Baurecht

Nachbarklage, Zweifamilienhaus, Befreiungen von Festsetzungen des Bebauungsplans, Festsetzung der Baugrenze nicht nachbarschützend, Anordnung von zwei Stellplätzen hintereinander nicht rücksichtslos

Aktenzeichen  Au 5 K 21.920

Datum:
15.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29557
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 12 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger als Gesamtschuldner zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. 
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Klagegegenstand ist die im Baugenehmigungsbescheid vom 9. März 2021 (Gz. …) unter Ziffer II.A.1 und 3 erteilte Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten südlichen Baugrenze zugunsten einer dort geplanten Garage. Die Kläger werden durch diese Befreiung nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Eine Baunachbarklage kann ohne Rücksicht auf die etwaige objektive Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung nur dann Erfolg haben, wenn die erteilte Genehmigung gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die gerade auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind und dieser dadurch in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist. Eine Verletzung von Nachbarrechten kann darüber hinaus wirksam geltend gemacht werden, wenn durch das Vorhaben das objektiv-rechtliche Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, dem drittschützende Wirkung zukommen kann.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung ist im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO erteilt worden, in dem die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO), den Vorschriften über Abstandsflächen nach Artikel 6 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO), den Regelungen örtlicher Bauvorschriften i.S.d. Artikel 81 Abs. 1 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c BayBO), beantragte Abweichungen i.S.d. Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO), prüft.
2. Die in dem streitgegenständlichen Bescheid unter Ziffer II.A.1 und 3 erteilte Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von der festgesetzten südlichen Baugrenze (§ 6 Abs. 4 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans i.V.m. der Planzeichnung) verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
a) Der Festsetzung der Baugrenzen im Bebauungsplan Nr. … kommt keine drittschützende Wirkung zu.
Hinsichtlich des Nachbarschutzes ist im Rahmen der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen oder von nicht drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit wird. Weicht das Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplanes ab, hat der Dritte einen Rechtsanspruch auf die Einhaltung der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB. Ist von einer drittschützenden Festsetzung eines Bebauungsplanes befreit worden, ist auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin im vollem Umfang nachzuprüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind. Wird hingegen eine Befreiung von einer nicht drittschützenden Festsetzung eines Bebauungsplanes erteilt, dann hat der Nachbar grundsätzlich nur ein subjektiv-öffentliches Recht auf Würdigung seiner nachbarrechtlichen Interessen. Unter welchen Voraussetzungen dann eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist dabei nach den Maßstäben des drittschützenden Gebotes der Rücksichtnahme zu beantworten. Nachbarrechte werden in diesem Fall nur verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung in unzumutbarer Weise beeinträchtigt wird.
Hinsichtlich der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen eines Bebauungsplanes ist zu beachten, dass diese mit Ausnahme der Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, die kraft Gesetzes Drittschutz vermitteln, grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung entfalten (st. Rspr., s. etwa BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011; BayVGH, B.v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 4). Von einer neben die städtebauliche Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen, von denen in dem streitgegenständlichen Bescheid eine Befreiung erteilt wurde, könnte daher lediglich dann ausnahmsweise ausgegangen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen dahingehenden planerischen Willen erkennbar sind. Ob die Festsetzung danach ausnahmsweise auch dem Schutz eines bestimmbaren oder von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises zu dienen bestimmt ist oder nicht, kann sich dabei aus dem Bebauungsplan selbst, aus der Begründung des Bebauungsplanes oder anderen Unterlagen des Planaufstellungsverfahrens ergeben (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 29).
