Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung eines grenzständig stehenden Mehrfamilienhauses (stattgegeben), Nichteinhaltung der Abstandsflächen, kein Vorrang des Planungsrechts (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO), keine Berufung auf § 242 BGB entsprechend

Aktenzeichen  AN 17 K 20.02556

Datum:
20.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18259
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6
BauNVO § 22 Abs. 2
BGB § 242

 

Leitsatz

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 27. Oktober 2020 zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen samt integrierter Garagen ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Das durch den streitgegenständlichen Bescheid genehmigte Vorhaben der Beigeladenen verletzt bereits das im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO zu prüfende Abstandsflächenrecht gemäß Art. 6 BayBO. Die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen sind jedenfalls zugunsten des unmittelbar angrenzenden Eigentümers des Nachbargrundstücks drittschützend, ohne dass es dabei auf eine einzelfallbezogene Unzumutbarkeit bzw. auf eine tatsächliche oder spürbare Betroffenheit des Nachbarn ankommt (statt vieler: BayVGH, U.v. 31.7.2020 – 15 B 19.832 – juris Rn. 22).
Die gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4, Abs. 5 Satz 1 BayBO grundsätzlich erforderlichen Abstandsflächen kann das Vorhabengebäude der Beigeladenen nicht einhalten, da es nach Norden, zum klägerischen Grundstück hin, grenzständig errichtet werden soll. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, der eine grenzständige Errichtung ohne die Einhaltung von Abstandsflächen ausnahmsweise gestatten würde, sind nicht erfüllt. Auch ist es dem Kläger nicht entsprechend § 242 BGB verwehrt, sich auf die Einhaltung der Abstandsflächen gegenüber der Beklagten bzw. Beigeladenen zu berufen.
a) Anders als die Beklagte meint, kann sie sich zu Gunsten eines grenzständigen Anbaus nicht auf die Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO berufen. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Die Norm des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO findet nicht nur im Rahmen eines Bebauungsplans, sondern ebenso im nicht überplanten Innenbereich Anwendung, auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise kommt grundsätzlich Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. schon BayVGH, U.v. 19.11.1976 – 106 I 73 – BeckRS 1976, 105754; BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris Rn. 46 ff.; Hahn/Kraus in Busse/Kraus, BayBO, 144. EL September 2021, Art. 6 Rn. 47). Der tatsächlichen Bebauung muss dabei kein städtebauliches Ordnungssystem zu Grunde liegen, die Rechtfertigung der Grenzbebauung kann sich auch aus einer regellosen Bauweise ergeben (nunmehr BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris Rn. 47 f. m.w.N.; Schönfeld in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 22. Ed. 1.5.2022, Art. 6 Rn. 61).
In der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks ist anhand des Auszugs aus dem Liegenschaftskataster und dem vor Ort gewonnen optischen Eindruck gerade umgekehrt ein städtebauliches Ordnungssystem in Richtung einer offenen Bauweise (§ 22 Abs. 2 BauNVO) erkennbar, jedenfalls aber keine regellose Bebauung. Eine seitliche Grenzbebauung findet sich lediglich entlang der gemeinsamen Grenze der FlNrn. … und … (auf der gegenüber liegenden Seite der … straße Richtung Norden – … und *), wobei es sich hierbei um ein Doppelhaus handeln dürfte, welches bei entsprechendem seitlichen Grenzabstand auch im Rahmen der offenen Bauweise errichtet werden dürfte, § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO und insofern nicht als Indiz für eine regellose Bebauung taugt. Gleiches gilt für die FlNrn. … und … (* … und, nördlich des streitgegenständlichen Bereichs). So bliebe lediglich die seitlich grenzständige Bebauung auf dem klägerischen Grundstück und dem Grundstück der Beigeladenen selbst an der Süd- bzw. Nordgrenze. Jedoch ist hier zum einen zu berücksichtigen, dass ursprünglich nicht wechselseitig grenzständig gebaut worden ist, sondern die grenzständige Bebauung erst durch die Grundstücksteilung im Jahre 1970 entstanden ist. Im Übrigen würde es sich um einen Ausreißer handeln, der keine regellose Bebauung im oben genannten Sinne tragen könnte.
Bei dem klägerischen Bestandswohngebäude und dem geplanten Vorhabengebäude würde es sich auch nicht um ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO handeln, welches auch bei vorherrschender offener Bauweise mit entsprechenden seitlichen Grenzabständen zulässig wäre (auf die Vorschrift des § 22 BauNVO kann auch im unbeplanten Innenbereich Bezug genommen werden, Hornmann in Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, 29. Ed. 15.4.2022, § 22 Rn. 38). Ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei selbstständig benutzbare Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamtbaukörper bilden und als bauliche Einheit erscheinen. Die Eigenschaft als Doppelhaus lässt sich weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual festlegen, sondern muss im Einzelfall unter Betrachtung quantitativer und qualitativer Punkte bestimmt werden (Hornmann a.a.O. Rn. 35; BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – ZfBR 2015, 574 Ls, Rn. 15 ff.). Eine bauliche Einheit im o.g. Sinne kann nur angenommen werden, wenn die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise, gleichsam harmonisch aneinandergebaut sind, was jedoch nicht zwingend erfordert, dass die Doppelhaushälften gleichzeitig oder deckungsgleich errichtet werden müssen (BayVGH, B.v. 15.9.2015 – 2 CS 15.1792 – juris Rn. 12 f.). Allerdings kann es an einem Doppelhaus fehlen, wenn auf Dauer nur eine Hälfte errichtet wird (Hornmann a.a.O. Rn. 37). Gemessen daran wären das klägerische und das Vorhabengebäude nicht als Doppelhaus anzusehen, da sie nicht in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise, mithin nicht harmonisch aneinandergebaut würden. Das Vorhabengebäude fällt im Vergleich zum Bestandswohnhaus des Klägers deutlich wuchtiger aus, da es knapp 5,5 m länger wäre und an seiner südwestlichen Ecke noch einen auskragenden Zwerchgiebel sowie auf der Westseite die Balkonaufbauten vorsieht. Auch läge kein harmonisches Aneinander der beiden Dächer vor. Das Vorhabengebäude würde die Grundstückssituation dominieren und den Eindruck von zwei zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügten Einzelhäusern erwecken (OVG NW, U.v. 19.4.2012 – 10 A 1035/10 – juris Rn. 35). Darin spiegelt sich auch wieder, dass das Vorhabengebäude mit sechs Wohneinheiten doppelt so viele wie das klägerische enthalten soll. Schließlich ist auch zu berücksichtigten, dass seit der Grundstücksteilung im Jahre 1970 – vorher waren die Grundstücke von Kläger und Beigeladener auf einer FlNr. vereint – vom eingeschossigen Anbau auf dem heutigen Beigeladenengrundstück abgesehen über gut 50 Jahre nur eine Hälfte des hier im Ergebnis nicht vorliegenden Doppelhauses errichtet war.
b) Die Berufung auf das Abstandsflächenrecht des Art. 6 BayBO ist dem Kläger auch nicht entsprechend § 242 BGB nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht erfolgreich auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Norm – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37; Schönfeld in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 22. Ed. 1.5.2022, Art. 6 BayBO Rn. 281 ff.). Zum Zeitpunkt der Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung vom 27. Oktober 2020 hat auch der Kläger mit seinem Wohngebäude unzweifelhaft die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen unterschritten, da dieses mit seiner südlichen Giebelwand grenzständig zum Grundstück der Beigeladenen steht. Jedoch handelt es sich, verglichen mit der Abstandsflächenunterschreitung durch das Vorhabengebäude der Beigeladenen, um keine in etwa gleichgewichtige Verletzung des Art. 6 BayBO. Das im Jahre 1903 genehmigte Bestandsgebäude des Klägers würde durch den etwa profilgleichen grenzständigen Anbau an dessen Südseite in der geplanten Form ungleich stärker beeinträchtigt, weil die in der südlichen Außenwand des klägerischen Gebäudes im ersten Obergeschoss und im Dachgeschoss befindlichen Fensteröffnungen, jeweils eine aus Aufenthaltsräumen und zwei aus dem Treppenhaus heraus, entgegen der Baugenehmigung aus 1903 verschlossen würden und ihm hinsichtlich der betroffenen beiden Aufenthaltsräume nur noch eine Belichtung durch die zur … straße zeigenden Fenster bliebe. Die Beklagte geht sogar davon aus, dass die Belichtungssituation in den Aufenthaltsräumen voraussichtlich dann nicht mehr den Vorgaben des Art. 45 Abs. 2 BayBO entspräche und der Kläger auf eigene Kosten die Fenster zur … straße (Ostseite) entsprechend erweitern müsste. Weiter würde dem Kläger aufgebürdet, da durch den geplanten Anbau der Beigeladenen die aus den Treppenräumen der oberirdischen Geschosse ins Freie führenden Fenster nach Art. 28 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 BayBO verschlossen würden, an der obersten Stelle des Treppenraumes eine Öffnung zur Rauchableitung herzustellen, Art. 28 Abs. 8 Satz 2 Nr. 2 BayBO. Die Beigeladene hingegen konnte, anders als der Kläger, die mit der Grundstückssituation an der gemeinsamen Grenze einhergehenden Beschränkungen präventiv planerisch aufnehmen, die nördliche Außenwand öffnungslos ausgestalten – wie es Art. 28 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 8 Satz 1 BayBO auch fordert – und im Übrigen ausreichende Fensteröffnungen vorsehen. Zwar ist im Rahmen des § 242 BGB auch in Rechnung zu stellen, dass die Problematik des wechselseitigen Grenzanbaus erst durch die durch den Rechtsvorgänger des Klägers veranlasste Grundstücksteilung, durch die Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 1970 genehmigt, veranlasst wurde. Jedoch hat es die Beklagte damals einerseits unterlassen gemäß § 19 i.V.m. § 20 Abs. 1, Abs. 2 Bundesbaugesetz vom 23. Juni 1960 (BGBl. I, 1960, Nr. 30) die Genehmigung unter Auflagen zu erteilen, etwa die südliche Außenwand des klägerischen Gebäudes zu verschließen und die verbleibenden Fensteröffnungen zu erweitern, was nicht zulasten des Klägers gehen kann. Zum anderen kannte die Beigeladene bei Erwerb des Vorhabengrundstücks die Grenzsituation zum Grundstück des Klägers hin, die dort vorhandene Bebauung und auch die in der Umgebung weit überwiegend vorhandene offene Bauweise. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Beigeladene ihr Grundstück auch unter Einhaltung der Abstandsflächen, ggf. unter Erteilung zusätzlicher Abweichungen nach Art. 63 BayBO, wenn auch weniger intensiv, baulich nutzen könnte.
c) Nach alldem verletzt die Baugenehmigung der Beklagten vom 27. Oktober 2020 den Kläger jedenfalls rechtswidrig in der nachbarschützenden Vorschrift des Art. 6 BayBO und ist somit aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene keinen Klageantrag gestellt hat, können ihr keine Kosten auferlegt werden. Umgekehrt bekommt sie keine Kosten erstattet, da sie unterliegt. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit basiert auf § 167 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben