Baurecht

Nachbareilantrag, Abweichung von den ab dem 1. Februar 2021 geltenden Abstandflächen für zu diesem Zeitpunkt bereits anhängige Bauantragsverfahren, Nachschieben von Ermessenserwägungen, Interessenabwägung

Aktenzeichen  M 11 SN 22.658

Datum:
7.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 5996
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80a Abs. 3
VwGO § 114
BayBO Art. 6
BayBO Art. 63

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 26. Juli 2021 (M 11 K 21.3966) gegen die Baugenehmigung des Landratsamts … … … vom 30. Juni 2021 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtschutzes gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung unter Abweichung von Abstandsflächen.
Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. … der Gemarkung …, welches mit einem Wohnhaus bebaut ist. Nördlich grenzt an das Grundstück das Vorhabengrundstück Fl.Nr. … an. Ein Bebauungsplan besteht für das Gebiet nicht.
Unter dem 20. August 2020 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau von 4 Reihenhäusern auf dem Vorhabengrundstück. Die Gemeinde erteilte hierzu im Rahmen der laufenden Verwaltung das gemeindliche Einvernehmen.
Mit Schreiben vom 5. November 2020 und 18. Februar 2021 forderte das Landratsamt … (Landratsamt) von Seiten des Beigeladenen verschiedene Unterlagen nach; die gesetzten Nachreichungsfristen wurde auf Bitten des Architekten des Beigeladenen wiederholt verlängert. Auf Nachfrage des Architekten des Beigeladenen vom 24. März 2021 betreffend die Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach der zum 1. Februar 2021 in Kraft getretenen Neuregelung des Abstandsflächenrechts empfahl das Landratsamt mit E-Mail vom 25. März 2021 die Nachreichung eines Abweichungsantrags.
Mit Schreiben vom 20. Mai 2021 reichte der Beigeladene beim Landratsamt die nachgeforderten Unterlagen einschließlich eines Abstandsflächennachweises nach BayBO 2021 nach. Zugleich wurde ein förmlicher Antrag auf Abweichung von Art. 6 BayBO 2021 wegen einer Überschreitung der Abstandsflächen im Norden und Süden um jeweils 13,5 cm gemäß Eingabeplan (Tektur) vom 20. Mai 2021 gestellt. Zur Begründung dieses Antrags wurde ausgeführt, dass die Antragstellung vor Einführung der BayBO 2021 erfolgt sei und die Neuregelung der Abstandsflächen nunmehr zu einer (unwesentlichen) Überschreitung führe. Die Abstandsflächen gemäß der bei der ersten Antragstellung gültigen Fassung der BayBO 2020 seien eingehalten.
Mit Bescheid vom 30. Juni 2021 erteilte das Landratsamt die beantragte Baugenehmigung unter Abweichung von den Abstandsflächen für das Vorhaben nach Norden zu Fl.Nr. … und nach Süden zur Fl.Nr. … [gemeint: …]. Eine Begründung der auf Grundlage des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilten Abweichung findet sich in dem Bescheid nicht. Der Bescheid wurde dem Beigeladenen am 15. Juli 2021 ausgehändigt und dem Antragsteller am 14. Juli 2021 zugestellt.
Auf wiederholte Nachfrage des Antragstellers zur Begründung der Überschreitung der Abstandsflächen teilte das Landratsamt diesem mit E-Mail vom 19. Juli 2021 mit:
„[…]
Allerdings bestand bei dem Vorhaben Ihres Nachbarn vorliegend die Thematik des sich am 01.02.2021 veränderten Abstandsflächenrechts.
Da der Antrag Ihres Nachbarn vor dieser Gesetzesänderung am 01.02.2021 einging, geben die hierzu erlassenen Vollzugshinweise des Ministeriums (diese sind auf der Internetseite des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr öffentlich abrufbar) vor, eine Abweichung zu erteilen, wenn die vor dem 01.02.2021 geltenden Abstandsflächenregelungen eingehalten wurden.
Dies war bzw. ist vorliegend der Fall. Bei Einreichung des Antrags wurden die damals geltenden Abstandsflächenregelungen der Bayerischen Bauordnung (BayBO) eingehalten.
Eine Abweichung von dem nach dem 01.02.2021 geltenden Vorschriften zum Abstandsflächenrecht war daher, den Vollzugshinweisen folgend, zu erteilen.“
Der Antragsteller ließ durch seinen Bevollmächtigten am 27. Juli 2021 Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid erheben, welche unter dem Az. M 11 K 21.3966 bei Gericht anhängig ist.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 9. Februar 2022 hat der Antragsteller weiter beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage (M 11 K 21.3966) anzuordnen.
