Baurecht

Nachbarklage, qualifzierter Bebauungsplan, Befreiungen, Baugrenze, Geschossflächenzahl, Bauweise, Gebot der Rücksichtnahme, Abstandsflächen

Aktenzeichen  M 29 K 18.3351

Datum:
12.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 54633
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 6 Abs. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beigeladene vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Nachbarklage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH v. 8.7.2013 – 2 CS 13.807 – juris, Rn. 3; BayVGH v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris, Rn. 20, m.w.N.). Auf Bauordnungsrecht beruhende Nachbarrechte können durch eine Baugenehmigung dabei dann nicht verletzt werden, wenn diese bauordnungsrechtlichen Vorschriften im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen sind (BVerwG v. 16.1.1997 – 4 B 244/96 – juris, Rn. 3; BayVGH v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris, Rn. 3). Ob eine angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, beurteilt sich grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung. Nur nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn sind zu berücksichtigen, Änderungen zu seinen Lasten haben außer Betracht zu bleiben (BVerwG v. 8.11.2010 – 4 B 43/10 – juris, Rn. 9, m.w.N.).
Die angefochtene Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 verletzt keine die Kläger schützenden Rechte im vorgenannten Sinn. Weder liegt ein Verstoß gegen drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts noch gegen solche des Bauordnungsrechts vor.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung verstößt nicht gegen die Kläger schützende Vorschriften des Bauplanungsrechts. Die ausgesprochenen Befreiungen vom Bebauungsplan Nr. … wegen Überschreitung der Baugrenze im Süden und wegen Überschreitung der festgesetzten GFZ betreffen keine drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans. Weiter ist kein Drittrechtsverstoß hinsichtlich der Bauweise gegeben. Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme liegt nicht vor.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3. die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würden
und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Hinsichtlich des Nachbarschutzes im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder von nicht drittschützenden Festsetzungen. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH v. 23.5.2017 – 1 CS 17.693 – juris, Rn. 3; BayVGH v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – juris, Rn. 3; jeweils m.w.N.).
Die Befreiung hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze betrifft keine drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. …
Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien und Baugrenzen haben grundsätzlich keine drittschützende Funktion. Solche Festsetzungen vermitteln Drittschutz nur dann, wenn sie ausnahmsweise nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen (BayVGH v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris, Rn. 24, m.w.N.). Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder auch aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben kann. Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollte (BayVGH v. 29.8.2014 a.a.O., Rn. 25, m.w.N.).
Vorliegend gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte mit ihrem Bebauungsplan Nr. … der Bauraumfestsetzung drittschützende Wirkung zukommen lassen wollte. Nach der (nur eine Seite umfassenden) Begründung zum Bebauungsplan soll mit diesem vor allem die Trasse des …rings, Teil II, festgelegt werden. Weiter ist festgehalten, dass die Führung des …rings II die Anlegung einer Reihe von Zubringer- und Nebenstraßen auslöst; weiter dann, dass störende Altbauten beseitigt werden müssen und die in einzelnen Teilen des Plangebiets genehmigten Baulinien aufgehoben oder in Anpassung an den Baubestand geändert werden müssen. Dass insoweit drittschützende Aspekte eine Rolle gespielt haben könnten, kann diesen Begründungselementen nicht entnommen werden. Die Textfestsetzungen des Bebauungsplans enthalten keinerlei Regelungen zur überbaubaren Grundstücksfläche. Dem Planteil kann entnommen werden, dass die vordere (südliche) Baugrenze, von der befreit wurde, in etwa parallel zur M.-straße verläuft. Durch diese Baugrenze sollte also offensichtlich der Schaffung von Vorgärten einheitlicher Tiefe dienen. Eine (auch) drittschützende Funktion der festgesetzten Baugrenze kann nach alledem nicht festgestellt werden.
Auch die Maßfestsetzung über die zulässige Geschossflächenzahl im Bebauungsplan Nr. … hat keinen nachbarschützenden Charakter.
Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung durch Bebauungspläne haben grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (BayVGH v. 16.7.2002 – 2 CS 02.1236 – juris, Rn. 34). Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (BVerwG v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 – juris, Rn. 14). Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung können auch dann drittschützende Wirkung entfalten, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht hat. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen ist. Dieser Gedanke prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen. Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümern zu. Daraus folgt unmittelbar, dass der einzelne Eigentümer die Maßfestsetzungen aus seiner eigenen Rechtsposition heraus auch klageweise verteidigen kann (BVerwG v. 9.8.2018 a.a.O., Rn. 15, m.w.N.). Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Es entspricht allgemeiner Rechtsüberzeugung, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist das Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht (BVerwG v. 9.8.2018 a.a.O., Rn. 16, m.w.N.).
Voraussetzung für eine ausnahmsweise nachbarschützende Wirkung einer Festsetzung über das Maß der baulichen Nutzung ist also, dass der Plangeber insoweit ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis geschaffen hat. Insoweit kann es nicht ausreichen, dass die gleichen Maßfestsetzungen für ein bestimmtes Gebiet im Bebauungsplan getroffen wurden, da ein Drittschutz für entsprechendes Gebiet damit stets anzunehmen wäre. Ein Drittschutz der Maßfestsetzungen würde in diesem Fall nur dann entfallen, wenn der Bebauungsplan sehr kleinteilig unterschiedliche Maßfestsetzungen treffen würde. Die Ausnahme würde zur Regel gemacht. Allein der Umstand, dass für das Anwesen der Kläger und für das der Beigeladenen sowie für weitere Anwesen in der Umgebung einheitlich eine Festsetzung einer GFZ von 0,5 erfolgte, genügt also nicht, um eine drittschützende Wirkung dieser Regelung herzuleiten.
Soweit die Klägerbevollmächtigten davon ausgehen, dass sich die drittschützende Wirkung der Festsetzung über die Geschossflächenzahl aus der Gesamtschau der zeichnerischen Festsetzungen ergebe, folgt das Gericht dem nicht. Die Bevollmächtigten der Kläger stützen sich dabei auf ein Urteil der 8. Kammer des erkennenden Gerichts vom 4. Juli 2011 (M 8 K 10.3170 – juris). Dieses Urteil wurde durch Urteil des BayVGH vom 19. März 2013 (2 B 13.98 – juris) aber aufgehoben.
Auch aus dem Bebauungsplan selbst bzw. aus seiner Begründung kann nichts für ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis im Hinblick auf die Maßfestsetzungen entnommen werden. Die Begründung zum Bebauungsplan führt insoweit lediglich aus, die teilweise ermittelte Überschreitung der höchstzulässigen Geschossflächenzahl würde durch die vorhandene, rechtlich zulässige Bebauung gemäß § 17 Abs. 8 BauNVO gestützt. Der Plangeber ging also davon aus, dass die höchstzulässige Geschossflächenzahl teilweise, aber eben nur teilweise, überschritten wurde. Dies steht der Annahme, dass ein wechselseitiges Austauschverhältnis geschaffen werden sollte, aber gerade entgegen.
Der Geschossflächenzahlfestsetzung im Bebauungsplan Nr. … kommt also keine drittschützende Wirkung zu.
Der Nachbarschutz in bauplanungsrechtlicher Hinsicht richtet sich vorliegend nach alledem nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebotes, § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO.
Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits den Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits den Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BayVGH v. 6.4.2018 – 15 ZB 17.36 – juris, Rn. 21, m.w.N.).
Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot kann in Betracht kommen, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens das Wohngebäude des Nachbarn „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von der konkreten Situation im Einzelfall ab (BayVGH v. 23.11.2011 – 14 ZB 10.493 – juris, Rn. 8, m.w.N.). Eine abriegelnde oder erdrückende Wirkung infolge des Nutzungsmaßes eines Bauvorhabens kann dabei ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung als unzumutbare Beeinträchtigung nur bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommen. Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind mithin – neben der bloßen Distanz – insbesondere die besonderen Belastungswirkungen aufgrund der Höhe und der Länge des Bauvorhabens auf das benachbarte Wohngebäude (BayVGH v. 6.4.2018 a.a.O., Rn. 28, m.w.N.). Die Möglichkeit einer erdrückenden Wirkung ist dabei grundsätzlich zu verneinen, wenn der Baukörper des angegriffenen Gebäudes nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Nachbargebäudes (BayVGH v. 6.4.2018 a.a.O., Rn. 31, m.w.N.).
