Baurecht

Nachbarklage, Yoga-/Sportstudio im reinen Wohngebiet, Unbestimmtheit der Baugenehmigung

Aktenzeichen  9 ZB 21.120

Datum:
16.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31013
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 3
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 5 K 20.326 2020-11-19 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin wendet sich gegen die der Beigeladenen von der Beklagten mit Bescheid vom 20. Januar 2020 erteilte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung von Wohnräumen im Erdgeschoss des Gebäudes auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung W. in ein Yoga-/Sportstudio. Das Baugrundstück grenzt nordöstlich an das Grundstück der Klägerin, FlNr. … Gemarkung W., an. Das Verwaltungsgericht hat den Baugenehmigungsbescheid der Beklagten vom 20. Januar 2020 mit Urteil vom 19. November 2020 wegen mangelnder Bestimmtheit aufgehoben. Hiergegen richtet sich der Antrag der Beigeladenen auf Zulassung der Berufung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos. Es liegen weder die von der Beigeladenen geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), noch weist die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
1. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Die Beigeladene macht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geltend (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Beigeladene innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Hieraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
a) Soweit die Beigeladene vorträgt, es sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht von einem faktischen reinen Wohngebiet, sondern von einem faktischen allgemeinen Wohngebiet auszugehen, bleibt der Antrag erfolglos.
aa) Die Beigeladene rügt, das Verwaltungsgericht hätte trotz der vor dem Verwaltungsgericht übereinstimmenden Erklärungen aller Beteiligten nicht ohne weiteres von einem faktischen reinen Wohngebiet ausgehen dürfen, sondern einen Augenschein zur Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB vornehmen müssen. Damit leitet die Beigeladene ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils aus einem Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts her. In diesen Fällen wird ein Zulassungsgrund nur dann ausreichend dargelegt, wenn dem Darlegungserfordernis der Verfahrensrüge genügt wird. Entspricht das Vorbringen diesen Anforderungen, kommt eine Zulassung nur in Betracht, wenn auch eine entsprechende Verfahrensrüge zu einer Zulassung führen würde. Bei der Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) – wie hier – muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären (vgl. BVerwG, B.v. 30.7.2010 – 8 B 125.09 – juris Rn. 23; B.v. 3.6.2014 – 2 B 105.12 – juris Rn. 26). Eine Verletzung von § 86 Abs. 1 VwGO und ein Verfahrensmangel liegen nur dann vor, wenn ein Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt worden ist oder sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 15.3.2021 – 9 ZB 20.498 – juris Rn. 8 m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall.
Die anwaltlich vertretene Beigeladene hat zur Bestimmung der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BauGB schon keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt. Die Aufklärungsrüge dient aber nicht dazu, Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2019 – 2 B 8.19 – juris Rn. 9). Dem Zulassungsvorbringen lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich dem Verwaltungsgericht auf Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Aufklärung hätte aufdrängen müssen, zumal es in den Urteilsgründen „vereinzelte gewerbliche oder sonstige vorhandene Nutzungen“ in dem von ihm zugrunde gelegten Gebiet bewertet und auf dieser Grundlage in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Beteiligten die Eigenart der näheren Umgebung als faktisches reines Wohngebiet eingestuft hat. Der Bewertung dieser im Urteil angeführten Nutzungen als freiberufliche Tätigkeit (Kinesiologin – S. H. Straße …) und einem im faktischen reinen Wohngebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulässigen kirchlichen Zentrum der C. (A. H. Straße …), setzt das Zulassungsvorbringen nichts substantiiert entgegen.
b) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergeben sich auch nicht aus der umfangreichen Auflistung verschiedener „Nicht-Wohnnutzungen“ und der Ansicht der Beigeladenen, es sei deswegen von einem faktischen allgemeinen Wohngebiet auszugehen.
Das Verwaltungsgericht führt aus, dass – unabhängig davon, wie weit man in südwestlicher Richtung den Umgriff zur Bestimmung der näheren Umgebung fasse, jedenfalls der Bereich, der nördlich des Baugrundstücks durch die Straße „A.“, südlich durch die „T. H. Straße“ und östlich durch den Abschluss der Bebauung abgegrenzt werde, ganz überwiegend durch Wohnbebauung geprägt wird. Demgegenüber sieht die Beigeladene die Abgrenzung in nordwestlicher Richtung bis zur W. und R. H. Straße vor, woraus sich ein Gebiet mit einer Fläche von über 300.000 m2 ergibt. Im Hinblick auf die sich daraus ergebende Ausdehnung und Größe dieses Bereichs zeigt das Zulassungsvorbringen allerdings nicht auf, dass dieser Bereich noch maßstabsbildend für die Beurteilung der Eigenart der näheren Umgebung des Baugrundstücks ist, d.h. inwieweit sich die Ausführung des Bauvorhabens noch auf diese Umgebung auswirken kann und inwieweit diese Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BayVGH, U.v. 9.9.2020 – 9 BV 17.2417 – juris Rn. 15). Auch wenn das Verwaltungsgericht die Kinesiologin auf der dem Straßengeviert, in dem das Bauvorhaben liegt, gegenüberliegenden Straßenseite der S. H. Straße (Haus-Nr. …) bewertet hat, ergibt sich weder aus dem Zulassungsvorbringen noch aus den diesem beigefügten Luftbildaufnahmen, dass dieses Grundstück und insbesondere der daran westlich und nordwestlich weite anschließende Bereich nach den o.g. Kriterien oder aufgrund eines Augenscheins in die nähere Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 2 BauGB einzubeziehen wäre. Es ist daher nicht dargelegt, dass die von der Beigeladenen zahlreich angeführten „Nicht-Wohnnutzungen“ in dem von ihr nach Nord-Westen großzügig gezogenen Bereich überhaupt noch als maßstabsbildend für die Abgrenzung der näheren Umgebung angesehen werden können.
Der Hinweis auf die eine gewerbliche Nutzung vermutenlassende Anschrift eines Stromanbieters (A. H. Straße …) in der vom Verwaltungsgericht nach Südosten mit dem Abschluss der Bebauung abgegrenzten Bereich ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgerichts vorgenommenen Bewertung des maßgeblichen Bereichs als faktisches reines Wohngebiet aufzuzeigen. Abgesehen davon, dass diese Nutzung am äußersten Rand des vom Verwaltungsgericht als maßgeblich angesehenen Gebiets liegt und nicht aufgezeigt wird, dass dieser Bereich nach den o.g. maßgebenden Kriterien tatsächlich noch der näheren Umgebung zuzurechnen ist, lässt der sich dem Luftbild zu entnehmende Eindruck des Gebäudes auf keinerlei nach außen hin erkennbare gewerbliche Nutzung schließen. Zudem wird ausweislich des Internetauftritts des Stromanbieters die Postanschrift offensichtlich noch in diesem Jahr an diesem Standort aufgegeben, so dass mangels weiterer Anhaltspunkte eine gewerbliche Nutzung auch nicht substantiiert dargelegt ist.
c) Das Verwaltungsgericht stellt darauf ab, dass die Baugenehmigung vom 20. Januar 2020 im Hinblick auf den Begriff „Yoga-/Sportstudio“ wegen der möglichen Interpretationsbreite und fehlenden Angaben in der Betriebsbeschreibung zur Art der Veranstaltungen und der angebotenen Kurse sowie zum Umfang des Leistungsangebots in nachbarrechtsrelevanter Weise zu unbestimmt ist. Es zieht hierbei auch sonstige objektive Umstände, insbesondere den tatsächlich stattfindenden Betrieb in Form eines Kampfsportstudios heran, wogegen nichts einzuwenden ist (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2016 – 9 ZB 14.1147 – juris Rn. 8). Das Verwaltungsgericht führt zudem aus, dass aufgrund der zu vagen und offenen Betriebsbeschreibung auch keine eindeutige Qualifizierung als freiberufliche Tätigkeit möglich sei, sowie auch die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots nicht beurteilt werden könne, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Nutzung als Kampfsportstudio mit spezieller Geräuschkulisse. Dem tritt das Zulassungsvorbringen, das maßgebend auf ein allgemeines Wohngebiet und eine geänderte Betriebsbeschreibung abstellt, nicht substantiiert entgegen.
d) Soweit sich die Beigeladene auf einen von ihr nach Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichts gestellten Tekturantrag mit neuer Betriebsbeschreibung beruft, führt dies nicht zur Zulassung der Berufung. Zwar können grundsätzlich auch Tatsachen, die vom Rechtsmittelführer erst nach Erlass des Urteils selbst geschaffen worden sind, um dem angegriffenen Urteil die Grundlage zu entziehen, in Abhängigkeit vom materiellen Recht unter Umständen zu berücksichtigen sein (vgl. BVerwG, B.v. 11.11.2002 – 7 AV 3.02 – juris Rn. 12; a.A. BayVGH, B.v. 21.2.2000 – 2 ZB 00.316 – juris Rn. 5), die äußerste Grenze hierfür ist jedoch der Ablauf der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO für die Begründung des Berufungszulassungsantrags (vgl. BVerwG, B.v. 15.12.2003 – 7 AV 2.03 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 22.10.2015 – 22 ZB 15.1584 – juris Rn. 16). Zudem darf es zu keiner Änderung des Streitgegenstandes kommen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124 Rn. 23). Unabhängig von der Frage, ob die von der Beigeladenen beantragte Tektur zu einer Änderung des Streitgegenstandes führen würde, kann im Übrigen hier die bloße Stellung eines Tekturantrags schon mangels Verbindlichkeit für den Bauherrn keine Berücksichtigung finden. Denn die Beigelade ist auf einen bloßen Antrag hin, bei dem weder das Verhältnis zur bisherigen Baugenehmigung vom 20. Januar 2020 noch dessen Inhalt (bestandskräftig) verbeschieden ist, weder berechtigt noch verpflichtet, diesen umzusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.1998 – 2 CS 98.1497 – juris Rn. 7). Die von der Beigeladenen vorgelegte Bewertung des Schallimmissionsschutzes des Sachverständigenbüros T.vom 27. Januar 2021 ist – unabhängig davon, dass diese auf Basis der neuen Betriebsbeschreibung erfolgt ist – aus den gleichen Gründen nicht geeignet, die Bestimmtheit der Baugenehmigung vom 20. Januaar 2020 zu gewährleisten. Damit kann offenbleiben, ob die mit der Tektur vorgelegte, geänderte Betriebsbeschreibung vom 2. Februar 2021 überhaupt geeignet ist, die vom Verwaltungsgericht beanstandete Unbestimmtheit, insbesondere im Hinblick auf Art und Umfang des Leistungsangebots, zu beheben.
2. Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Die im Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen lassen sich, wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, ohne weiteres und mit zweifelsfreiem Ergebnis im Zulassungsverfahren klären. Besondere Schwierigkeiten im Sinne offener Erfolgsaussichten eines Berufungsverfahrens ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht. Die Rechtssache weist keine entscheidungserheblichen Fragen auf, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereiten, sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren herausheben (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 9 ZB 15.442 – juris Rn. 21 m.w.N.). Sowohl die Abgrenzung der Eigenart der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BauGB als auch die Frage der Bestimmtheit einer Baugenehmigung in nachbarrechtsrelevanter Weise sind regelmäßig Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Verfahren und nicht per se tatsächlich oder rechtlich schwierig. Allein die unterschiedliche Bewertung des vorliegenden Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht und die Beigeladene genügt hierfür nicht (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493 – juris Rn. 26). Die von der Beigeladenen aufgeworfene Frage einer Sonderfallbeurteilung nach Nr. 3.2.2 TA Lärm ist im Hinblick auf die Unbestimmtheit der Baugenehmigung vom 20. Januar 2020 aus vom Verwaltungsgericht angeführten weiteren Aspekten nicht entscheidungserheblich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit dieser Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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