Zur Begründung wurde unter Verweis auf einen Klagebegründungsschriftsatz vom gleichen Tag vorgetragen, die angefochtene Baugenehmigung bzw. die darin enthaltene Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Die Erteilung der Abweichung von den drittschützenden Abstandsflächenvorschriften werde in dem Bescheid mit keinem Wort begründet. Die Bauaufsichtsbehörde habe weder die von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO geforderte Würdigung der nachbarlichen Interessen im Rahmen ihrer Abwägungsentscheidung vorgenommen, noch ein Ermessen ausgeübt. Wie sich aus der E-Mail-Korrespondenz des Landratsamts mit dem Antragsteller nach Erlass des angefochtenen Bescheids ergebe, sei die Behörde vielmehr davon ausgegangen, dass sie aufgrund der Vollzugshinweise gezwungen gewesen sei, die Abweichung zu erteilen. Dabei sei jedoch verkannt worden, dass die Vollzugshinweise die Bauaufsichtsbehörden nicht davon entbinden würden, eigenverantwortlich zu prüfen und für jeden Einzelfall abzuwägen, ob nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO eine Abweichung erteilt werden könne. Bereits wegen dieses vollständigen Abwägungs- und Ermessensausfalls sei die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig. Unabhängig hiervon sei die erteilte Abweichung auch deshalb rechtswidrig, weil hierfür weiterhin erforderlich sei, dass das Baugrundstück selbst oder seine Umgebung die Annahme einer atypischen und vom Gesetzgeber nicht berücksichtigten grundstücksbezogenen Fallkonstellation rechtfertige. Die von der Rechtsprechung herausgebildeten Fallgruppen einer solchen atypischen Fallkonstellation könnten vorliegend angesichts des normal geschnittenen rechteckigen Baugrundstücks und seiner sich durch die Einhaltung von Abstandsflächen auszeichnenden Umgebungsbebauung nicht angenommen werden. Auch der Umstand, dass das Bauvorhaben möglicherweise im Zeitpunkt der Antragstellung die seinerzeit gültigen Abstandsflächenvorschriften eingehalten habe, führe nicht zur Annahme einer atypischen Fallkonstellation. Es handele sich insoweit nicht um eine grundstücksbezogene Atypik, vielmehr sei es eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gewesen, im Rahmen der zum 1. Februar 2021 erfolgten grundlegenden Reform des Abstandsflächenrechts auf Übergangsvorschriften zu verzichten. Das Vorliegen einer Atypik sei auch entgegen der Gesetzesbegründung der BayBO-Novelle 2018 nach wie vor erforderlich; Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ändere daran nichts. Verschiedene Kammern des VG Münchens wie auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof würden auch nach der BayBO-Novelle 2018 am Erfordernis der Atypik festhalten.
Mit Änderungs- und Ergänzungsbescheid vom 22. Februar 2022 wurde der Baugenehmigungsbescheid vom 30. Juni 2021 in den Gründen hinsichtlich der Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften umfänglich ergänzt. Die Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO lägen vor. Hierzu wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der gegenständliche Antrag vor der Gesetzesänderung am 1. Februar 2021 eingegangen sei und die hierzu erlassenen Vollzugshinweise des Ministeriums angäben, dass eine Abweichung erteilt werden solle, wenn die vor dem 1. Februar 2021 geltenden Abstandsflächenregelungen eingehalten würden und die übrigen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO vorlägen. Diese Konstellation sei gegeben, sodass eine Abweichung, den Vollzugshinweisen folgend und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen, habe erteilt werden können. Der Antrag sei am 26. August 2020 bei der zuständigen Bauaufsichtsbehörde eingegangen. Durch mehrmalige und umfangreiche Nachforderungen sowie seitens des Bauherrn bzw. seines Planverfassers beantragter Fristverlängerungen habe sich das Genehmigungsverfahren bis über den Tag des Inkrafttretens der BayBO-Novelle hinausgezogen. Da das Vorhaben die Abstandsflächen nach altem Recht eingehalten habe und nun die geringfügig größeren Abstandsflächenanforderungen aufgrund der neuen Regelung nicht mehr einhalte, habe eine Abweichung zugelassen werden können. Zwar liege außer einem schrägen Grenzverlauf keine besondere Atypik in Form eines besonderen Grundstückszuschnitts vor. Eine atypische Situation liege allerdings in der Tatsache, dass eine während eines Verfahrens erfolgte Gesetzesänderung gerade für den Bauherrn eine atypische Situation darstelle im Hinblick auf seine bereits weit fortgeschrittene Planung, weitere zeitliche