Baurecht

Prüfung des Rücksichtnahmegebotes in Bauvorbescheidsverfahren

Aktenzeichen  1 KO 214/19

Datum:
11.8.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Oberverwaltungsgericht 1. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:OVGTH:2021:0811.1KO214.19.00
Normen:
§ 74 S 1 BauO TH
§ 74 S 4 BauO TH
§ 71 Abs 1 BauO TH
§ 34 BauGB
§ 15 BauNVO
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Die Frage der Zulässigkeit der Art der geplanten baulichen Nutzung lässt sich nicht ohne Prüfung des Rücksichtnahmegebotes beantworten.(Rn.20)

2. Auch die Frage der Einhaltung des Gebotes der Rücksichtnahme im Hinblick auf Geräuschemissionen durch An- und Abfahrverkehr ist kein Teilaspekt, der bei der Prüfung des Einfügens im Rahmen der Bauvoranfrage dem Baugenehmigungsverfahren vorbehalten werden darf.(Rn.20)

3. Die Ausklammerung der Frage der Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes führt dazu, dass die Bauvoranfrage hinsichtlich der Zulässigkeit des Vorhabens nicht abschließend verbindlich bescheidungsfähig ist.(Rn.20)

Verfahrensgang

vorgehend VG Gera, 23. Januar 2018, 4 K 101/17 Ge, Urteil

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 23. Januar 2018 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erteilung eines Bauvorbescheides für die Errichtung von Einzelhandelsbetrieben.
Der Vorhabenstandort liegt nordwestlich des Bahnhofs von S… an der K… -… Straße. Die Grundstücke auf der östlichen Seite der K… Straße sind im Wesentlichen unbebaut, der nördliche Bereich wird als Parkplatz genutzt. In größerem Abstand befinden sich Einzelhandelsgeschäfte.
Mit Anschreiben vom 16. November 2015 stellte der Kläger einen Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheides für den Neubau eines Lebensmittelmarktes, eines Drogerie- sowie eines Textilmarktes und stellt die Frage zur Entscheidung, ob der geplante Lebensmittel- und der Drogeriemarkt jeweils einzeln oder in Kombination miteinander sowie zusätzlich mit einem Textilfachmarkt nach der Art der baulichen Nutzung bauplanungsrechtlich zulässig seien. Diese Prüfung sollte unter Ausklammerung u. a. der Frage der Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes im Hinblick auf Geräuschemissionen durch An- und Abfahrverkehr erfolgen.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage auf Erteilung eines Vorbescheides ab, da die Frage nach der Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes zwar ausgeklammert werden könne, das Vorhaben aber weder nach § 35 BauGB noch nach § 34 BauGB, wenn man von einer Innenbereichslage ausgehe, zulässig sei.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung durch Beschluss vom 19. März 2019 zugelassen.
Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger im Wesentlichen aus, dass sich der Vorhabenstandort in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil befinde. In dem Bereich hätten sich bis zur Umverlegung der Straße im Jahre 2015 ein Taxiunternehmen sowie öffentliche Stellplätze befunden. Auf den Nachbargrundstücken seien Wohnnutzung, ein Tattoo- und Piercingstudio, Einzelhandel mit Schmuck, Accessoires und Kosmetikprodukten, ein Feinmechanik-Gewerbebetrieb, ein Stellwerk, das Post- sowie das Bahngebäude mit Verwaltung und Büro vorhanden. 