Baurecht

Nachbarklage gegen erteilte Baugenehmigung für Asylbewerberunterkunft in Gewerbegebiet

Aktenzeichen  AN 9 K 16.00105

Datum:
3.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 114695
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 1, § 246 Abs. 10 S. 1
BauNVO § 1 Abs. 3 S. 2, § 8

 

Leitsatz

1 Durch die Regelung des § 246 Abs. 10 S. 1 BauGB, welche die ausnahmsweise Errichtung von Unterkünften zu sozialen Zwecken in Gewerbegebieten zulässt, sind Unterkünfte für Asylbewerber in einem Gewerbegebiet nur unzulässig, wenn die Bewohner voraussichtlich gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt wären oder das Vorhaben gegenüber dem Nachbar rücksichtslos ist.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Verhaltensbedingte Störungen, die von Einzelpersonen ausgehen, sind keine mit der bestimmungsgemäßen Nutzung einer baulichen Anlage typischerweise auftreten Umstände, die bodenrechtliche Relevanz ausweisen, sodass sie bauplanungsrechtlich nicht bedeutsam sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Sie ist zwar zulässig, im Ergebnis aber unbegründet.
Die Klägerin wird durch die Baugenehmigung vom 18. Dezember 2015 in der Fassung der Änderungsgenehmigung vom 18. Januar 2017 nicht in ihren Rechten verletzt, so dass ihr auch kein Anspruch auf deren Aufhebung zusteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Bei der Klage eines Dritten – hier eines baurechtlichen Nachbarn – hat dieser aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht schon dann einen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung, wenn diese lediglich objektiv rechtswidrig ist; vielmehr muss sich die Rechtswidrigkeit gerade aus solchen Normen ergeben, die zum Prüfungsumfang im bauaufsichtlichen Verfahren gehören (vgl. Art. 68 Abs. 1 Satz 1; BayVGH, B.v. 10.10.2013 – 15 ZB 11.1480 – juris, Rn. 9) und zugleich aber auch dem Schutz dieses Dritten dienen (sog. Schutznormtheorie, vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris, Rn. 20). Der Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde ergibt sich wegen Einstufung des streitgegenständlichen Vorhabens als Sonderbau i.S.d. Art. 2 Abs. 4 BayBO vorliegend aus Art. 60 BayBO.
Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben liegt keine Rechtsverletzung der Klägerin durch die Baugenehmigung vor. Eine Verletzung der vom Prüfungsumfang nach Art. 60 Satz 1 Nr. 2 BayBO umfassten bauordnungsrechtlichen Vorschriften wird von der Klägerin schon nicht vorgetragen und ist für das Gericht auch nicht ersichtlich. Soweit es nach Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO zu prüfende bauplanungsrechtliche Vorschriften betrifft, kann sich die Klägerin insbesondere nicht erfolgreich auf die Verletzung eines Anspruchs auf Gebietserhaltung berufen.
Der Anspruch auf Gebietserhaltung ermöglicht es dem Eigentümer eines in einem Bebauungsplangebiet (§ 30 BauGB) gelegenen Grundstücks, Vorhaben auch ohne konkrete Beeinträchtigung abzuwehren, welche nach ihrer Art in diesem Gebiet nicht zulässig sind oder unter Erteilung von Abweichungen auch nicht zugelassen werden können. Der Gebietserhaltungsanspruch resultiert daraus, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Diese weitreichende nachbarschützende Wirkung beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Grundstücke in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitige Wirkung der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG hat jeder Eigentümer unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung das Recht, sich gegen eine schleichende Umwandlung des Gebietes durch die Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen (vgl. BVerwG, B.v. 18.12.2007 – 4 B 55/07 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – juris Rn. 10).
Vorliegend wird dieser Anspruch auf Erhaltung des Gebietscharakters nicht verletzt. Zwar ist das Vorhaben der Beigeladenen nicht schon allgemein oder ausnahmsweise, dafür aber mittels der hier erfolgten Erteilung einer nicht zu beanstandenden Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB im festgesetzten Gewerbegebiet zulässig.