Verzögerungen sowie den damit verbundenen Aufwendungen. Die für das Vorhaben erforderlichen neuen gesetzlichen Abstandsflächen würden lediglich hinsichtlich des östlichen und deutlich kleineren Gebäudeteils auf einer Länge von 4,5 m und einer maximalen Tiefe von 14 cm (auslaufend auf 0 cm) gegenüber dem Grundstück des Antragstellers unterschritten. Die Brandabstände würden eingehalten. Der Abstand des genehmigten Gebäudes zum Bestand auf dem Grundstück des Antragstellers betrage 11 bzw. 8 m. Der von der Abweichung betroffene Bereich liege auf der Nordseite des Gebäudes des Antragstellers, eine wesentliche Einschränkung der Belichtung, Belüftung und Besonnung des Grundstücks des Antragstellers sei daher nicht zu befürchten. Zudem liege im Bereich der Abweichung die Zufahrt zur Garage des Antragstellers. Der Wohnfriede bzw. der soziale Friede sei damit nicht beeinträchtigt. Unter Berücksichtigung des Bestandes und der Zielrichtung der Abstandsflächenvorschriften verschlechtere sich die Situation für den Nachbarn nicht merklich. Darüber hinaus würden die künftigen Möglichkeiten zur Bebauung des Grundstücks des Antragstellers – anders als bei einer Abstandsflächenübernahme – nicht eingeschränkt. Nicht unberücksichtigt bleiben dürfe vorliegend auch die Möglichkeit des Bauherrn, auf eine deutlich „nachteiligere“ Bebauung nahe der Grundstücksgrenze des Antragstellers. Nach dem neuen Abstandsflächenrecht wäre ein Heranrücken des Gebäudes an die Grundstücksgrenze des Antragstellers über die gesamte Baukörperlänge mit einem Abstand bis zu 3 m möglich. Im Vergleich zu der aktuell gegenständlichen Planung habe dies noch spürbarere Auswirkungen auf den Nachbarn. Der Bescheid wurde von Seiten des Landratsamts mit Schriftsatz vom 22. Februar 2022 ohne weitere Zustellungsnachweise im Rahmen des Gerichtsverfahrens vorgelegt.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Hierzu wurde mit Schriftsatz vom 22. Februar 2022 vorgetragen, dass im Zuge der Überprüfung der Baugenehmigung aufgrund der eingegangene Nachbarklage aufgefallen sei, dass für die ausgesprochene Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften eine Begründung in dem angegriffenen Bescheid fehle. Die Abwägungs- bzw. Abweichungsentscheidung sei allerdings im Verwaltungsverfahren vor Erteilung der Baugenehmigung vorgenommen worden, lediglich die schriftliche Begründung im Bescheid sei übersehen worden. Aufgrund der neuen Erkenntnisse sei der Baugenehmigungsbescheid vom 30. Juni 2021 mit Bescheid vom 18. Februar 2022 entsprechend ergänzt und begründet worden. Für die Begründung der Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften wurde auf die Ausführungen des Ergänzungsbescheids Bezug genommen. Bei der gebotenen Abwägung der widerstreitenden Interessen überwiege das Interesse des Bauherrn an der baldigen Ausführung des Vorhabens, wobei die gesetzgeberische Intention des § 212a Abs. 1 BauGB besonders zu würdigen sei.
Mit Schriftsatz vom 24. Februar 2022 bezog die Antragstellerseite den Ergänzungsbescheid vom 22. Februar 2022 in das Klageverfahren M 11 K 21.3966 ein. Weiter wurde mit Schreiben vom gleichen Tag im vorliegenden Verfahren ausgeführt, dass sich weder aus dem Bescheid noch aus der Behördenakte Anhaltspunkte für eine Ermessensausübung in Zusammenhang mit der Erteilung der Abweichung ergäben. Ausweislich der E-Mail vom 19. Juli 2021 sei das Landratsamt vielmehr eindeutig davon ausgegangen, dass ihm kein Ermessen eingeräumt sei. Eine nachträgliche Ermessensausübung durch Erlass eines Ergänzungsbescheids sei daher ausgeschlossen, sodass die angefochtene Baugenehmigung trotz des Ergänzungsbescheids aufgrund des ursprünglichen Ermessensausfalls rechtswidrig sei. Ferner folge die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung auch aus dem Umstand, dass es an der für die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen erforderliche Atypik fehle. Diese liege insbesondere nicht in dem Umstand, dass das Vorhaben im Zeitpunkt der Einreichung des Bauantrags mit Art. 6 BayBO vereinbar gewesen sei, da es sich hierbei gerade nicht um eine grundstücksbezogene atypische Fallkonstellation handele. Vielmehr sei dieser Umstand der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers geschuldet, auf Übergangsvorschriften zu verzichten. Es sei nicht möglich, durch Abweichungen auf Ebene der Exekutive Übergangsvorschriften „durch die Hintertür“ einzuführen; dies jedenfalls dann nicht, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften nicht gegeben seien.
