vgl. BayVGH B.v. 8.1.2019, 9 CS 17.2482). Für eine solche übermäßige und unzumutbare Beeinträchtigung der Kläger in ihrem Eigentum bestehen hier aber keine Anhaltspunkte, da die Grundstücke der Kläger nicht direkt durch die im Westen verlaufende … Straße erschlossen werden, sondern durch die von dieser ausgehende südlich ihrer Grundstücke verlaufenden Erschließungsstraße. Im Übrigen enthält der Vorbescheid keine weiteren Regelungen etwa zur Anzahl der notwendigen Stellplätze, so dass die Frage, ob sich die Stellplatzsituation in der unmittelbaren Nähe der klägerischen Grundstücke unzumutbar verschlechtern könnte, jedenfalls im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen ist.
Soweit sich die Kläger darüber hinaus gegen eine von ihnen befürchtete generelle Überlastung der Infrastruktur oder der Einrichtungen in ihrer Umgebung wenden, so bestehen weder substantiierte nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine solche Überlastung noch wäre diese Prüfungsgegenstand im vorliegenden Verfahren.
Soweit im Vorbescheid Abweichung zugelassen wird wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zwischen den erforderlichen seitlichen Abstandsflächen der Balkone auf dem Baugrundstück untereinander bzw. der seitlichen Abstandsflächen der Balkone und der Gebäudeaußenwand sowie zwischen gegenüberliegenden Gebäudeteilen im Bereich der Vor- und Rücksprünge in der Fassade Haus 5 sowie zwischen Gebäudeteilen und Treppenhaus Haus 4, so ist eine Beeinträchtigung der Kläger insofern nicht ersichtlich, da es sich jeweils um auf dem Baugrundstück selbst liegende Abstandsflächen zwischen dort geplanten Gebäuden handelt und die Grundstücke der Kläger hierdurch nicht betroffen werden. Auch für eine Gefährdung der gesunden Wohnverhältnisse, sei es auf dem Baugrundstück, erst recht aber auf den Grundstücken der Kläger, bestehen insoweit keine Anhaltspunkte.
Soweit sich die Kläger auf die ihrer Meinung nach fehlende Erschließung des Baugrundstücks im Hinblick auf die Entwässerung berufen, so ist die konkrete Gestaltung der Entwässerung nicht Gegenstand des Vorbescheids, sondern dem Baugenehmigungsverfahren vorbehalten. Im Hinblick darauf, dass das Baugrundstück in weiten Teilen bereits zuvor bebaut und genutzt worden war, bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die geplante Bebauung zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der klägerischen Grundstücke im Hinblick auf Vernässung oder Überschwemmungen führen könnte, nicht.
Im Übrigen erscheinen der Kammer die Regelungen im Vorbescheid ebenso wie die durch diesen beantworteten Fragen im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens als hinreichend bestimmt und klar genug, so dass die Klagen auch insofern ohne Erfolg bleiben müssen.
Nach alledem sind die Klagen als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO.
Da sich die Beigeladene durch die Stellung von Anträgen dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, den Klägern auch ihre notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen aufzuerlegen.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.


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