Baurecht

Keine Ermessensreduzierung auf Null für ein Einschreiten der Baubehörde, wenn allein eine Verletzung des Abstandsflächenrechts vorliegt!

Aktenzeichen  M 29 K 18.4607

Datum:
17.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40813
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 76 S. 1

 

Leitsatz

1. In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass allein eine Verletzung des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO oder einer sonstigen nachbarschützenden Vorschrift durch den benachbarten Bauherrn nicht genügt, um eine Reduzierung des von Art. 76 Satz 1 BayBO eingeräumten Ermessens auf eine strikte Verpflichtung der Bauaufsichtsbehörden zum Einschreiten zu begründen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Nachbarn ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Rechtsanspruch auf Einschreiten nur bei hoher Intensität der Störung oder Gefährdung des Nachbarn zuzubilligen. Das ist der Fall, wenn die von der (potenziell) rechtswidrigen baulichen Anlage ausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn einen erheblichen Grad erreicht und die Abwägung mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Übergewicht der nachbarlichen Interessen ergibt, insbesondere wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.     
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Der Bescheid des Landratsamts F. vom … August 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten; sie haben keinen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten durch Erlass einer Beseitigungsanordnung kann sich aus Art. 76 Satz 1 BayBO ergeben. Nach dieser Vorschrift kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung von Anlagen anordnen, die im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert wurden, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Ein Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten erfordert dabei zum einen, dass er durch die bauliche Anlage in nachbarschützenden Rechten verletzt ist, zum anderen, dass das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde auf Null reduziert ist. Liegt eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vor, hat der Kläger lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein bauaufsichtliches Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde sowie auf Art und Weise des Einschreitens (BayVGH, B.v. 4.7.2011 – 15 ZB 09.1237 – juris Rn. 11; B.v. 07.09.2018 – 9 ZB 16.1890 – juris Rn. 6). Dabei gelten für die Ermessensausübung der Bauaufsichtsbehörde die allgemeinen Grundsätze (BayVGH, U.v. 4.12.2014 – 15 B 12.1450 – juris Rn. 21).
a. Das streitgegenständliche Gebäude verstößt gegen die drittschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts, da es nicht die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderliche Abstandsfläche zur Grundstücksgrenze der Kläger einhält.
Die Abstandsflächenplicht entfällt nicht nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO. Danach sind in den Abstandsflächen eines Gebäudes sowie ohne eigene Abstandsflächen, auch wenn sie nicht an die Grundstücksgrenze oder an das Gebäude angebaut werden, unter anderem zulässig Gebäude ohne Aufenthaltsräume mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 9 m, bei einer Länge der Grundstücksgrenze von mehr als 42 m darüber hinaus freistehende Gebäude ohne Aufenthaltsräume und Feuerstätten mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m, nicht mehr als 50 m³ Brutto-Rauminhalt und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 5 m.
Die Voraussetzungen dieser Norm sind vorliegend nicht erfüllt, da sich neben dem streitgegenständlichen Unterstand an der nördlichen Grundstücksgrenze noch zwei weitere grenzständig errichtete Gebäude mit insgesamt 10 m Länge befinden und so die Gesamtlänge der grenznahen Bebauung von insgesamt 9 m je Grundstücksgrenze bzw. von insgesamt 14 m nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 HS. 2 BayBO überschritten wird.
b. Jedoch liegt eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vor.
In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass allein eine Verletzung des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO oder einer sonstigen nachbarschützenden Vorschrift durch den benachbarten Bauherrn nicht genügt, um eine Reduzierung des von Art. 76 Satz 1 BayBO eingeräumten Ermessens auf eine strikte Verpflichtung der Bauaufsichtsbehörden zum Einschreiten zu begründen. Eine solche Ermessensreduzierung ist regelmäßig nur anzunehmen, wenn die von der rechtswidrigen Anlage ausgehende Beeinträchtigung einen erheblichen Grad erreicht und die Abwägung mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Übergewicht der nachbarlichen Interessen ergibt (BayVGH, B.v. 15.01.2019 – 15 ZB 17.317 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Die Frage einer Ermessensreduktion zugunsten eines bauaufsichtlichen Einschreitens ist damit auch bei einer Verletzung nachbarschützender Normen des Abstandsflächenrechts von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig (BayVGH, B.v. 07.09.2018 – 9 ZB 16.1890 – juris Rn. 6). Dem Nachbarn ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Rechtsanspruch auf Einschreiten nur bei hoher Intensität der Störung oder Gefährdung des Nachbarn zuzubilligen. Das ist der Fall, wenn – wie oben bereits beschrieben – die von der (potenziell) rechtswidrigen baulichen Anlage ausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn einen erheblichen Grad erreicht und die Abwägung mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Übergewicht der nachbarlichen Interessen ergibt, insbesondere wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind. Der Vortrag, das streitgegenständliche Gebäude sei formell und materiell illegal und verletze den Nachbarn in seinen Rechten, genügt mithin nicht, um einen strikten Anspruch wegen Ermessensreduzierung zu begründen (BayVGH, B.v. 10.04.2018 – 15 ZB 17.45 – juris Rn. 19 m.w.N.).
Diese hohen Voraussetzungen, insbesondere eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für wesentliche Rechtsgüter der Kläger, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Die Kläger erfahren durch den streitgegenständlichen Unterstand keine nennenswerte Beeinträchtigung.
(1) Wie der Augenschein gezeigt hat, sind auch von der Nordwestecke des klägerischen Gebäudes aus lediglich die Dachflächen der drei Nebengebäude des Beigeladenen insgesamt im Blickfeld. Ansonsten sind durch die klägerische Mauer die Gebäude größtenteils vom Grundstück der Kläger aus nicht zu sehen.
Im Übrigen besteht kein Rechtsanspruch der Kläger vom Anblick von Gebäuden im Außenbereich verschont zu bleiben. Die Kläger können sich daher nicht auf eine Beeinträchtigung des bislang freien Ausblicks von ihrer Terrasse aus nach Süden berufen. Die Aufrechterhaltung einer ungeschmälerten Aussicht stellt eine durch die Baugenehmigung vermittelte Chance dar, deren Vereitelung grundsätzlich nicht dem Entzug einer Rechtsposition gleichkommt (BayVGH, B.v. 17.6.2010 – 15 ZB 09.2132 – juris Rn. 13). Der Kläger, der sich seine Bauwünsche erfüllt hat, hat es auch nicht in der Hand, durch die Art und Weise seiner Bauausführung unmittelbaren Einfluss auf die Bebaubarkeit anderer Grundstücke zu nehmen. Die Baugenehmigung schafft keine Grundlage dafür, weitere (Nachbar-) Vorhaben mit dem Argument abzuwehren, für das behördlich gebilligte eigene Baukonzept sei von ausschlaggebender Bedeutung gewesen, dass der Eigentümer des angrenzenden Grundstücks die Nutzungsmöglichkeiten, die das Baurecht an sich eröffnet, nicht voll ausschöpft (BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 03.02.2017 – 9 CS 16.2477 – juris Rn. 26). Im Übrigen bestand auch schon vor der Neuerrichtung des streitgegenständlichen Unterstands ein Gebäude an genau derselben Stelle auf dem Grundstück des Beigeladenen.
(2) Auch der Einwand, der Unterstand führe zu nicht unerheblichem Lärm, führt nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null.