Der Beigeladene hat sich im Verfahren bislang nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Klageverfahren M 11 K 21.3966 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der zulässige Antrag ist begründet.
Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Dritten an, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsbehelfs ergibt, dass dieser letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.07.1973 – 1 BvR 155/73, 1 BvR 23/73 – BVerf-GE 35, 382; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B.v. 14.01.1991 – 14 CS 90.3166 – BayVBl 1991, 275). Zu berücksichtigen ist, dass im Rahmen der Nachbarklage eine Aufhebung der Baugenehmigung nicht allein wegen objektiver Rechtswidrigkeit in Betracht kommt, sondern nur, wenn dritt- oder nachbarschützende Normen verletzt sind (zur sog. Schutznormtheorie vgl. etwa Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42, Rn. 89 ff.). Hierzu zählen insbesondere die Vorschriften des Abstandsflächenrechts.
Dies zugrunde gelegt, ergibt die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichtsakte und der vorliegenden Behördenakte, dass vorliegend das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt. Die dem Beigeladenen unter Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen zum Grundstück des Antragsstellers hin erteilte Baugenehmigung verletzt den Antragsteller voraussichtlich in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.1 Die angefochtene Baugenehmigung verletzt nach summarischer Prüfung die nachbarschützenden Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO.
a) Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage des Antragstellers ist entsprechend der allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätze auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen (vgl. Dirnberger in Busse/ Kraus, BayBO, Stand September 2021, Art. 66, Rn. 590 ff.), mithin auf das seit dem 1. Februar 2021 geltende Abstandsflächenrecht (Gesetz v. 23.12.2020, GVBl. 2020, 663). Unerheblich ist insoweit, dass der Beigeladene seinen Bauantrag unter der Geltung einer für ihn abstandsflächenrechtlich günstigeren Rechtslage gestellt hat, da die BayBO-Novelle 2021 zu den hier einschlägigen Bestimmungen keine Übergangsvorschriften enthält und damit auf laufende Genehmigungsverfahren Anwendung findet (vgl. zur Novelle 1994 bereits: BayVGH, B.v. 14.1.1998 – 14.1.1998 – 14 B 96.357 – juris Rn. 21).
b) Vorliegend kommen die von dem Vorhaben nach aktueller Gesetzeslage einzuhaltenden Abstandsflächen entgegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO (a.F. = n.F.) unstrittig nicht auf dem Vorhabengrundstück selbst zum Liegen.
Der Antragsgegner hat mit dem angegriffenen Bescheid für das Vorhaben eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften der BayBO sowohl nach Norden zur Fl.Nr. … als auch nach Süden zur Fl.Nr. … erteilt – wobei maßgeblich für das vorliegende Klage-/ Antragsverfahren nur die Abstandsflächenüberschreitung der südlichen Gebäudewand des geplanten östlichen Reihenhauses („Haus D“) ist, auf die sich der Antragsteller als Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. … berufen kann. Die Planung des Vorhabens wurde offenbar maßgeblich an Art. 6 Abs. 6 BayBO in der bis zum 1. Februar 2021 geltenden Fassung (sog. 16m- Privileg) ausgerichtet und hat danach die Abstandsflächen exakt eingehalten. Aufgrund der Neuregelung zur Anrechnung der Dachflächen (Art. 6 Abs. 4 Satz 3 BayBO n.F.) kommt es nunmehr zu einer Nichteinhaltung der Abstandsflächen um bis zu 14 cm – so wie dies auch in der genehmigten Planung dargestellt wird.