Das Gericht stimmt zunächst mit der obergerichtlichen Rechtsprechung darin überein, dass eine Unterkunft für Asylbewerber, insbesondere weil der Aufenthalt darin nicht freiwillig ist, sondern auf einer Zuweisungsentscheidung der zuständigen Behörden beruht, eine Anlage für soziale Zwecke darstellt und damit trotz des wohnähnlichen Charakters nicht als eine im Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO per se unzulässige Wohnnutzung zu qualifizieren ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.3.2015 – 1 ZB 14.2373 – juris, Rn. 3 m.w.N.; VG Ansbach, U.v. 29.6.2016 – AN 9 K 15.01348 – juris, Rn. 48 f.). Trotz dieser Einstufung als Anlage für soziale Zwecke geht das Gericht aber in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung auch davon aus, dass die hier geplante Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber aufgrund ihres Umfangs und ihrer allgemeinen Zweckbestimmung mit dem Charakter eines Gewerbegebiets zunächst unvereinbar wäre und damit jedenfalls nicht nach § 31 Abs. 1 BauGB als Ausnahme zugelassen werden könnte (vgl. BayVGH, B.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832 – juris, Rn. 16 m.w.N.; VG Ansbach U.v. 29.6.2016, AN 9 K 15.01348 – juris, Rn. 48 f.).
Aufgrund der gesetzgeberischen Wertung des neu eingeführten § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB widerspricht eine Unterkunft für Asylbewerber allerdings dann nicht dem Gebietscharakter eines Gewerbegebiets, wenn für sie – wie dies vorliegend geschehen ist – in zulässiger Weise eine Befreiung erteilt wurde. Nach dieser Regelung kann bis zum 31. Dezember 2019 in Gewerbegebieten insbesondere für Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder allgemein zulässig sind und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Befreiung sind hier erfüllt.
Entgegen der Ansicht der Klägerin können in dem streitgegenständlichen Gewerbegebiet Anlagen für soziale Zwecke grundsätzlich als Ausnahme zugelassen werden. Durch die Festsetzung eines Gewerbegebiets nach § 8 BauNVO hat die plangebende Beklagte den Katalog der regelhaft oder ausnahmsweise zulässigen Vorhaben i.S.v. § 8 Abs. 1, 2 und 3 BauNVO (1968) in den Bebauungsplan übernommen (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO). Da keine diesen Katalog im konkreten Fall einschränkenden Festsetzungen ersichtlich sind, ergibt sich aus dem festgesetzten Gebietscharakter zugleich nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (1968) eine ausnahmsweise Zulässigkeit von Anlagen für soziale Zwecke.
Die Abweichung ist auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Für diese Prüfung sind wie bei der insoweit vergleichbaren allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB keine generellen Maßstäbe zu bilden; vielmehr sind die Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Im Rahmen der hiernach erforderlichen Einzelfallbetrachtung liegt die Annahme der Unvereinbarkeit einer Befreiung mit den öffentlichen (bodenrechtlichen) Belangen umso näher, je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht einer Planung eingreift. Eine Befreiung ist ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung nur durch eine Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt oder erhöht, das Bauvorhaben mithin „Unruhe stiftet“. Eine eventuelle Unruhe, die durch die Genehmigung einer Unterkunft für Asylbewerber und der damit verbundenen wohnähnlichen Nutzung in ein Gewerbegebiet getragen wird, muss allerdings für die Erteilung einer Befreiung außer Betracht bleiben. Der Gesetzgeber hat sich nämlich durch die Schaffung des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB bewusst für die Möglichkeit einer Befreiung in diesen Fällen entschieden (vgl. VGH BW, B.v. 11.3.2015 – 8 S 492/15 – juris, Rn. 15). Eine Zulassung der in der Vorschrift benannten Unterkünfte für Asylbewerber ist daher tatbestandlich u. a. nur dann unvereinbar mit öffentlichen Belangen bzw. nachbarlichen Interessen, wenn die Bewohner voraussichtlich gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt wären (vgl. VGH BW, B.v. 11.3.2015 – 8 S 492/15 – juris, Rn. 15, VG Ansbach, U.v. 29.6.2016 – AN 9 K 15.01348 – juris Rn. 53) oder wenn sich das Vorhaben gegenüber der Klägerin als rücksichtslos erweist.
Beides ist jedoch nicht der Fall. Anders als die Klägerin meint, verhält sich das Vorhaben ihr gegenüber schon nicht rücksichtslos. Insbesondere ist das Gebot der Rücksichtnahme vorliegend nicht vor dem Hintergrund eines ggf. nicht eingehaltenen, aber möglicherweise entsprechend Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie einzuhaltenden Sicherheitsabstands verletzt. Nach Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie sind die Mitgliedstaaten sinngemäß dazu aufgerufen, dem Erfordernis Rechnung zu tragen, dass bei einem sogenannten Störfallbetrieb einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Sicherheitsabstand gewahrt bleibt. Jedenfalls mit Ablauf der Umsetzungsfrist zum 31. Mai 2015 (§ 31 Abs. 1 der Seveso-III-Richtlinie) ist diese Vorschrift bei der Anwendung des nationalen Rechts im Wege richtlinienkonformer Auslegung zu berücksichtigen (st. Rspr. des EuGH, vgl. U.v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Ziffer 115). Für die Anwendung des Gebots der Rücksichtnahme bedeutet dies, dass, wenn es um die Beurteilung der Zulässigkeit von öffentlich genutzten Gebäuden im Umkreis von Störfallbetrieben geht, auch gewürdigt werden muss, ob zwischen solchen baulichen Anlagen ein „angemessener Sicherheitsabstand“ eingehalten ist (grundlegend zur inhaltlich weitestgehend identischen Vorgängernorm des Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG Seveso-II-Richtlinie: BVerwG, U.v. 20.12.2012 – 4 C 11/11 – juris, Rn. 28 ff.).
Hier steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Betrieb der Firma A. … zu dem für die nachbarliche Anfechtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt, also dem der Erteilung der Baugenehmigung am 18. Dezember 2015 als letzte Behördenentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2005 – 26 B 03.2579 – juris, Rn. 15), (noch) nicht als Störfallbetrieb im Sinne der Seveso-III-Richtlinie zu qualifizieren war. Die Firma A. … hat selbst gegenüber dem Umweltamt der Beklagten mit Schreiben vom 10. Oktober 2016 angezeigt, dass sie erst im Laufe des Jahres 2016 zu einem Störfallbetrieb werde. Dass die Beigeladene für ihr Vorhaben im August 2016 eine Tektur beantragt hat, die erst mit Änderungsgenehmigung vom 18. Januar 2017 und damit nach dieser Anzeige der Firma A. … verbeschieden wurde, vermag hieran nichts zu ändern. Die Tektur betraf nämlich lediglich Randbereiche der bereits genehmigten Nutzung als Asylbewerberunterkunft; mithin wurde hierdurch die Genehmigungsfrage insgesamt nicht neu aufgeworfen, so dass die Tekturgenehmigung auch nicht geeignet ist, den entscheidungsrelevanten Zeitpunkt zu verlagern.
Unabhängig davon wäre auch fraglich, ob es sich bei der Asylbewerberunterkunft überhaupt um ein „öffentlich genutztes Gebäude“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie handelt, da diese Unterkunft ihrem Zwecktypus entsprechend nicht für einen unbegrenzten Personenkreis und damit gerade nicht öffentlich zugänglich ist (vgl. Jarass, BImSchG, 11. Aufl. 2015, § 50, Rn. 15).
Aber auch wenn man dem klägerischen Vortrag folgend der Firma A. … die Qualifikation als Störfallbetrieb zugestehen würde, hätte dies kein anderes Ergebnis zur Folge, da der erforderliche Sicherheitsabstand nach § 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie gewahrt ist. Dies ergibt sich aus der seitens der Firma A. … im Rahmen ihres Änderungsverfahrens nach BImSchG in Auftrag gegebenen Einzelfallbetrachtung des … vom 12. Dezember 2016. Danach ist unter Zugrundelegung der Vorgaben des Leitfadens KAS 18 und unter Berücksichtigung der konkreten emissionsrelevanten Anlageteile, also hier des Tankraums als Bezugspunkt, ein Abstand von 57 ausreichend und somit als „angemessen“ i.S.v. § 13 Abs. 1 der Seveso-III-Richtlinie anzusehen. Dieser Abstand ist vorliegend eingehalten, da sich das auf der südlichen Hälfte des Grundstücks Fl.Nr. … befindliche streitgegenständlichen Vorhaben vollständig außerhalb dieses Schutzradius von 57m befindet. Unerheblich ist hierbei, dass die Grundstücke der Beigeladenen teilweise noch innerhalb des Schutzradius liegen, da für die Einhaltung des Abstandes eben eine anlage- und nicht eine grundstücksbezogene Sichtweise heranzuziehen ist. An der Validität des Gutachtens bestehen für das Gericht schließlich auch keine Zweifel. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass der … den Leitfaden KAS 18 als Berechnungsgrundlage herangezogen hat, da weder das Unionsrecht noch das innerstaatliche Recht bislang Regelungen zur Frage des „angemessenen Abstands“ vorhalten, die dann eine verdrängende Wirkung haben könnten (vgl. HessVGH, U.v. 26.3.2015 – 4 C 1566/12.N – juris, Rn. 44, 47; so auch zu dem vorangegangenen Leitfaden SFK/TAA BayVGH, U.v. 14.7.2006 – 1 BV 03.2179 – juris Rn. 58). Auch wurden keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die auf Grundlage des Leitfadens KAS 18 vorgenommene Berechnung als solche fehlerhaft wäre; entsprechende Gründe sind für das Gericht auch nicht ersichtlich.