aa) Im vorliegenden Fall ergeben sich weder aus den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans selbst noch aus der Begründung oder weiteren Unterlagen irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Festsetzung der Baugrenzen (§ 6 Abs. 4 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans i.V.m. der Planzeichnung) über eine städtebauliche Ordnungsfunktion hinaus auch eine drittschützende Wirkung für das Grundstück der Kläger zukommen soll. In Ziffer D.4.1 der Begründung des Bebauungsplans wird das der Planung zugrundeliegende städtebauliche Konzept dargelegt, der Nachbarschutz wird hier nicht ausdrücklich thematisiert. Auch wenn in Ziffer D.4.1 ausgeführt wird, dass die geplanten Gebäude jeweils möglichst im Norden der einzelnen Grundstücke angeordnet wurden, um eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung gewährleisten zu können, lässt sich hieraus nicht ableiten, dass über eine städtebauliche Funktion hinaus damit auch ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis begründet werden sollte. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass in § 6 Abs. 5 der textlichen Festsetzungen auf die abstandsrechtlichen Regelungen des Art. 6 Abs. 5 und 6 BayBO verwiesen wird. Der Plangeber verweist demnach zur Wahrung der Belange Belichtung, Belüftung und Besonnung ausdrücklich auf das Abstandsflächenregime der Bayerischen Bauordnung. In Ziffer D.4.4. der Begründung wird insoweit ausdrücklich ausgeführt, dass mit den Abstandsflächenregelungen der BayBO städtebauliche Missstände vermieden und gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gewährleistet werden. Dass der Plangeber darüber hinaus die eigenen Festsetzungen insoweit zusätzlich mit einer nachbarschützenden Funktion gerade im Hinblick auf die durch das Abstandsflächenrecht gewahrten Belange „aufladen“ wollte, ist demnach nicht ersichtlich. Auch aus den weiteren Ausführungen unter Ziffer D.4.4 zur Bauweise, den überbaubaren Grundstücksflächen und Abstandsflächen ergibt sich hierzu nichts. In den textlichen Festsetzungen wird unter § 6 Abs. 4 nur festgesetzt, dass die überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien und Baugrenzen festgesetzt sind.
Zwar verbietet es der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, nicht von vornherein, die Festsetzungen nachträglich subjektiv aufzuladen (BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 15f.). Das öffentliche Baurecht ist nicht in dem Sinne statisch aufzufassen, dass es einer nachträglichen drittschutzbezogenen Auslegung im vorgenannten Sinne bzw. einer Ermittlung eines entsprechenden objektivierten planerischen Willens generell nicht zugänglich wäre (BVerwG, B.v. 11.6.2019 – 4 B 5.19 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – juris Rn. 25). Dabei kann offen bleiben, ob die Möglichkeit einer nachträglichen subjektiv-rechtlichen Aufladung von Festsetzungen eines Bebauungsplanes, die nicht die Art der baulichen Nutzung betreffen, von vornherein auf (übergeleitete) Bebauungspläne zu begrenzen ist, die aus einer Zeit vor Inkrafttreten des BBauG und der erst im Jahr 1960 beginnenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Nachbarschutz stammen und im Übrigen bei jüngeren Bebauungsplänen – wie dem hier einschlägigen aus dem Jahr 2008 – weiterhin allein auf den ggf. durch Auslegung zu ermittelnden Willen des kommunalen Plangebers abzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – a.a.O. – Rn. 26). Unabhängig davon können Festsetzungen jedenfalls nur dann über eine nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung als nachbarschützend angesehen werden, wenn der Plangeber – unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektiv-rechtlichen Nachbarschutz zu begründen – die planbetroffenen Grundstücke mit der betroffenen Festsetzung tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat (BayVGH, B.v. 24.7.2020 – a.a.O. – juris Rn. 27). Für das Vorliegen eines solchen nachbarschützenden Austauschverhältnisses gibt es vorliegend jedoch, wie ausgeführt, keine Anhaltspunkte. Die Tatsache allein, dass eine Festsetzung für den Nachbarn günstig ist und die erteilte Befreiung für ihn überraschend kommt, reicht hierfür jedenfalls nicht aus.
Nachdem, wie ausgeführt, die Festsetzung der Baugrenzen im Bebauungsplan Nr. … nicht nachbarschützend ist, kommt es auf die Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen und ob das eingeräumte Ermessen von der Beklagten fehlerfrei betätigt wurde, nicht entscheidend an.
bb) Die Kläger können sich auch nicht darauf berufen, durch nicht erteilte, aber erforderliche Befreiungen in nachbarschützenden Rechten verletzt zu sein.