Eine Abstandsflächenüberschreitung in Bezug auf die südliche Dachgaube des „Hauses D“ dürfte – soweit sich dies bei einer Messung mit dem Lineal aus der Eingabeplanung abgreifen lässt – nicht gegeben sein. Nach den entsprechenden Vermerken in der Eingabeplanung gingen der Beigeladene wie auch der Antragsgegner zwar fälschlicherweise davon aus, dass die Dachgauben „untergeordnet“ i.S.d. Art. 6 Abs. 8 Nr. 3 BayBO a.F. und damit abstandsflächenrechtlich nicht relevant seien. Diese Regelung wurde durch Art. 6 Abs. 5a Satz 5 BayBO n.F. allerdings nur in Bezug auf Gemeinden mit mehr als 250.000 Einwohnern beibehalten. Generell sind Dachgauben damit künftig abstandsflächenrelevant, lediglich deren Seitenwände bleiben gem. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO n.F. bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht (vgl. auch LT-Drs. 18/8547, S. 15; Vollzugshinweise, Stand 25.11.2021, S. 4 und 7). Die Giebelfläche der Dachgaube wirft eine Abstandsflächen der Tiefe 0,4 H x 9 m = 3,6 m, die allerdings unter Berücksichtigung der rückversetzten Lage dieser (fiktiven) Wandfläche um etwa 50 bis 60 cm (vgl. Grundriss Dachgeschoss und Querschnitt D) und des in diesem Bereich aufgrund des schrägen Grenzverlaufs bei etwa 3,10 m liegenden Grenzabstands noch auf dem Vorhabengrundstück zum Liegen kommt.
c) Die auf Grundlage des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ist dem Beigeladenen durch den streitgegenständlichen Bescheid voraussichtlich zu Unrecht erteilt worden. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie hier Art. 6 BayBO, kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 4 m.w.N.). Eine solche Rechtswidrigkeit der erteilten Befreiung liegt hier voraussichtlich vor.
(1) Die Kammer hat nach Aktenlage zunächst erhebliche Zweifel am Vortrag des Landratsamts, wonach die im Rahmen des Ergänzungsbescheids nachgeschobenen Ermessenserwägungen bereits vor Erteilung der Abweichung getroffen worden sein sollen und lediglich deren formelle Begründung im ursprünglichen Bescheid vom 30. Juni 2021 übersehen worden sei. Zu Recht hat die Antragstellerseite insoweit angemerkt, dass sich der Akte keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Ermessensausübung entnehmen lassen. Nicht erst aufgrund der Klagebegründung, sondern spätestens aufgrund der Nachfrage des Antragstellers vom 19. Juli 2021 – in welcher es ausdrücklich heißt: „Weder aus dem Plan noch aus dem Bescheid konnte ich aber eine Begründung für die Überschreitung der Grenzabstandsflächen entnehmen.“ – hätte ein formeller Begründungsmangel im Landratsamt auffallen müssen; stattdessen wurde in der Antwort des Landratsamts vom gleichen Tag allein auf die Vollzugshinweise verwiesen, welche eine Abweichungserteilung „vorgeben“ würden; eine vorgenommene Interessenabwägung wird dabei nicht ansatzweise erwähnt. Die Beweislast für eine dennoch erfolgte anfängliche Ermessensausübung trifft den Antragsgegner. Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass neben den dokumentierten Gesamtumständen auch die mit dem Ergänzungsbescheid konkret nachgeschobenen Erwägungen selbst für einen anfänglichen Ermessensausfall sprechen, da sich die nachgeschobene Begründung ausschließlich auf die Abweichung zum Grundstück des Antragstellers hin bezieht, während die zur Fl.Nr. … erteilte Abweichung (weiterhin) mit keinem Wort erwähnt wird. Der demnach anzunehmende anfängliche Ermessensausfall kann durch den Ergänzungsbescheid – wie von Antragstellerseite zutreffend ausgeführt – nicht geheilt werden (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, Stand 15. Aufl. 2019, § 114, Rn. 90, BayVGH, B.v. 9.11.2009 – 4 B 09.594 – juris Rn. 21).
Allerdings sieht die Kammer diesen Ermessensausfall allein im Rahmen der anzustellenden Interessenabwägung nicht als maßgeblich an, da der Antragsgegner anstelle des vorliegend offenkundig allein gewollten bloßen „Änderungs- und Ergänzungsbescheids“ jederzeit die Möglichkeit hätte, einen inhaltsgleichen, aber vollumfänglich begründeten Baugenehmigungsbescheid neu zu erlassen.
(2) Unter Zugrundelegung der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, an der die Kammer auch nach der BayBO-Novelle 2018 festgehalten hat (dazu sogleich), erweist sich die erteilte Abweichung wegen Fehlens einer „Atypik“ als voraussichtlich rechtswidrig.
(aa) Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den abstandsflächenrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Die Zulassung einer solchen Abweichung setzt nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs jedoch Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkten Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. etwa BayVGH, B.v. 23.1.2018 – 2 ZB 16.2066; U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530; B.v. 13.3.2002 – 2 CS 01.5 – jew. juris). Insoweit muss es sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. Eine solche „Atypik“ kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern ergeben; auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, kann zu einer Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung führen (vgl. zusammenfassend BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16 m.w.N.). Von Bedeutung kann insbesondere sein, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks unter Beachtung der abstandsflächenrechtlichen Anforderungen des Art. 6 BayBO unmöglich oder unzumutbar wäre (BayVGH, B.v. 30.8.2011 – 15 CS 11.1640 – juris Rn. 16). Allein Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies ohnehin zulässig wäre, begründen hingegen noch keine Atypik. Auch Maßnahmen, die nur der Gewinnmaximierung dienen sollen, sind nicht besonders schützenswert (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2014 – 2 ZB 13.1627 – juris).