2007 sei ein Teil noch durch die Firma T… GmbH genutzt worden. Die nicht bebaute bzw. mit abbruchreifen Gebäuden belegte Fläche habe zwar ca. eine Größe von 15.000 qm, der östliche Bereich werde aber durch die Bebauung geprägt und stelle eine Baulücke von ca. 4.500 qm dar, die bei der Feststellung der Außenbereichsinsel nicht zu berücksichtigen sei. Nehme man die Grundfläche des Stellwerkes einschließlich der Abstandsflächen und Flächen für Stellplätze bzw. sonstige Nebenanlagen, seien auf den freien Grundstücksflächen vier weitere Gebäudekörper möglich. Dies halte sich ebenfalls im Rahmen dessen, was noch als Baulücke und nicht als Unterbrechung des Bebauungszusammenhangs angesehen werden könne. Ferner gehe von den östlich der B 85 liegenden baulichen Anlagen sowohl hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung als auch hinsichtlich der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen eine prägende Wirkung aus. Bis auf eine Wohnnutzung handele es sich ausschließlich um gewerbliche oder – bei der Nutzung durch die Deutsche Bahn – um zumindest gewerbeähnliche Nutzungen. Es handele sich auch nicht um eine Gemengelage, da die Wohnnutzung als Ausreißer einzustufen sei. Der erforderliche Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit ergebe sich hier auch durch die vorhandenen Straßen, die der inneren Erschließung des Bereichs dienten. Sie würden die Fläche strukturieren und deutlich machen, dass eine weitere Bebauung beabsichtigt sei bzw. sich aufdränge. Durch die bereits zum Teil realisierte Umfahrung der vorderen Teilfläche von ca. 10.000 qm des Vorhabenstandortes werde die Freifläche in zwei Bereiche aufgeteilt und die Gebäude im hinteren Grundstücksbereich im Anschluss an die Bahngleise würden an den vorderen Bereich angebunden. Die Fläche zwischen Bahn und B 85 sei wegen ihrer Größe deshalb keiner von der Umgebung unabhängigen gesonderten städtebaulichen Entwicklung fähig. Außerdem sei die Nachwirkung der ehemals vorhandenen Bebauung zu berücksichtigen. In dem Zeitraum zwischen Einstellung der Nutzung bzw. dem Abriss der Gebäude auf dem streitgegenständlichen Grundstück und der Stellung der Bauvoranfrage habe es wesentliche Bemühungen um eine Bebauung gegeben. Es sei jederzeit ersichtlich gewesen, dass die bereits abgerissenen bzw. baufälligen Gebäude mit einer gewerblichen Nutzung im Bereich Dienstleistungen/Einzelhandel wieder errichtet werden sollten. In dem Gebiet könnte ein nicht großflächiger Einzelhandelsbetrieb als Unterfall von Gewerbebetrieben errichtet werden. Insbesondere handele es sich bei keiner der angefragten Varianten um ein Einkaufszentrum, so dass die Verkaufsflächen nicht zu addieren seien und kein Fall von § 11 Abs. 3 BauNVO vorliege.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 23.01.2018 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 15.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2017 zu verpflichten, ihm einen Bauvorbescheid für die Errichtung von drei Einzelhandelsmärkten (ein Lebensmittelmarkt und ein Drogeriemarkt mit jeweils 799 m² Verkaufsfläche sowie ein Textilfachmarkt mit einer Verkaufsfläche von 650 m²) unter Ausklammerung des Nachweises einer gesicherten Erschließung, des Rücksichtnahmegebots und der Auswirkungen nach § 34 Abs. 3 BauGB entsprechend seinem Antrag vom 23.11.2015 zu erteilen;
hilfsweise,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 23.01.2018 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 15.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2017 zu verpflichten, ihm einen Bauvorbescheid für die Errichtung von zwei Einzelhandelsmärkten (ein Lebensmittelmarkt und ein Drogeriemarkt mit jeweils 799 m² Verkaufsfläche) unter Ausklammerung des Nachweises einer gesicherten Erschließung, des Rücksichtnahmegebots und der Auswirkungen nach § 34 Abs. 3 BauGB entsprechend seinem Antrag vom 23.11.2015 zu erteilen;