Die Kläger machen geltend, für die Positionierung der zusätzlichen Garage an der südlichen Grundstücksgrenze hätte es ebenfalls einer Befreiung bedurft, weil der Bebauungsplan die Garagen jeweils nur an einer Grundstücksgrenze vorsehe. Auch die Errichtung der den beiden Garagen vorgelagerten Stellplätze hätte einer Befreiung bedurft, weil § 11 Abs. 1 Satz 2 des Bebauungsplans vorgelagerte Stellplätze nur bei einer Bebauung mit Doppel- oder Hausgruppen vorsehe.
Fehlt es an einer an sich erforderlichen Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes, liegt ein sog. versteckter Dispens vor. Eine Verletzung von Nachbarrechten kann sich dabei nur durch die Baugenehmigung selbst, nicht jedoch durch die nicht erteilte Befreiung ergeben. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Kläger sich angesichts der ausdrücklichen Beschränkung der Klage auf die Anfechtung der erteilten Befreiung von den Baugrenzen auf die gerügten, fehlenden Befreiungen berufen können. Denn auch die Positionierung der Garagen im Bebauungsplan und die Festsetzungen zu den Stellplätzen sind nicht nachbarschützend. Weder dem Textteil noch der Begründung des Bebauungsplans ist zu entnehmen, dass der Plangeber den Festsetzungen insoweit über ihre städtebauliche Funktion hinaus ausnahmsweise nachbarschützende Wirkungen beimessen wollte. Hinsichtlich der Stellplätze kann allein aus § 11 Abs. 1 Satz 2 der textlichen Festsetzungen, nachdem ausnahmsweise vorgelagerte Stellplätze bei einer Bebauung mit Doppel- oder Hausgruppen ermöglicht werden, nicht geschlossen werden, dass die Stellplatzregelung in § 11 Abs. 1 Satz 1 der textlichen Festsetzungen über städtebauliche Gründe hinaus auch eine nachbarschützende Funktion hat. In der Begründung des Bebauungsplans wird zum Thema „Stellplätze“ unter Ziffer D.4.1. nur ausgeführt, dass eine Begrenzung der Zulässigkeit auf maximal 2 Wohnungen erforderlich sei, um entsprechende Stellplatzanforderungen zu vermeiden. Ansonsten finden sich in der Begründung des Bebauungsplans keine Ausführungen zu den Stellplätzen bzw. deren Positionierung. Damit kann sich auch durch die unterbliebenen Festsetzungen, soweit sie Auswirkungen auf die Garagen- und Stellplatzsituation entlang der südlichen Grundstücksgrenze des Baugrundstücks haben, eine Rechtsverletzung der Kläger nur bei einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ergeben.
b) Die Kläger werden durch das Bauvorhaben nicht nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots (§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO) in ihren Rechten verletzt.
aa) Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen dabei wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N.). Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung kommt beispielsweise bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht.
Hält ein Vorhaben den bauordnungsrechtlich nach Art. 6 BayBO für eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung erforderlichen Abstand von dem Nachbargrundstück ein, ist darüber hinaus für das Gebot der Rücksichtnahme grundsätzlich kein Raum mehr. Auch wenn die Verletzung des Rücksichtnahmegebotes nicht in jedem Fall davon abhängt, ob die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind, kommt dem aber durchaus eine indizielle Bedeutung zu und ist bei deren Einhaltung grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt ist (BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215/96 – NVwZ-RR 1997, 516; BVerwG, B.v. 16.9.1993 – BVerwGE 94, 151). Denn in diesem Fall ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber die diesbezüglichen nachbarlichen Belange und damit das diesbezügliche Konfliktpotenzial in einen vernünftigen und verträglichen Ausgleich gebracht hat (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 29.1.2016 – 15 ZB 13.1759 – juris Rn. 28; BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 4.7.2016 – 15 ZB 14.891 – juris Rn. 9).