Nach diesen Vorgaben scheidet eine einmauernde bzw. erdrückende Wirkung des streitgegenständlichen Vorhabens auf das Gebäude der Kläger aus. Dies folgt schon daraus, dass sich beide Gebäude entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze relativ spiegelbildlich gegenüberliegen. Dies gilt insbesondere auch für den jeweils südlichen, nicht grenzständig errichteten Gebäudeteil. Das streitgegenständliche Gebäude erstreckt sich hier nur geringfügig weiter nach Süden als das Gebäude der Kläger. Vergleichbar sind die beiden Gebäude auch dahingehend, dass sie im jeweils grenznäheren Bereich eingeschossig und im grenzferneren Bereich zweigeschossig ausgestaltet sind. Auch der Umstand, dass bei dem streitgegenständlichen Vorhaben durch die Abgrabung in Richtung des klägerischen Grundstücks optisch ein weiteres Geschoss entsteht, kann nicht zu einer erdrückenden oder einmauernden Wirkung führen. Diese Abgrabung lässt die Höhenentwicklung bezüglich der Oberkante des Gebäudes unberührt. Bezogen auf die Gebäudeoberkante stehen sich beide Gebäude relativ einheitlich gegenüber. Das gegenüber dem Gebäude der Kläger „tiefergelegte“ zusätzliche Geschoss des streitgegenständlichen Vorhabens wirkt sich auf dessen gegenüber dem Gebäude der Kläger relative Höhe nicht aus. Eine einmauernde bzw. erdrückende Wirkung kommt dem angefochtenen Vorhaben nach alledem nicht zu.
Das streitgegenständliche Vorhaben ist gegenüber den Klägern auch nicht dadurch rücksichtlos, dass Einsichtsmöglichkeiten in das Anwesen der Kläger geschaffen würden.
Der Nachbar hat in der Regel keinen Schutz vor der Schaffung neuer Einsichtsmöglichkeiten in sein Grundstück. Vor allem hat er keinen Rechtsanspruch darauf, dass Räume, Fenster, Balkone oder Dachgauben des Bauvorhabens so angeordnet werden, dass sein Grundstück nicht oder nur eingeschränkt eingesehen werden kann. So liegt die Möglichkeit, aus Fenstern Einblicke in die Nachbargrundstücke zu erhalten, in Baugebieten in der Natur der Sache und ist von Eigentümern und Bewohnern eines Gebietes regelmäßig hinzunehmen. Das gilt auch dann, wenn im innerstädtischen Bereich aus anderen Häusern in Fenster der Nachbargebäude hineingesehen werden kann. Unzumutbare Nachteile für den Nachbarn sind deshalb auch dann nicht anzunehmen, wenn die Nutzung des Nachbargrundstücks durch Sichtverbindungen zwischen dem entstandenen Vorhaben und dem Nachbargrundstück beeinträchtigt ist. Mit Balkonen und Fenstern ist eine gewisse Einsehbarkeit immer verbunden; sie ist grundsätzlich nicht zu vermeiden und zumutbar (BayVGH v. 13.7.2005 – 14 CS 05.1102 – juris, Rn. 9, m.w.N.). Auch über das Gebot der Rücksichtnahme wird in bebauten Ortslagen grundsätzlich kein Schutz des Nachbarn vor jeglichen (weiteren) Einsichtsmöglichkeiten vermittelt, allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme etwas anderes ergeben (BayVGH v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris, Rn. 20, m.w.N.). Voraussetzung hierfür wäre, dass sich besondere – außergewöhnliche, über die herkömmlichen Einsichtsmöglichkeiten in Innerortslagen hinausgehende – Belastungen für den Nachbarn ergeben (vgl. BayVGH v. 15.1.2018 a.a.O., Rn. 21).