äußerst hilfsweise,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 23.01.2018 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 15.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2017 zu verpflichten, ihm einen Bauvorbescheid für die Errichtung eines Einzelhandelsmarktes (Lebensmittelmarkt mit einer Verkaufsfläche von 799 m²) unter Ausklammerung des Nachweises einer gesicherten Erschließung, des Rücksichtnahmegebots und der Auswirkungen nach § 34 Abs. 3 BauGB entsprechend seinem Antrag vom 23.11.2015 zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, bei der Prüfung des Bebauungszusammenhangs sei das gesamte Bahnhofsareal einzubeziehen, da es ein in sich abgeschlossenes, begrenztes Gebiet darstelle. Weder durch die Umgebungsbebauung des gesamten Bahnhofsareals noch durch die vom Kläger hervorgehobene Erschließungssituation ergebe sich der für die Annahme des Innenbereichs erforderliche Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit. Von den östlich der B 85 vor den Bahngleisen liegenden baulichen Anlagen gehe keine prägende Wirkung aus, diese stellten keinen eigenständigen Ortsteil dar. Auch eine Nachwirkung beseitigter Bebauung sei nicht anzunehmen. Die Vorhaben würden sich zudem nicht einfügen. Mit der Errichtung auch nur eines Einzelhandelsbetriebes würde Unruhe gestiftet, die im Verhältnis zur Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen begründe und erhöhe, die potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich zögen. Eine Prüfung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens nur unter Beachtung der Art der baulichen Nutzung und unter Ausklammerung des Rücksichtnahmegebotes könne im Rahmen der Bauvoranfrage nicht erfolgen. Der Bauvoranfrage fehle das erforderliche Sachbescheidungsinteresse, wenn von vorneherein absehbar sei, dass das Vorhaben aus nicht zur Prüfung gestellten Gründen nicht realisiert werden könne.
Mit Schriftsatz vom 18.08.2021 hat der Kläger die Rücknahme der Berufung erklärt. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 24.08.2021 mitgeteilt, in die Rücknahme nicht gemäß § 126 Abs. 1 Satz 2 VwGO einzuwilligen.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte, die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (vier Heftungen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
Zunächst ist festzustellen, dass über die Berufung zu entscheiden ist, obwohl der Kläger mit Schriftsatz vom 18.08.2021 erklärt hat, die Berufung zurückzunehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt gemäß § 126 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Einwilligung des Beklagten voraus. Dieser hat jedoch mit Schriftsatz vom 24.08.2021 mitgeteilt, dass er nicht einwillige.
Die vom Senat zugelassene und fristgerecht begründete Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung des beantragten Bauvorbescheides. Die von ihm zur Vorabentscheidung gestellte Frage nach der Zulässigkeit der geplanten Art der baulichen Nutzung lässt sich nicht ohne die Prüfung des Rücksichtnahmegebotes beantworten. Denn nur anhand dieser ist die Frage, ob sich das Vorhaben in die nähere Umgebung einfügt, abschließend zu beantworten und stellt der Vorbescheid einen Ausschnitt aus der Baugenehmigung dar. Die Frage der Einhaltung des Gebotes der Rücksichtnahme gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bzw. § 34 Abs. 2 HS 1 BauGB, § 15 BauNVO, namentlich im Hinblick auf Geräuschemissionen durch An- und Abfahrverkehr, die der Kläger in seiner Bauvoranfrage ausgeklammert wissen möchte, ist kein Teilaspekt, der bei der Prüfung des Einfügens in der Bauvoranfrage dem Baugenehmigungsverfahren vorbehalten werden darf. Die Ausklammerung führt dazu, dass die Bauvoranfrage hinsichtlich der Zulässigkeit des Vorhabens nicht abschließend verbindlich bescheidungsfähig ist.
Nach § 74 Satz 1 der Thüringer Bauordnung – ThürBO – ist vor Einreichung des Bauantrags auf Antrag des Bauherrn zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Auf seine Erteilung besteht ein Anspruch, wenn dem genehmigungspflichtigen Vorhaben, soweit es zur Entscheidung gestellt wird, keine im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen (§ 74 Satz 4 in Verbindung mit § 71 Abs. 1 ThürBO).