bb) Vorliegend wurde die angefochtene Befreiung von der südlichen Baugrenze zugunsten der Errichtung einer Grenzgarage erteilt. Diese weist eine Länge von 6 m, eine Grundfläche von 17,28 m² und eine mittlere Wandhöhe von 2,50 m auf. Damit ist sie nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO innerhalb der Abstandsflächen ohne eigene Abstandsflächen an der Grundstücksgrenze zulässig. Die geplante Grenzgarage verletzt demnach kein Abstandsflächenrecht. Aus der Wertung des Landesgesetzgebers ergibt sich vielmehr, dass nachbarliche Belange der Errichtung einer derartigen Garage an der gemeinsamen Grundstücksgrenze nicht entgegenstehen.
Besondere Umstände, bei denen trotz der Regelung des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO vorliegend ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme angenommen werden könnte, sind nicht ersichtlich. Die geplante Garage grenzt unmittelbar an die Garage der Kläger an und überschreitet deren Maße weder in der Höhe noch in der Länge. Zudem liegt sie an der nördlichen Grenze des klägerischen Grundstücks, gegenüber der Doppelgarage der Kläger und deren Zufahrt. Soweit die Kläger rügen, dass die Nutzung der Garage und des davor gelegenen Stellplatzes Immissionen verursache, die im Hinblick auf die Situierung ihres Schlafzimmers im Obergeschoss an der nord-östlichen Gebäudeecke unzumutbar seien, kann auch damit ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht begründet werden. Nach § 12 Abs. 2 BauNVO sind in den dort genannten Gebieten, also auch in dem hier festgesetzten allgemeinen Wohngebiet, Stellplätze und Garagen nur für den durch die zugelassene Nutzung verursachten Bedarf zulässig. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … sind je Einzelhaus höchstens zwei Wohneinheiten zulässig. Das von den Beigeladenen geplante Zweifamilienhaus ist demnach ohne weiteres seiner Art nach zulässig. Daraus ergibt sich ein Stellplatzbedarf von 4 Stellplätzen. Nachdem nach § 12 Abs. 2 BauNVO der durch die zugelassene Nutzung verursachte Bedarf grundsätzlich zulässig ist und damit von den Nachbarn nach der Wertung des Gesetzgebers hinzunehmen ist, ist nicht ersichtlich, inwieweit die Kläger durch die beiden Stellplätze (Garage und offener Stellplatz) unzumutbar beeinträchtigt sein sollten. Dass es sich vorliegend bei dem Garagenstellplatz um einen „gefangenen“ Stellplatz handelt, ändert an dieser Beurteilung nichts. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die durch Mitglieder einer Wohneinheit verursachten Fahrbewegungen auf zwei Stellplätzen (für die zweite Wohneinheit in dem geplanten Zweifamilienhaus stehen an der nördlichen Grundstücksgrenze zwei eigene Stellplätze zur Verfügung), selbst wenn einer davon vorgelagert ist, Immissionen hervorrufen würden, die nicht in einem allgemeinen Wohngebiet als sozialadäquat hinzunehmen wären. Demnach kann der Umstand, dass mit der erteilten Befreiung von der südlichen Baugrenze die Schaffung von zwei Stellplätzen an der klägerischen Grundstücksgrenze ermöglicht wird, die Kläger nicht in nachbarschützenden Rechten verletzen.
cc) Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ergibt sich auch nicht dadurch, dass – wie von den Klägern vorgetragen wird – die erteilte Befreiung zu einem Verstoß gegen die im Bebauungsplan festgesetzte offene Bauweise i.S. von § 22 Abs. 1 BauNVO führen würde. Ein Verstoß gegen die festgesetzte offene Bauweise liegt nicht vor. Eine Bauweise i.S. von § 22 BauNVO kann nur durch Hauptgebäude, nicht aber durch Nebengebäude oder Garagen vorgegeben werden (BayVGH, B.v. 23.4.2004 – 20 B 03.3002 – NVwZ-RR 2005, 391; VGH BW, U.v. 29.1.1999 – 3 S 2662/98 – juris Rn. 34; BeckOK BauNVO, Spannowsky/Hornmann/Kämper, Stand: 15.3.2021 § 22 Rn. 29; Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauNVO, § 22 Rn. 10). Wie ausgeführt, ist die an der südlichen Grundstücksgrenze geplante Garage nicht den Regelungen über die Einhaltung von Abstandsflächen unterworfen und verstößt demnach grundsätzlich nicht gegen die Festsetzung der offenen Bauweise (BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 17). Anhaltspunkte dafür, dass der Plangeber vorliegend dem Begriff der „offenen Bauweise“ im Bebauungsplan eine andere als die in § 22 BauNVO zugrunde gelegte Bedeutung beimessen wollte, ergeben sich aus den Planunterlagen nicht. Unter Ziffer D.4.4. 1. Absatz der Begründung des Bebauungsplans wird lediglich ausgeführt, dass im Plangebiet die „offene Bauweise“ gelte, ohne diesen Begriff weiter zu präzisieren. Demgegenüber werden in Ziffer D.4.4. 2. Absatz der Begründung zu der entlang der N. Straße festgesetzten „Hausgruppe“ (WA 5) dezidierte Ausführungen gemacht. Hier wurde, obwohl „Hausgruppen“ nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO in der offenen Bauweise errichtet werden könnten, eine abweichende Bauweise, verbunden mit weiteren Erläuterungen, festgesetzt, wohl weil es sich insoweit nicht um eine klassische „Hausgruppe“ i.S. des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO handelt. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass der Plangeber dort, wo er die Begrifflichkeiten der BauNVO unverändert übernehmen wollte, auch keine weiteren Ausführungen gemacht hat.
dd) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die erteilte Befreiung deshalb rücksichtslos wäre, weil mit Blick auf die Festsetzung des Bebauungsplans, wonach Garagen im WA 3 jeweils nur an der nördlichen bzw. westlichen Grundstücksgrenze errichtet werden sollen, nach Auffassung der Kläger für die Errichtung einer zusätzlichen Garage an einer zweiten Grundstücksgrenze eine zusätzliche Befreiung erforderlich gewesen wäre. Abgesehen davon, dass es sich hierbei, wie ausgeführt, nicht um eine nachbarschützende Festsetzung handelt, entspricht die geplante Garage an der nördlichen Grundstücksgrenze den Festsetzungen des Bebauungsplans. Eine Befreiung ist hierfür nicht erforderlich. Darüber hinaus beinhaltet die den Beigeladenen unter Ziffer A.II.1 und 3 der Baugenehmigung erteilte Befreiung die Möglichkeit, auf ihrem Grundstück eine zweite Garage außerhalb der Baugrenzen zu situieren. Einer gesonderten Befreiung bedarf es hierfür nicht.
ee) Auch aus dem von den Klägern befürchteten erhöhten Unterhaltungsaufwand für ihre Garage aufgrund des Angrenzens der südlichen Garage der Beigeladenen an ihre Doppelgarage lässt sich kein Verstoß gegen die gebotene Rücksichtnahme, soweit sie Gegenstand des Prüfprogramms im Baugenehmigungsverfahren ist, ableiten. Die Baugenehmigung ergeht nach Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet privater Rechte Dritter. Soweit der Nachbar also geltend macht, in privaten Rechten beeinträchtigt zu sein, kann dies nicht gegen die Baugenehmigung angeführt werden.
ff) Sonstige Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung sind – ungeachtet der Frage, ob sie angesichts der Beschränkung des Klageantrags überhaupt zu prüfen wären – nicht ersichtlich und werden auch nicht vorgetragen.
3. Als im Verfahren unterlegen haben die Kläger die Kosten des Verfahrens nach § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO als Gesamtschuldner zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, da sie keinen Antrag gestellt und sich damit nicht am Prozesskostenrisiko beteiligt haben.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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