Vor diesem Hintergrund vermag das Vorhaben zulasten der Firma A. … als Anlagenbetreiberin auch keine neuen oder anderen störfallrechtlichen Auflagen auszulösen. Überdies geht mit der Überwindung der grundsätzlichen Gebietsunverträglichkeit einer wohnähnlichen Nutzung im Gewerbegebiet durch die neu geschaffene Befreiungsmöglichkeit des § 246 Abs. 10 BauGB auch zugleich eine Absenkung des immissionsbezogenen Schutzanspruchs der Nutzer solcher Einrichtungen einher (vgl. VG Ansbach, a.a.O., VG München, B.v. 30.11.2015 – M 1 SN 15.4780 – juris Rn. 29), so dass das Vorhaben ohnehin nicht mehr Schutz beanspruchen kann, als im Gewerbegebiet auch jedem anderen zulässigen Vorhaben zu Teil wird.
Soweit die Klägerin aus eventuellen Erweiterungsabsichten, auch im Hinblick auf das in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, eine Abwehrposition herzuleiten versucht, übersieht sie, dass unter Zugrundelegung ihres Vortrages weder im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigungen noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein schützenswertes Erweiterungsinteresse der Firma A. … vorliegt. In der Stellungnahme des Umwelttechnikers Dr.-Ing. … vom 12. April 2017, die die Klägerin in diesem Zusammenhang beigebracht hat, ist zwar ausgeführt, dass bei der Firma A. … schon seit längerem der Wunsch bestehe, das Tanklager technisch zu erneuern. Ein konkreter Zeitpunkt für die geplanten Modernisierungsmaßnahmen wird allerdings nicht genannt. Vielmehr zeigt die Stellungnahme selbst auf, wie ungewiss derzeit eine Realisierung der geplanten Maßnahmen ist, indem darin dargelegt wird, dass eine Verlegung des Tanklagers an die Grundstücksgrenze zum heutigen Zeitpunkt lediglich „nicht auszuschließen“ sei. Vor dem Hintergrund dieser nur als vage zu bezeichnenden Planungsabsichten, bei denen gegenwärtig noch völlig unklar ist, ob und inwieweit sie überhaupt realisiert werden, kann das Gebot der Rücksichtnahme der Beigeladenen nicht abverlangen, ihre eigenen konkreten Nutzungsabsichten zurückstellen, um der Firma A. … möglichst große Spielräume für deren künftige Nutzung offen zu halten. Selbiges gilt für die seitens der Klägerin befürchteten Änderungen der Rechtslage insbesondere mit Blick auf den angemessenen Abstand oder die die Eigenschaft als Störfallbetrieb und damit die Abstandspflicht auslösenden Mengenschwellen. Der bloße Hinweis auf generelle zukünftige Rechtsänderungen vermag der Klägerin keinen Abwehranspruch zu vermitteln.
Ohne Aussicht auf Erfolg bleiben auch die von der Klägerin erhobenen Bedenken gegen die streitgegenständliche Nutzung im Hinblick auf Sicherheitsbelange wie das unbefugte Betreten ihres Grundstücks oder das Einbringen von leicht entflammbaren Gegenständen wie brennenden Zigaretten durch die Bewohner der Unterkunft. Als unzumutbar können im nachbarschaftlichen Verhältnis nur solche Einwirkungen angesehen werden, die bei der bestimmungsgemäßen Nutzung einer baulichen Anlage typischerweise auftreten und von bodenrechtlicher Relevanz sind. Hingegen sind über das typischerweise zu erwartende Maß hinausgehende verhaltensbedingte Störungen durch das Fehlverhalten einzelner Personen kein Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Betrachtung; vielmehr ist dem mit Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts oder des zivilen Nachbarrechts zu begegnen (BayVGH B.v. 21.8.2015 – 9 CE 15.1318 – juris, Rn. 19). Bodenrechtliche Spannungen in diesem Sinne vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die seitens der Klägerin dargestellte Brandgefahr durch weggeworfene Zigaretten ist gerade nicht spezifisch in der Nutzung der Asylbewerberunterkunft angelegt, sondern hat im persönlichen Fehlverhalten einzelner Bewohner ihre Ursache. Bei solchen Rechts- oder Ordnungsverletzungen sieht die Rechtsordnung vor, dass primär die konkret handelnden Personen als Verhaltensstörer zur Verantwortung zu ziehen sind, nicht aber gegen die bauliche Anlage als solche vorgegangen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2015 – 9 CE 14.2854 – juris, Rn. 19). Gleiches gilt auch für den Vortrag der Klägerin bezüglich einer Gefahr durch unbefugtes Betreten ihres Grundstücks. Im Übrigen obliegt es ihr selbst, ihr Grundstück so zu sichern, dass derartige Gefahren vermieden werden. Soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass Sicherheitsmaßnahmen mit hohen Kosten verbunden seien, so ist auch dieser Vortrag ohne jeden Bezug zum Baurecht und kann daher im Baugenehmigungsverfahren nicht berücksichtigt werden.