Der positive Vorbescheid regelt in einem vorweggenommenen Verfahren einen Ausschnitt der Baugenehmigung, die zur Entscheidung gestellte Frage ist im Baugenehmigungsverfahren nicht mehr zu prüfen (Risse, in: Jäde/Dirnberger/Michel, Bauordnungsrecht Thüringen Band I, Stand März 2021, § 74 Rn. 43 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Er ist die verbindliche hoheitliche, zeitlich befristete Erklärung der Bauaufsichtsbehörde, dass einem Vorhaben in bestimmter Hinsicht nach dem zur Zeit der Entscheidung geltenden öffentlichen Recht keine öffentlich-rechtlichen Hindernisse entgegenstehen (vgl. BayVGH, Urteil vom 09.09.1999 – 1 B 96.3475 – juris Rn. 22). Das Vorbescheidsverfahren darf sich nur auf einzelne der selbständigen Beurteilung zugängliche Fragen zu einem Bauvorhaben beziehen. Die zur Vorabentscheidung gestellte Frage muss hinreichende Bestimmtheit aufweisen, das heißt, sie muss so gefasst sein, dass ein verständlicher, inhaltlich genau abgegrenzter und eindeutig bestimmter Vorbescheid mit Bindungswirkung ergehen kann (Risse, a. a. O., Rn. 58, 20a). Auch nach Nr. 74.3 der nicht bindenden Bekanntmachung über den Vollzug der Thüringer Bauordnung und der Verordnung über bautechnische Prüfungen; Einführung von Formblättern für das bauaufsichtliche Verfahren, Thüringer Staatsanzeiger Nr. 17/2014, S. 452, 503) sind die einzelnen bauplanungs- oder bauordnungsrechtlichen Fragen vom Bauherrn so zu formulieren, dass sie mit einer eindeutigen Zustimmung oder Ablehnung beantwortet werden können.
Bauplanungsrechtlich gibt § 34 Abs. 1 BauGB die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens im Innenbereich und damit die einzelnen zur Prüfung stellbaren Fragen vor: Danach ist eine Bauvoranfrage zur Zulässigkeit des Vorhabens nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, möglich. Nur insoweit handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Baugenehmigung, über den eine Vorabentscheidung getroffen werden kann. Fragen, die die Grundlage für die Feststellung bilden, ob die Voraussetzungen vorliegen, wie etwa die konkrete Bestimmung der näheren Umgebung als maßgeblichen Rahmen, in den sich das Bauvorhaben einzufügen hat, sind deshalb keiner isolierten Bauvoranfrage zugänglich.
Für das Rücksichtnahmegebot ist dies umstritten.
Nach vereinzelter Rechtsauffassung wird vertreten, dass die Frage, ob ein Vorhaben seiner Art nach bauplanungsrechtlich zulässig ist, in einem bauaufsichtlichen Verfahren losgelöst von dem Problem, ob es die erforderliche Rücksicht auf seine Umgebung wahre, eigenständig geprüft und beantwortet werden könne, sodass die Frage nach der Beachtung des Rücksichtnahmegebotes in der Bauvoranfrage ausgeklammert werden dürfe (OVG NRW, Urteil vom 31.10.2012 – 10 A 912/11 – juris Rn. 36, 43 ff.; Urteil vom 29.08.2018 – 10 A 1403/16 – juris, Tenor und Rn. 38; Urteil vom 27.11.2018 – 2 A 2973/15 – juris Rn. 32; im Anschluss daran: VG Schwerin, Urteil vom 14.03.2019 – 2 A 2640/16 SN – juris Rn. 24 ff.; VG Weimar, Urteil vom 24.10.2017 – 4 K 574/15 We; VG Gera, Urteil vom 04.10.2016 – 4 K 1059/15 Ge). Das im Begriff des Einfügens mit enthaltene Gebot der Rücksichtnahme betreffe danach nicht die städtebauliche Verträglichkeit des Vorhabens, sondern wirke nur als Korrektiv zum Schutze der Nachbarschaft (OVG NRW, Urteil vom 31.10.2012, a. a. O., Rn. 45; VG Aachen, Urteil vom 19.05.2015 – 3 K 2672/12 – juris Rn. 61 f. m. w. N.). Auch wenn sich das Rücksichtnahmegebot als eine Art Auslegungshilfe für die einfachrechtlichen Vorschriften des § 34 Abs. 1 BauGB und des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO darstelle und somit inhaltlicher Bestandteil der jeweiligen Vorschrift sei, ändere dies nichts daran, dass die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens seiner Art nach im Kern nach städtebaulichen Kriterien zu beurteilen sei und diese Beurteilung – wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 28.08.2008 (4 B 60/07) klargestellt habe – auf einer anderen Ebene der Zulässigkeitsprüfung erfolge als die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des nachbarschützenden Rücksichtnahmegebotes (OVG NRW, a. a. O., Rn. 46).
Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen. In dem Beschluss vom 28.02.2008 (4 B 60/07) hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsprechung, dass das Gebot der Rücksichtnahme Bestandteil des Tatbestandsmerkmals des Einfügens ist, nicht aufgegeben. Es hat in dieser Entscheidung zur Frage der Gebietsverträglichkeit eines Dialysezentrums in einem allgemeinen Wohngebiet vielmehr festgestellt, dass das ungeschriebene Erfordernis der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens sich nach seiner Rechtsprechung aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften in der Baunutzungsverordnung im Hinblick auf die Art der Nutzung rechtfertigt und die vom Verordnungsgeber festgelegte typische Funktion der Baugebiete, ihr Gebietscharakter, das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit der in einem Baugebiet allgemein oder ausnahmsweise zulässigen Nutzungsarten einschließt (BVerwG, Beschluss vom 28.02.2008 – 4 B 60/07 – juris Rn. 6). Im Weiteren führt das Bundesverwaltungsgericht dazu aus: „Im Rahmen dieser Beurteilung der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens kommt es nicht auf die konkrete Bebauung in seiner Nachbarschaft an. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass im Geltungsbereich eines ausgewiesenen Baugebiets im Grunde auf jedem Baugrundstück die nach dem Katalog der Nutzungsarten der jeweiligen Baugebietsvorschrift (§§ 2 bis 9 BauNVO) zulässige Nutzung soll in Betracht kommen können…Das von der Beklagten angeführte Korrektiv des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, für das die örtlichen Verhältnisse in der näheren Umgebung des beabsichtigten Vorhabens maßgeblich sind, greift auf dieser Ebene der Zulässigkeitsprüfung noch nicht ein. Der in § 15 Abs. 1 BauNVO geregelte Schutz der Nachbarschaft besitzt eine andere Aufgabe. Die Vorschrift ermöglicht es, die Genehmigung solcher Vorhaben zu versagen, die zwar nach Art, Größe und störenden Auswirkungen generell (typischerweise) den Gebietscharakter nicht gefährden, jedoch nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung angesichts der konkreten Verhältnisse an Ort und Stelle der Eigenart des Baugebiets widersprechen bzw. für die Nachbarschaft mit unzumutbaren Belästigungen oder Störungen verbunden sind (vgl. Urteile vom 21.2.1986 a. a. O. S. 644 und vom 21.3.2002 a. a. O. S. 159).“ Dass eine Zulässigkeitsprüfung mehrere Ebenen hat, bedeutet nicht, dass diese Ebenen voneinander trennbar und einzeln einer verbindlichen Entscheidung zugänglich sind. Gerade die Prüfung des Einfügens eines Vorhabens in die nähere Umgebung eines unbeplanten Innenbereichs im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB zeigt, dass mehrere (Gedanken-)Schritte, angefangen etwa bei der Feststellung des räumlichen Bereichs der maßgeblichen Umgebung über die Feststellung der dort vorhandenen oder nachprägenden und zu berücksichtigenden (Aussonderung möglicher Fremdkörper) Bebauung bis zur Entscheidung, ob das geplante Bauvorhaben dem Rahmen entspricht und sich