(bb) Dies zugrunde gelegt, ist eine atypische Fallgestaltung vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere kann die Kammer keinen atypisch „schrägen“ Grenzverlauf erkennen, wie dieser im Ergänzungsbescheid angesprochen wird. Im Gegenteil handelt es sich – wie auch die gegenständliche Planung mit einer Reihenhausanlage belegt – um ein ohne weiteres sinnvoll ausnutzbares Baugrundstück; allein der Wunsch nach noch stärkerer Ausnutzung des Grundstücks genügt für die Annahme einer Atypik nicht.
Entgegen der Ausführungen des Ergänzungsbescheids begründet auch der Umstand, dass der Bauantrag zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der BayBO-Novelle 2021 am 1. Februar 2021 bereits eingereicht war und die nach altem Recht geltenden Abstandsflächen eingehalten hat, für sich genommen keine atypische Situation. Ausgehend vom Verzicht des Gesetzgebers auf eine Übergangsregelung findet das aktuell geltende Abstandsflächenrecht auf eine ganze Vielzahl bereits anhängiger Bauantragsverfahren Anwendung. Das Merkmal der „Atypik“ – mithin eine von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung – dürfte als Anknüpfungspunkt insofern von vornherein eher ungeeignet sein, da – wie die Antragstellerseite zu Recht anführt, damit letztlich eine Übergangsregelung „durch die Hintertür“ für eine Vielzahl von Verfahren geschaffen wird. Der vom Landratsamt vertretene Ansatz lässt sich im Übrigen auch mit den Vollzugshinweisen des Ministeriums selbst nicht in Einklang bringen: Danach sollen zwar bei Bauvorhaben, deren Genehmigung vor dem 1. Februar 2021 beantragt wurde und die die erforderlichen Abstandsflächen nun aufgrund der geänderten Berechnung nicht mehr einhalten, Abweichungen genehmigt werden (Vollzugshinweise, Stand 25. November 2021, S. 5 oben, abrufbar auf der Internetseite des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr). Das von der Rechtsprechung geforderte Erfordernis der „Atypik“ wird nach den Vollzugshinweisen (a.a.O., S. 17 oben) unter Verweis auf die – vermeintliche – Klarstellung in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO (dazu sogleich) aber von vornherein als bedeutungslos erachtet. Die Vollzugshinweise können damit letztlich nur so verstanden werden, dass der Umstand der Abstandsflächeneinhaltung nach altem Recht bei am 1. Februar 2021 bereits anhängigen Bauantragsverfahren auf Ebene der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist und regelmäßig zur Annahme eines überwiegenden Bauherreninteresses führen soll (zur Interessenabwägung s. nachfolgend unter Rn. 43 ff.).
Lediglich angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass der angefochtene Baugenehmigungsbescheid noch vor Bekanntmachung der aktuellen Vollzugshinweise zur BayBO-Novelle 2021 (Stand 25. November 2021) erlassen wurde und die o.g. Passage zumindest in den dem Gericht vorliegenden ursprünglichen Vollzugshinweisen (Stand 7. Januar 2021) noch nicht enthalten war; etwaige zwischenzeitliche weitere Fassungen der – für Gerichte ohnehin nicht verbindlichen – behördeninternen Vollzugshinweise lassen sich auch den vorliegenden Behördenakten nicht entnehmen.
Der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs folgend, liegen damit mangels „Atypik“ die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nicht vor. Die Kammer hat auch nach Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO zum 1. September 2018 (§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10.7.2018, GVBl. S. 523) an der Rechtsauffassung festgehalten, dass es hierdurch zu keiner inhaltlichen Änderung gegenüber der früheren Rechtslage gekommen ist (vgl. Urteil der Kammer vom 11.3.2021 – M 11 K 18.351 – u.v., unter Verweis auf VG München (9. Kammer), U.v. 24.7.2019 – M 9 K 18.5334 – juris Rn. 29). Abschließende Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu dieser Frage stehen – soweit ersichtlich – noch aus (zum Streitstand ausführlich: VG Augsburg, B.v. 19.11.2019 – Au 4 S 19.1926 – juris Rn. 26 ff., VG Würzburg, U.v. 8.10.2020 – W 5 K 18.1443 – juris Rn. 51 ff; diesen Streitstand ansprechend, jedoch in Hinblick auf einen „Altfall“ offenlassend: BayVGH: B.v. 22.2.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris; ebenso offenlassend: BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 15 ZB 21.2428 – juris).
Die Kammer sieht derzeit keinen Anlass, ihre bisherige Rechtsprechung zu ändern. Im Rahmen der BayBO-Novelle 2021 erfolgte insoweit keine Änderung des Gesetzeswortlauts; in den Vollzugshinweisen zu Art. 63 BayBO wird lediglich auf die Novelle aus dem Jahr 2018 Bezug genommen. Im Gegenteil dürften die weitreichenden Änderungen des Abstandsflächenrechts durch die BayBO-Novelle 2021 für ein Festhalten am Erfordernis der Atypik sprechen. Der Große Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hat bereits in seiner Entscheidung vom 17. April 2000 – GrS 1/1999 (juris Rn. 16 f.) zum sog. 16m- Privileg ausgeführt, dass es sich bei den Regelungen des Abstandsflächenrechts um Inhalts- und Schrankenbestimmungen i. S. d. Art. 14 GG handelt und sich eine Reduzierung auf H/2 einem Bereich nähere, in dem die Ziele des Abstandsflächenrechts angesprochen werden.
(cc) Selbst wenn auf das Erfordernis einer Atypik verzichtet würde, liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 Abs. 1 BayBO bei summarischer Prüfung nicht vor.
Gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO können Abweichungen zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind. Bei der Gewichtung der nachbarlichen Belange ist zu bedenken, dass diesen Interessen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommt, weil sie auf einem Interessenausgleich beruhen, den der Gesetzgeber im Regelfall für sachgerecht angesehen hat.
Ausgehend hiervon ergibt sich bei summarischer Prüfung der Interessenlage Folgendes:
Während der weitaus größere Teil der insgesamt 23,38 m langen Reihenhausanlage (Haus A – C) ca. 4 m entfernt von der gemeinsamen Grundstücksgrenze liegt, hat der Antragsteller im Bereich des „Hauses D“ auf einer Breite von ca. 6,13 m eine im Wesentlichen gerade den gesetzlichen Mindestabstand von 3 m einhaltende Bebauung mit einer Firsthöhe von ca. 11,5 m hinzunehmen, wobei weder der nach Süden orientierte Balkon noch die Dachgaube (s.o.) als solche abstandsflächenrechtlich zu beanstanden sind. Mit der angefochtenen Abweichung werden allerdings – zwischen den Beteiligten unstrittig – die Abstandsflächen dieses „Hauses D“ zum Grundstück des Antragsstellers hin auf einer Länge von etwa 4,5 m mit einer maximalen Tiefe von bis zu ca.14 cm verkürzt.
Die Ausführungen des Ergänzungsbescheids, wonach sich die Situation des Antragstellers durch die Zulassung der Abweichung nicht merklich verschlechtere, mögen zwar für sich gesehen zutreffen, greifen aber zu kurz. Denn für die Erteilung einer Abweichung genügt es nicht, dass die Belange des Nachbarn nur geringfügig beeinträchtigt werden. Der Nachbar hat grundsätzlich einen Anspruch auf zentimetergenaue Einhaltung der Abstandsflächen (BayVGH, B.v. 12.7.2021 – 1 ZB 21.735, B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris Rn. 100). Stets ist damit auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, S. 84; Dhom/ Simon in: Busse/ Kraus, a.a.O., Art. 63 Rn. 46 a.E.). Dies ist vorliegend nicht oder allenfalls unzureichend geschehen.
Überwiegende Interessen des Bauherrn ergeben sich insbesondere nicht durch die im Ergänzungsbescheid angestellten Überlegungen des Landratsamts zur Möglichkeit einer für den Antragsteller „deutlich nachteiligeren“ Bebauung in Grenznähe. Die zuständige Bauaufsichtsbehörde hat sich grundsätzlich auf die Prüfung des verfahrensgegenständlichen Vorhabens zu beschränken. Etwaige Alternativplanungen sind einem Bauherrn stets unbenommen und wurden, soweit ersichtlich, von dessen Seite bislang nicht einmal in den Raum gestellt. Die hypothetischen Erwägungen der Behörde sind bereits nicht geeignet, die Interessen des Antragstellers zu relativieren; erst recht können sie kein diese überwiegendes Interesse des Bauherrn begründen.