Schließlich ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Bewohner des Vorhabens gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt würden. Es ist schon weder erkennbar noch von der Klägerin substantiiert vorgetragen worden, dass hier beispielsweise vom Gewerbegebiet ausgehende Lärm- und Geruchsimmissionen zu einer gesundheitlichen Gefährdung der Bewohner des streitgegenständlichen Asylbewerberheimes führen könnten.
Nach alledem ist daher auch mit Blick darauf, dass aufgrund des dringenden öffentlichen Interesses an der Unterbringung von Asylbewerbern den Nachbarn ein Mehr an Beeinträchtigungen grundsätzlich zuzumuten ist (HessVGH, B.v. 18.9.2015 – 3 B 1518/15 – juris Rn. 18), die streitgegenständliche Asylbewerberunterkunft im Gewerbegebiet auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar.
Die Beklagte hat schriftlich auch ihr Einvernehmen mit dem in Rede stehenden Vorhaben erklärt und in der mündlichen Verhandlung nochmals explizit ausgeführt, dass für das betreffende Baugebiet keine planungsrechtlichen Probleme aufgrund der geänderten Nutzung zu erwarten seien (vgl. § 246 Abs. 10 Satz 2 BauGB i.V.m § 36 BauGB).
Die Erteilung der streitgegenständlichen Befreiung durch die Beklagte ist auch nicht im Verhältnis zur Klägerin in ermessensfehlerhafter Weise erfolgt. In Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist das Gericht der Auffassung, dass im Fall des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 246 Abs. 10 BauGB im Regelfall eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt und damit ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Befreiung nach dieser Vorschrift besteht (BayVGH, B.v. 8.1.2016 – 1 CS 15.2687 – juris, Rn. 3; auch VGH BW, B.v. 11.3.2015 – 8 S 492/15 – juris, Rn. 20). Dabei ist insbesondere auf das hohe öffentliche Interesse an der Schaffung zusätzlicher Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber abzustellen, zumal hier mit der erteilten Baugenehmigung auch keine Beeinträchtigungen der Klägerin oder der Betreiberfirma verbunden sind. Das Gericht hat auch keine Bedenken dagegen, dass die streitgegenständliche Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB hier unbefristet gewährt wurde. Mit der Befristung der Geltungsdauer der Regelung des § 246 Abs. 10 BauGB bis zum 31. Dezember 2019 war seitens des Gesetzgebers nicht beabsichtigt, nur befristete Befreiungen zu ermöglichen. Dies ergibt sich nunmehr sogar ausdrücklich aus der am 24. Oktober 2015 in Kraft getretenen Neufassung des § 246 BauGB, in dessen Absatz 17 es nunmehr lediglich klarstellend heißt, dass sich die Befristung bis zum 31. Dezember 2019 in den Absätzen 8 bis 16 nicht auf die Geltungsdauer einer Genehmigung, sondern auf den Zeitraum, bis zu dessen Ende im bauaufsichtlichen Zulassungsverfahren von den Vorschriften Gebrauch gemacht werden kann, bezieht.
Vor dem Hintergrund, dass vorliegend die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB vorlagen, scheidet eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs der Klägerin aus.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung erweist sich gegenüber der Klägerin auch nicht im Übrigen als rücksichtslos.
Nach allem ist die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 18. Dezember 2015 in der Fassung der Änderungsgenehmigung vom 18. Januar 2017 nicht geeignet, die Klägerin in drittschützenden Vorschriften zu verletzen. Die Klage ist mithin unbegründet und war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren Unterlegene hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Es entspricht der Billigkeit, die der Beigeladenen entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen für erstattungsfähig zu erklären, da die Beigeladene sich aufgrund eigener Antragstellung im Verfahren am Prozessrisiko beteiligt hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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