einfügt, erforderlich sind, um über die Zulässigkeit der Art der Nutzung abschließend zu entscheiden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, ist das Gebot der Rücksichtnahme als Bestandteil des Einfügens der ersten Prüfalternative – das heißt, das Vorhaben hält sich nach der Art der baulichen Nutzung im vorgefundenen Rahmen, fügt sich gleichwohl nicht ein, wenn es nicht die erforderliche Rücksichtnahme aufweist – einzuordnen, es geht in dem Begriff des Einfügens auf und seine Beachtung gehört zum Tatbestandsmerkmal des Einfügens im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB (grundlegend: Urteil vom 25.02.1977 – 4 C 22.75; Urteil vom 26.05.1978 – 4 C 9.77 – BVerwGE 55, 369/385 f.; Urteil vom 18.10.1985 – 4 C 19.82; Urteil vom 23.05.1986 – 4 C 34.85; Urteil vom 27.08.1998 – 4 C 5.98 – juris Rn. 21; Beschluss vom 11.01.1999 – 4 B 128/98 – juris Rn. 6; Beschluss vom 20.04.2000 – 4 B 25/00 – juris Rn. 8; Urteil vom 05.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21; Urteil vom 19.03.2015 – 4 C 12/14 – juris Rn. 9; ebenso in der Rechtsprechung außerdem HessVGH, Beschluss vom 03.06.2020 – 3 B 2322/19 – juris Rn. 20; OVG Sachsen, Beschluss vom 13.02.2020 – 1 B 283/19 – juris Rn. 33; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.02.2021 – 2 M 121/20 – juris Rn. 19; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.02.2021 – 8 B 10077/21 – juris Rn. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.04.2007 – 2 B 16.05 – juris Rn. 19; VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.05.2012 – 2 B 20/21 – juris Rn. 14; VG Saarland, Beschluss vom 29.09.2020 – 5 L 898/20 – juris Rn. 39; BayVGH, Urteil vom 09.09.1999 – 1 B 96.3475 – juris Rn. 24, 25, wonach das Rücksichtnahmegebot zwingend zu prüfen ist; vgl. auch VG München, Urteil vom 19.01.2015 – M 8 K 14.90 – juris Rn. 178, 190 ff.). In der Literatur wird diese Rechtsauffassung ebenfalls vertreten (vgl. nur Mitschang/Reidt in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 13. Auflage, 2016, § 34 Rn. 32; Rieger in: Schrödter, Baugesetzbuch, 9. Auflage, 2019, § 34 Rn. 38, 42; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2020, § 34 Rn. 48, 53: im Fall des § 34 Abs. 1 BauGB ist für Vorhaben, die dem vorhandenen Rahmen entsprechen, zusätzlich zu prüfen, ob das Gebot der Rücksichtnahme eingehalten ist). Das Gebot der Rücksichtnahme ist zudem nicht identisch mit dem Verbot der Begründung oder Erhöhung bodenrechtlich beachtlicher Spannungen im Sinne der 2. Alternative des Einfügensgebotes; denn auf die Frage der Auslösung bodenrechtlicher Spannungen kommt es nur an, wenn es um die Beurteilung eines Vorhabens geht, das den aus der Umgebung ableitbaren Rahmen überschreitet (Söfker, a. a. O., § 34 Rn. 48; BVerwG, Urteil vom 16.09.2010 – 4 C 7.10 – juris Rn. 22). Auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist das Gebot der Rücksichtnahme im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthalten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.03.2018 – 4 B 50/17 – juris Rn. 4).