Sonstige Interessen des Bauherrn oder aber öffentliche Belange, welche die Interessen des Nachbarn überwiegen würden, sind nicht ersichtlich. Eine angemessene Nutzung des Baugrundstücks unter Einhaltung der Abstandsflächen ist dem Beigeladenen ohne Weiteres möglich und zumutbar. Auch der Umstand, dass das Vorhaben noch unter Geltung der früheren Rechtslage beantragt wurde und die Abstandsflächen nach früherem Recht unter Inanspruchnahme des 16m-Privilegs eingehalten hätte, führt jedenfalls vorliegend nicht zur Annahme eines überwiegenden oder zumindest besonders zu berücksichtigenden Bauherreninteresses. Letzteres könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn der Bauherr von seiner Seite aus alles getan hätte, damit sein Bauantrag noch rechtzeitig vor dem Stichtag des 1. Februars 2021 entscheidungsreif ist. Dies war vorliegend indes gerade nicht der Fall – vielmehr wird im Ergänzungsbescheid selbst hervorgehoben, dass sich das Genehmigungsverfahren durch „mehrmalige und umfangreiche Nachforderungen sowie seitens des Beigeladenen bzw. seines Planverfassers beantragter Fristverlängerungen“ über den Tag des Inkrafttretens der BayBO-Novelle hinausgezogen habe. So hatte das Landratsamt mit Schreiben vom 5. November 2020 und vom 18. Februar 2021 verschiedene Unterlagen nachgefordert, insbesondere auch in Zusammenhang mit der geplanten Errichtung des Vorhabens innerhalb der Baumwurfzone. Mit E-Mail vom 24. März 2021 -mithin bereits nach Inkrafttreten der BayBO-Novelle – und erneut mit E-Mail vom 22. April 2021 bat der Architekt des Beigeladenen um (nochmalige) Fristverlängerung(en). Erst am 21. Mai 2021 gingen die erforderlichen Unterlagen beim Landratsamt ein. Nachdem der gegenständliche Bauantrag damit zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der BayBO Novelle 2021 bereits mangels vollständiger Unterlagen nicht entscheidungsreif war, kann der Beigeladene indes nicht besser gestellt werden als sonstige Bauherrn, die erst nach dem 1. Februar 2022 einen vollständigen Bauantrag gestellt und daher das aktuell geltende Recht zu beachten haben.
Mit Blick auf die hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung bestehenden Bedenken überwiegt damit das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegenüber dem Vollzugsinteresse des Beigeladenen.
1.2 Lediglich ergänzend wird in Hinblick auf die Antragserwiderung des Landratsamts angemerkt, dass selbst bei Annahme offener Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage die Abwägung der widerstreitenden Interessen zu Lasten des Beigeladenen geht.
Könnte der Beigeladene das Vorhaben vor Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung realisieren, besteht die ernsthafte Gefahr, dass bereits vollendete bzw. nicht oder nur schwer rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen werden, wenn die Baugenehmigung in einem Hauptsacheverfahren aufgehoben werden sollte. Entgegen der Annahme des Antragsgegners lässt sich ein überwiegendes Vollziehungsinteresse des Beigeladenen auch nicht aus einer „gesetzgeberischen Intention“ des § 212a BauGB ableiten. Der in § 212a Abs. 1 BauGB normierte Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Drittanfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung begründet weder eine gesteigerte Rechtmäßigkeitsvermutung zugunsten des Verwaltungsakts noch führt er zu einer grundlegenden Änderung des Maßstabs der gerichtlichen Überprüfung. Auch in den Fällen des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung bleibt die Interessenabwägung (bei offenem Verfahrensausgang) einzelfallbezogen, d.h. individuell-konkret; gesetzliche Vorgaben (wie hier § 212a Abs. 1 BauGB) können bei der Interessenabwägung allenfalls dann berücksichtigungsfähig sein, wenn darüber hinaus nichts an Belangen feststellbar ist (BayVGH, B.v. 12.7. 2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 37 ff. m.w.N. zur Rspr.). Ein besonderes, über die Interessen jedes Bauherrn hinausgehendes Dringlichkeitsinteresse des Beigeladenen (vgl. dazu die weiteren Ausführungen im zitierten Beschluss des BayVGH vom 12.7.2010) wurde bislang weder von Seiten des Antragsgegners noch von Seiten des Beigeladenen vorgetragen – im Gegenteil wurden im Rahmen des Ergänzungsbescheids sogar etwaige Umplanungsmöglichkeiten des Beigeladenen in den Raum gestellt.
2. Dem Antrag war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Da der Beigeladene sich mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Der Streitwert beträgt die Hälfte des im Hauptsacheverfahren voraussichtlich anzusetzenden Streitwerts.


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