Ein Ausnahmefall im vorgenannten Sinn liegt nicht vor. Zwar ist den Klägern zuzugeben, dass das streitgegenständliche Vorhaben zu ihrem Grundstück hin Fenster in insgesamt drei Geschossen aufweist. Besondere Einblicksmöglichkeiten aus den Fenstern im tiefer gelegten Geschoss sind jedoch nicht zu besorgen, da der von hier aus nur mögliche Blick von unten nach oben keinen Einblick in die Außenanlagen auf dem Grundstück der Kläger ermöglicht. Gegen Einblicke aus den Fenstern im Erdgeschoss des gegenständlichen Vorhabens wäre ein wirksamer Schutz vor Einblicken durch eine „architektonische Selbsthilfe“ dadurch möglich, dass entsprechende Bepflanzungen vorgenommen werden (vgl. BayVGH v. 14.2.2018 – 15 CS 17.2549 – juris, Rn. 10). Für das Obergeschoss trifft es zwar zu, dass sich eine Fensterfront – in zwei Teilen – über ca. ¾ der gesamten Gebäudelänge hinzieht, der ein Balkon über nahezu die gesamte Gebäudelänge vorgelagert ist. Einblicksmöglichkeiten auf das Grundstück der Kläger in vergleichbarem Umfang wären hier aber auch dann gegeben, wenn lediglich ein einzelnes Fenster mit einem davorliegenden kleineren Austritt verwirklicht würde. Ein Anspruch des Nachbarn auf eine komplett fensterlose Wand – bzw. hier komplett fensterlose Etage – auf der ihm zugewandten Gebäudeseite besteht aber nicht. Der Nachbar kann auch nicht verlangen, dass die Fenster gegenüber einem anderen benachbarten Grundstück angeordnet werden. Eine besondere Situation, die ausnahmsweise zur Rücksichtslosigkeit neu geschaffener Einblicksmöglichkeiten führen würde, ist nach alledem nicht gegeben.
Auch soweit die Kläger mit der vorgelegten Verschattungsstudie eine Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens im Hinblick auf die Belichtung rügen, greift dies nicht durch.
Belichtung und Belüftung sind in ausreichendem Maß gesichert, wenn ein Lichteinfallswinkel von 45 Grad auch an den engsten Stellen an der Fassade des Nachbarn gewahrt ist; in diesen Fällen scheidet eine unzumutbare Beeinträchtigung des Nachbarn aus (BayVGH v. 9.6.2011 – 2 ZB 10.2289 – juris, Rn. 5). Diese Voraussetzungen erfüllt das streitgegenständliche Vorhaben, wie sich aus dem genehmigten Schnitt Abstandsflächen ergibt.
Auch hinsichtlich der Bauweise ist eine Rechtsverletzung der Kläger durch die Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 auszuschließen. Insoweit ist schon fraglich, ob die Feststellungswirkung der Baugenehmigung sich auf die Bauweise erstreckt.
Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften Mindestfestsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält (Qualifizierter Bebauungsplan) ein Vorhaben zulässig, wenn es den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist. Eine Festsetzung auch über die Bauweise ist für das Vorliegen eines Qualifizierten Bebauungsplans damit nicht erforderlich.
Der Bebauungsplan Nr. … enthält für den Bereich, in dem die Grundstücke der Verfahrensbeteiligten gelegen sind, keine Festsetzung über die Bauweise. Die Bauweise war damit auch nicht Prüfungsgegenstand im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens. Dies spricht dafür, dass eine Rechtsverletzung der Kläger durch die angefochtene Baugenehmigung im Hinblick auf die Bauweise schon dem Grunde nach ausgeschlossen ist.
Diese Frage muss indes nicht abschließend geklärt werden. Auf unterirdische Bauteile kommt es im Zusammenhang mit der Bauweise nicht an (vgl. OVG RP v. 28.1.2016 – 8 B 11203/15 – juris, Rn. 23, zu einer Tiefgarage). Die vorliegend an der Grundstücksgrenze vorgesehene unterirdische Stützmauer ist damit für die Frage der Bauweise rechtlich nicht von Belang.
Das streitgegenständliche Vorhaben verstößt auch nicht gegen die Kläger schützende Regelungen des Bauordnungsrechts. Dies gilt sowohl hinsichtlich des gerügten Abstandsflächenverstoßes als auch hinsichtlich des Verstoßes gegen die Verordnung über die besonderen Siedlungsgebiete.
Die Vorschriften des Abstandsflächenrechts dienen zwar in ihrer Gesamtheit auch dem Nachbarschutz (vgl. BayVGH v. 11.12.2014 – 15 CS 14.1710 – juris, Rn. 15). Ein Abstandsflächenverstoß zu Lasten der Kläger liegt aber nicht vor.
Maßgeblich ist vorliegend die Rechtslage zum Zeitpunkt der im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren erteilten Baugenehmigung vom 26. Juni 2018. Die Aufnahme der Abstandsflächenvorschriften in das Prüfprogramm zum 1. September 2018 ist keine Rechtsänderung zugunsten des Bauherrn, sondern erweist sich ihm gegenüber als rechtlich neutral. Zwar waren nach Art. 59 Satz 1 BayBO in der bis zum 31. August 2018 gültigen Fassung die Abstandsflächen nicht Gegenstand des Prüfprogramms. Nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO a.F. waren aber beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO Gegenstand des Prüfprogramms. Vorliegend hat die Beigeladene die Erteilung einer Abweichung hinsichtlich der Abstandsflächen zum Grundstück der Kläger hin beantragt. Jedenfalls hinsichtlich der Ostseite des streitgegenständlichen Vorhabens ist das Abstandsflächenrecht damit Gegenstand des Prüfprogramms.
Da auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung abzustellen ist, kommt es vorliegend nicht auf die Frage an, ob die gesetzgeberische Absicht durch den mit Gesetz vom 10. Juli 2018 mit Wirkung vom 1. September 2018 eingefügten Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO das Erfordernis einer Atypik bei Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften entfallen zu lassen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu Nr. 5), gelungen ist.
Vorliegend kann also offen bleiben, ob für die beantragte Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von den Abstandsflächenvorschriften zum Grundstück der Kläger hin erforderliche Atypik (vgl. dazu BayVGH v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris, Rn. 16) gegeben ist. Das Vorliegen einer Atypik ist allerdings aus Sicht der Kammer äußerst zweifelhaft. Zwar kann eine atypische Fallgestaltung aufgrund eines bogenartigen schmalen Zuschnitts des Baugrundstücks, seiner besonderen Topografie und seiner Lage im Altstadtgefüge angenommen werden (vgl. BayVGH v. 11.12.2014 – 15 CS 14.1710 – juris, Rn. 20, m.w.N.). Eine solche Situation des Grundstücks der Beigeladenen ist aber nicht gegeben. Dieses Grundstück hat eine Breite von ca. 14,50 m (abgegriffen), was durchaus einer typischen Breite eines Baugrundstücks entspricht. Auf die Frage des Vorliegens einer atypischen Situation kommt es entscheidungserheblich aber nicht an.
Ein Verstoß der angefochtenen Baugenehmigung gegen die Kläger schützendes Abstandsflächenrecht liegt nicht vor. Das Bauvorhaben der Beigeladenen hält nach Norden und nach Süden jeweils die volle Abstandsflächentiefe von 1 H entsprechend Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO ein. Das Vorhaben kann daher sowohl nach Westen als auch nach Osten – zum Grundstück der Kläger hin – das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO in Anspruch nehmen. Die insoweit im angefochtenen Bescheid ausgesprochene Abweichung geht damit ins Leere.
Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Hs. 1 BayBO genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 BayBO erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m. Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Hs. 1 BayBO gilt Satz 1 der Vorschrift, wenn ein Gebäude mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut wird, nur noch für eine Außenwand. Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO sind aneinandergebaute Gebäude wie ein Gebäude zu ein behandeln.
Das streitgegenständliche Vorhaben wird nicht im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Hs. 1 BayBO mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut. Insoweit stellen z.B. die seitlichen Abschlusswände eines Reihenmittelhauses insoweit keine Außenwände im Sinn dieser Vorschrift dar, als sie profilgleich aneinandergefügt sind, wohingegen Art. 6 Abs. 6 Satz 2 BayBO für solche Teile der Abschlusswände zwischen aneinandergebauten Gebäuden, die horizontal oder vertikal versetzt sind und dadurch nach außen in Erscheinung treten, gilt (BayVGH v. 21.5.1990 – GrS 2/1989 – juris, Rn. 25). Soweit das streitgegenständliche Gebäude mit seinem nördlichen Teil auf eine Länge von ca. 9 m an der Grundstücksgrenze zum Grundstück der Kläger errichtet wird, erfolgt dies als deckungsgleicher Anbau an das Gebäude auf dem Grundstück der Kläger. Der südliche Teil des streitgegenständlichen Vorhabens mit einer Länge von ca. 11 m ist nicht an die Grenze zum Grundstück der Kläger angebaut, sondern hält dazu einen Abstand von 3 m ein. Ein Grenzanbau i.S.v. Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Hs. 1 BayBO liegt damit nicht vor; das streitgegenständliche Vorhaben ist für die Anwendung des 16 m-Privilegs nicht auf eine Außenwand beschränkt.
Es liegen auch keine aneinandergebauten Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO vor.
Zwar können aneinandergebaute Gebäude im Sinn dieser Vorschrift auch Gebäude sein, die auf verschiedenen Buchgrundstücken bestehen oder errichtet werden sollen (BayVGH v. 21.5.1990 – a.a.O., Rn. 16). Diese Vorschrift soll aber – insbesondere für Doppelhäuser – verhindern, dass mit Hilfe des 16 m-Privilegs Baukörper entstehen, die eine Außenwandlänge von bis zu 32 m aufweisen, jedoch gleichwohl das 16 mPrivileg für sich in Anspruch nehmen können (BayVGH v. 6.5.2019 – 2 CE 19.515 – juris, Rn. 10, m.w.N.). Geschützt werden durch diese Vorschrift also diejenigen Nachbarn, die der Außenwand eines auch über eine Grundstücksgrenze hinweg zusammengebauten Gebäudes gegenüberliegen, nicht jedoch die Nachbarn, die Gebäude an einer gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinanderbauen. Der Schutzgedanke des Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO betrifft – übertragen auf den vorliegenden Fall – damit nicht das Verhältnis der Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen zueinander.
Darüber hinaus ist der Gesetzgeber bei der Festlegung von Art. 6 Abs. 6 BayBO offenbar vom Regelfall eines Gebäudes mit vier Außenwänden ausgegangen (vgl. BayVGH v. 21.4.1986 – GrS 1/85 – 15 B 84 A.2534 – BayVBl 1986, 397, 399). Auch dieser Umstand spricht gegen eine Anwendung des Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO auf die vorliegend gegebene Konstellation, in der von einem sechsseitigen Gebäude auszugehen wäre. Einen solchen Sachverhalt hatte der Gesetzgeber aber offensichtlich nicht im Blick.
Nach alledem kann das streitgegenständliche Vorhaben sowohl nach Westen als auch nach Osten – zu den Klägern hin – das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO in Anspruch nehmen. Die zulässige Wandlänge von maximal 16 m ist in beiden Fällen mit einer abstandsflächenrelevanten Außenwand nach Westen mit einer Länge von 15,99 m und nach Osten mit einer Länge von 11,70 m gewahrt.
Auf die Frage, ob den Klägern eine Berufung auf einen Abstandsflächenverstoß durch das streitgegenständliche Vorhaben nach Treu und Glauben wegen vergleichbarer eigener Abstandsflächenverletzung versagt bleibt, kommt es damit nicht mehr entscheidungserheblich an.
Auch im Hinblick auf die Vorschriften der besonderen SiedlungsgebietsVO (GVO), die nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 GVO von ihrem räumlichen Geltungsbereich her Anwendung findet, liegt kein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften vor. Insoweit kann offen bleiben, ob nach § 6 GVO vorliegend Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … der Verordnung vorgehen, ob eine nach § 5 Abs. 2 GVO zulässige Abgrabung vorliegt oder ob eine Befreiung bzw. Ausnahme nach § 7 GVO in Frage käme. Die ortsrechtliche Vorschrift der Verordnung über die besonderen Siedlungsgebiete hat jedenfalls keinen nachbarschützenden Charakter (vgl. BayVGH v. 16.7.1999 – 2 B 96.1048 – juris, Rn. 16, zur mittlerweile für nichtig erklärten Regelung des § 2 Abs. 1 GVO über die Mindestabstandsflächen).
Zusammenfassend ist also festzustellen, dass mit der Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 nicht gegen die Kläger schützenden Nachbarrechte verstoßen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beigeladene hat einen Sachantrag gestellt und sich damit nach § 154 Abs. 3 VwGO in ein Kostenrisiko begeben, so dass es der Billigkeit im Sinn von § 162 Abs. 3 VwGO entspricht, auch ihre außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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