Es sind keine durchgreifenden Argumente dafür ersichtlich, die Frage der „Ausklammerung“ des Rücksichtnahmegebots bei der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach der Art der baulichen Nutzung anders zu beurteilen als im Falle seiner Zulässigkeit nach dem Maß der baulichen Nutzung. Das Rücksichtnahmegebot ist gleichfalls ein städtebauliches Kriterium und hat städtebauliche Auswirkungen. Es hat neben der Frage, ob ein Vorhaben bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen hervorruft, keine eigenständige Bedeutung. Das Bundesverwaltungsgericht weist gerade darauf hin, dass ein Vorhaben, das gegenüber der Nachbarschaft „rücksichtslos“ ist, auch städtebauliche Spannungen hervorrufen werde, umgekehrt sei aber nicht jedes Vorhaben, das bodenrechtlich beachtliche Spannungen begründe oder erhöhe und deshalb ein Planungsbedürfnis auslöst, gleichzeitig rücksichtslos (BVerwG, Urteil vom 16.09.2010 – 4 C 7.10 – juris Rn. 23). Das mag damit eine Prüfung auf einer anderen Ebene – in einem zweiten Schritt – darstellen, ist aber dennoch, und davon unabhängig auf welcher Ebene die Prüfung erfolgt, für die abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Art der baulichen Nutzung erforderlich, da anderenfalls die zur Vorabentscheidung gestellte Frage letztendlich offenbliebe. Der Vorbescheid würde somit einen großen Teil seiner Bedeutung als verbindliche Erklärung der Baubehörde verlieren. Die Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vorhabens nach der Art der baulichen Nutzung kann sich deshalb nicht in der Fragestellung nach der allgemeinen Zulässigkeit, losgelöst von der Frage der Wahrung des Rücksichtnahmegebots erschöpfen. Das eine lässt sich nicht vom anderen trennen, denn im Tatbestandsmerkmal des Einfügens ist das Rücksichtnahmegebot enthalten (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 27.08.1998 – 4 C 5.98 – juris Rn. 21). Die Prüfung des Einfügens eines Vorhabens in den maßgeblichen Umgebungsrahmen und seine Vereinbarkeit mit dem Gebot der Rücksichtnahme ist damit Voraussetzung für die Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit nach der Art der baulichen Nutzung. Weder die eine noch die andere Komponente der einheitlichen Prüfung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit ist insoweit „ausklammerbar“. Dies gilt auch für die Fragestellung und Beantwortung im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens (vgl. BayVGH, a. a. O., Rn. 25; VG München, Urteil vom 19.01.2015 – M 8 K 14.90 – juris Rn. 178).
Anders hingegen stellt sich dies für die bauplanungsrechtliche Beurteilung großflächiger Einzelhandelsbetriebe bei der Prüfung, ob gemäß § 34 Abs. 3 BauGB oder nach § 11 Abs. 3 BauNVO schädliche Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten sind, dar. Dies hat keine Auswirkungen auf die Frage des Einfügens eines Vorhabens im Sinne von § 34 Abs. 1, 2 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung, denn die in beiden Bestimmungen beschriebenen Fernwirkungen gehören nicht zu den nach § 34 Abs. 1, 2 BauGB maßgeblichen Tatbestandsmerkmalen beim Einfügenserfordernis, die allein Nutzungsart, Nutzungsmaß, Bauweise und Grundstücksüberbauung sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.04.2000 – 4 B 25/00 – juris Orientierungssatz 1. und Rn. 8), so dass diese Prüfung abspaltbar und eine Entscheidung erst im Baugenehmigungsverfahren möglich ist.
Dass ein nicht zu unterschätzendes praktisches Bedürfnis für eine Ausklammerungsmöglichkeit besteht, um zunächst die Zulässigkeit eines Vorhabens auf einem konkreten Standort zur Vorabentscheidung zu stellen, ohne das Vorliegen schädlicher Auswirkungen, die in der Regel nicht ohne kostenintensive Gutachten (insbesondere zu Lärmimmissionen) festgestellt werden können, miteinzubeziehen, ist zwar nachvollziehbar, darauf kommt es im Rahmen der Beurteilung des Einfügens eines beabsichtigten Vorhabens nach der Art der Nutzung aber nicht an. Insoweit handelt es sich nicht um bauplanungsrechtliche Umstände, die daher auch keine Berücksichtigung finden können.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO in entsprechender Anwendung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.
Beschluss
Der Streitwert wird unter gleichzeitiger Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge auf jeweils 168.600,00 € festgesetzt.
Gründe
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit §§ 47 und 52 Abs. 1 GKG. Die Befugnis zur Änderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 3 GKG. Zur Begründung der Streitwertfestsetzung wird auf die Gründe der Festsetzung des vorläufigen Streitwertes mit Beschluss vom 12.03.2019 verwiesen.
Hinweis:
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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