Das streitgegenständliche Gebäude liegt im Außenbereich, so dass die Lage des Wohnanwesens der Kläger am Ortsrand dessen Schutzwürdigkeit hinsichtlich der (Lärm-) Beeinträchtigungen, die durch den Unterstand verursacht werden, bestimmt. Eigentümer von Wohngrundstücken am Rande des Außenbereichs können aber nicht damit rechnen, dass in ihrer Nachbarschaft keine emittierenden Nutzungen entstehen; sie dürfen nur darauf vertrauen, dass keine mit der Wohnnutzung unverträgliche Nutzung entsteht. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da die Lärmbelastung nicht über das in einem – ebenso dem Wohnen dienenden – Misch- oder Dorfgebiet zulässige Maß hinausgeht (vgl. BVerwG, B.v. 18.12.1990 – 4 N 6.88 – juris Rn. 29). Der Beigeladene nutzt den Unterstand nach seinen Angaben nicht für seinen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern zu privaten Zwecken. Auch der Augenschein hat dementsprechend gezeigt, dass auf dem Grundstück des Beigeladenen keine erkennbare Fahrspur oder ähnliches zu dem gegenständlichen Gebäude hin existiert. Die Kläger müssen ferner sogar damit rechnen, dass sich landwirtschaftliche Betriebe, die sich in einer vergleichbaren Ortsrandlage – wie hier das Grundstück des Beigeladenen – befinden, in den Außenbereich hinein erweitern (BayVGH, B.v. 03.02.2017 – 9 CS 16.2477 – juris Rn. 19).
(3) Soweit sich die Kläger beeinträchtigt sehen, weil Regenwasser in die Gartenmauer der Kläger und unter der Mauer ablaufe und diese auf Dauer schädige, müssen sie sich auf den Zivilrechtsweg verweisen lassen. Die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit einem solchen Recht ist nicht Gegenstand der bauaufsichtlichen Prüfung. Über die Vereinbarkeit privater Rechte Dritter mit dem Bauvorhaben wird gemäß Art. 68 Abs. 4 BayBO auch im Baugenehmigungsverfahren nicht entschieden. Auch bei einer Beseitigungsanordnung nach Art. 76 Satz 1 BayBO prüft die Behörde nach dem Wortlaut der Norm die Vereinbarkeit mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Daher begründet ein privates Recht grundsätzlich auch keinen Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten, sondern muss vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden.
(4) Auch soweit sich die Kläger darauf berufen, an ihrer Mauer Instandhaltungs- und Wartungsarbeiten aufgrund des Unterstands nicht mehr durchführen zu können, werden sie nicht so gravierend beeinträchtigt, dass eine Beseitigung des Gebäudes die einzig richtige Ermessensentscheidung wäre. Es ist den Klägern zumutbar, sich über das Anwesen des Beigeladenen Zutritt zur Rückseite ihrer Mauer zu verschaffen (vgl. BayVGH, B.v. 04.07.2011 – 15 ZB 09.1237 – juris Rn. 13). Auch insoweit müssen sich die Kläger aber darauf verweisen lassen, dass sich auch schon zuvor an derselben Stelle ein grenzständiges Gebäude auf dem Grundstück des Beigeladenen befunden hat und die Kläger trotzdem eine Mauer direkt an ihrer Grundstücksgrenze errichtet haben. Dies kann einem Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten der Kläger nach Treu und Glauben entgegengehalten werden, wenn sie nun ihrerseits Einwendungen gegen das grenzständig errichtete Gebäude aufgrund des Bestehens ihrer Mauer geltend machen.
c. Dem damit nur bestehenden Anspruch der Kläger auf fehlerfreie Ermessensausübung ist das Landratsamt nachgekommen, indem es den Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten abschlägig verbeschieden hat.
Ermessenfehler des Beklagten sind diesbezüglich nicht gegeben. Der Beklagte durfte insbesondere bei der Entscheidung berücksichtigen, dass sich an der Stelle auch schon vorher ein grenzständiges Gebäude befunden hat und hat hierbei auch erkannt, dass es sich nicht um die Sanierung des zuvor bestehenden Gebäudes, sondern um einen Neubau handelt. Der Beklagte hat auch zutreffend darauf abgestellt, dass eine besonders qualifizierte Nachbarrechtsbeeinträchtigung nicht vorliegt (vgl. oben b.).
3. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, weil er keinen Antrag gestellt und sich damit nicht dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben