Baurecht

Nachbarklage, Bebauungsplan, Befreiungen vom Maß der baulichen Nutzung, Drittschutz, Gebot der Rücksichtnahme

Aktenzeichen  9 ZB 21.2434

Datum:
11.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36669
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 9 K 19.2290 2021-06-09 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin wendet sich gegen die der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 17. Oktober 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 28. Januar 2020 zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit neun Wohnungen und Tiefgarage auf den Grundstücken FlNr. … … und … Gemarkung S… Mit der Baugenehmigung wurden auch mehrere Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … der Beklagten, u.a. von der Baugrenze nach Süden und Westen, der Geschossflächenzahl und der Zahl der Vollgeschosse, erteilt. Das Grundstück der Klägerin, FlNr. … Gemarkung S…, grenzt westlich an die Baugrundstücke FlNr. … und … Gemarkung S… an und ist mit einem eingeschossigen Wohngebäude mit Satteldach bebaut.
Mit Urteil vom 9. Juni 2021 wies das Verwaltungsgericht Ansbach die Klage der Klägerin gegen die Baugenehmigung vom 17. Oktober 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 28. Januar 2020 ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass die zugunsten der Beigeladenen erteilten Befreiungen nicht drittschützende Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … beträfen und das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber der Klägerin nicht verletzt sei. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
II.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen allein geltend gemachter ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel hier nicht.
1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon abhängt, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2021 – 9 CS 21.553 – juris Rn. 20 m.w.N.). Ebenfalls zutreffend ist das Verwaltungsgericht ferner davon ausgegangen, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, hier insbesondere zur Zahl der Vollgeschosse, der überbaubaren Grundstücksfläche und zur Geschossflächenzahl, grundsätzlich nicht drittschützend sind (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.2016 – 4 B 29.16 – juris Rn. 5) und ein ausnahmsweiser Drittschutz vom Willen der Gemeinde als Plangeberin abhängt (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14).
Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang vorträgt, die Überplanung ihres Bestandsgebäudes, die Lage ihres eingeschossigen Gebäudes außerhalb des Baufensters und die Festsetzung von östlich daran anschließenden Stellplätzen anstelle eines Baufensters sowie die nach Norden zurückspringende viergeschossige Bebauung begründeten ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis, ergeben sich hieraus keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Beurteilung des Bebauungsplans Nr. … der Beklagten nicht übersehen, dass sich ein entsprechender Wille nicht nur unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst, sondern auch aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (vgl. BayVGH, B.v. 11.8.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 13). Es hat ausgeführt, dass weder der Text- noch der Planteil oder die Begründung Anhaltspunkte für einen Willen der Beklagten, Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung zum Schutz von Nachbareigentümern zu erlassen, ergäben (UA S. 12) und dass auch nicht angenommen werden könne, dass die Maßfestsetzungen von wesentlicher Bedeutung für den von der Beklagten konzipierten Charakter eines reinen Wohngebiets waren (UA S. 14). Damit hat das Verwaltungsgericht auch den Festsetzungszusammenhang in seine Beurteilung einbezogen. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Kombination dieser Festsetzungen eine nachbarschützende Wirkung entfalten soll. Vielmehr folgt das Zurückspringen der Bebauung auf dem Baugrundstück gemäß dem Bebauungsplan Nr. … der Beklagten im Zusammenhang mit dem festgesetzten Baufenster für das Eckgrundstück S… Straße / W… straße und den weiteren festgesetzten Baufenstern im Verlauf der – leicht schräg verlaufenden – S… Straße rein städtebaulichen Ansätzen. Gerade im Zusammenhang damit, dass das Gebäude der Klägerin durch Situierung des Baufensters an anderer Stelle auf ihrem Grundstück durch die Bauleitplanung der Beklagten „auf Bestandsschutz gesetzt“ wurde (vgl. BayVGH, U.v. 28.7.2020 – 9 N 16.2497 – juris Rn. 31) und das Baufenster auf dem Grundstück der Klägerin ebenfalls eine viergeschossige Bebauung vorsieht, ergeben sich aus dem Bebauungsplan und den sonstigen Aspekten keine Anhaltspunkte für den Willen der Plangeberein, ein wechselseitiges nachbarschaftliches Austauschverhältnis der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung begründen zu wollen.
2. Entgegen der Auffassung der Klägerin verstößt das Bauvorhaben auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
Mangels einer Befreiung von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans kommt es nicht darauf an, ob die Befreiungen städtebaulich nicht mehr vertretbar sind oder die Grundzüge der Planung berühren. Das Verwaltungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den Umständen des Einzelfalls abhängen (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 19 m.w.N.). Es hat die tatsächlich vorhandene Bebauung auf dem Grundstück der Klägerin berücksichtigt und eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme insbesondere deshalb verneint, weil die Abstandsflächen eingehalten seien, keine besondere „Verschattung der Klägerin“ zu erwarten und keine erdrückende Wirkung erkennbar sei. Dies ist nicht ernstlich zweifelhaft.
Mit dem Verwaltungsgericht ist eine Rechtsverletzung wegen erdrückender Wirkung erst zu bejahen, wenn nach der Gesamtschau der Umstände des konkreten Einzelfalls von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung im Sinne einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung ausgeht, die vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommt (BayVGH, B.v. 8.7.2021 – 9 ZB 20.1567 – juris Rn. 11). Es hat hier die konkrete Grundstückssituation, die Gebäudehöhe, die tatsächlichen Abstände sowie die Bebauung auf dem Grundstück der Klägerin bewertet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Bauvorhaben nicht rücksichtslos ist. Dem tritt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert entgegen. Die örtliche Situation mag für die Klägerin unbefriedigend sein, zumal ihr Gebäude aufgrund der Planungssituation zwar Bestandsschutz genießt, den städtebaulichen Vorstellungen der Plangeberin und den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … der Beklagten aber nicht (mehr) entspricht. Dem Zulassungsvorbringen lässt sich aber nicht entnehmen, dass in der Gesamtschau der örtlichen Gegebenheiten das Bauvorhaben derart übermächtig erscheint, dass das Gebäude der Klägerin nur noch oder überwiegend wie eine von einem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 9 CS 19.1767 – juris Rn. 22 m.w.N.). Auf die (weiteren) Erwägungen des Verwaltungsgerichts hinsichtlich eines Heranrückens des Baukörpers bei Einhaltung des Baufensters oder zur „Ersparnis von Lärmimmissionen“ kommt es hierbei nicht entscheidungserheblich an.
Im Hinblick auf den Einwand der Klägerin, mit dem Balkon der Penthouse-Etage werde „erstmalig ein hochsitzartiger qualifizierter Ausblick auf und in ihr Anwesen geschaffen“, hat das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, das Gebot der Rücksichtnahme schütze grundsätzlich nicht vor der Möglichkeit, in andere Grundstücke von benachbarten Häusern aus Einsicht zu nehmen. Weder das Bauplanungsrecht im Allgemeinen noch das Gebot der Rücksichtnahme im Speziellen vermitteln einen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Auch neu geschaffene Einsichtsmöglichkeiten begründen nicht aus sich heraus eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich etwas Anderes ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342 – juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 1.3.2018 – 9 ZB 16.270 – juris Rn. 18). Anhaltspunkte dafür, dass ein solcher situationsbedingter Ausnahmefall hier vorliegt, lassen sich dem Zulassungsvorbringen jedoch nicht entnehmen. Vielmehr stellt sich die Einsichtnahmemöglichkeit aufgrund der Penthouse-Etage im Hinblick auf die bauplanungsrechtlich zulässige Geschossigkeit und die zulässigen Balkone bei mehrgeschossiger Bebauung nicht als eine unzumutbare andere Qualität dar. Über die herkömmlichen Einsichtnahmemöglichkeiten in Innerortslagen hinausgehende Belastungen sind insoweit weder ersichtlich noch dargelegt (vgl. BayVGH, B.v. 20.5.2020 – 9 ZB 18.2585 – juris Rn. 7).
Soweit die Klägerin eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens wegen der Vielzahl der Befreiungen und deren Summenwirkung geltend macht, bleibt der Antrag ebenfalls erfolglos. Entscheidend ist hierbei nicht allein die Anzahl der erteilten Befreiungen, sondern vielmehr, ob aufgrund der Belastungswirkungen, die aus den Befreiungen – einzeln wie in der Gesamtwirkung – folgen, eine unzumutbare Betroffenheit des Nachbarn resultiert (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – juris Rn. 31). Das Verwaltungsgericht hat hier darauf abgestellt, dass keine verallgemeinerungsfähigen Maßstäbe bestehen und entscheidend die konkreten Gegebenheiten sind. Es hat sodann im Rahmen der Beurteilung des Rücksichtnahmegebots auf den gesamten Baukörper des Bauvorhabens und dessen geplante Lage abgestellt und insgesamt eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots verneint. Dem bloßen Hinweis im Zulassungsvorbringen, die Summenwirkung der erteilten Befreiungen sei vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt worden, lässt sich jedenfalls nichts entnehmen, was zu einer anderen Beurteilung führen könnte.
Die von der Klägerin angeführten Unklarheiten zur Erschließung der Hinterliegergrundstücke, insbesondere des Grundstücks FlNr. … Gemarkung S…, sind nicht relevant, da die Erschließung regelmäßig nicht drittschützend ist (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2018 – 1 CS 18.1265 – juris Rn. 11). Anhaltspunkte dafür, dass sich die Erschließungssituation für die Klägerin aufgrund des Bauvorhabens erheblich verschlechtert oder eine Notwegesituation zu ihren Lasten entsteht, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da sich die Beigeladene im Zulassungsverfahren nicht geäußert hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit dieser Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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