Baurecht

Rechtmäßige Baugenehmigung für Neubau eines Einfamilienhauses

Aktenzeichen  Au 5 K 19.54

Datum:
11.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 16762
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34
BayBO Art. 3 S. 1, Art. 6 Abs. 1-5, Art. 63
BauNVO § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Bei der Anwendung des Art. 63 Abs. 1 BayBO sind dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes nach § 31 Abs. 2 BauGB. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine erstmalige Verschattung eines Teils des Gartenbereichs auf dem Nachbargrundstück steht mangels besonderer Schutzwürdigkeit der Erteilung einer Abweichung nicht entgegen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist in der Sache nicht begründet.
Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO. Er kann sich hinsichtlich des Vorhabens auf dem Grundstück Fl.Nr. … als unmittelbar angrenzender Nachbar im baurechtlichen Sinn auf die Möglichkeit der Verletzung in drittschützenden Normen berufen.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt den Kläger nicht in drittschützenden Rechten. Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung hat der anfechtende Nachbar nur, wenn das Bauvorhaben den im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfenden, öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 55 ff. BayBO) und die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz der Nachbarn dient, ihr also drittschützende Wirkung zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343). Die Baugenehmigung muss dabei gegen eine im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Vorschrift verstoßen. Weiterhin muss der Nachbar durch den Verstoß gegen diese Norm in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen sein. Eine objektive Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung reicht dabei nicht aus, denn der Nachbar muss in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein.
Da die Baugenehmigung nach Änderung der BayBO zum 1. September 2018 erlassen wurde und es sich beim Bauvorhaben um keinen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt, prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 BayBO (n.F.) im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 ff. BauGB, den Vorschriften über die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO), beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO).
a) Der Kläger kann einen Verstoß gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften nicht geltend machen.
Auf einen etwaigen Rechtsverstoß durch die Erteilung der beantragten Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO von den nach Art. 6 BayBO notwendigen Abstandsflächen zur östlichen Grundstücksgrenze kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen.
aa) Grundsätzlich ist es einem Nachbarn nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften zu rügen, wenn auch die Bebauung auf seinem eigenen Grundstück nicht diesen Vorschriften entspricht und wenn die beiderseitigen Abweichungen von den gesetzlichen Abstandsflächen etwa gleichgewichtig sind und nicht – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.531 – juris Rn. 37; VG München, U.v. 29.2.2016 – M 8 K 14.5609 – juris Rn. 47). Bei der Frage, ob wechselseitige Verletzungen der Abstandsflächenvorschriften annähernd gleichgewichtig sind, ist keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern es ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen (vgl. VG Ansbach, U.v. 15.11.2017 – AN 9 K 16.00651 – juris Rn. 41; OVG NRW, U.v. 24.4.2001 – 10 A 1402/98 – BauR 2002, 295).
bb) Ob dem Kläger die Rüge der Verletzung nachbarschützender Vorschriften nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt ist, kann jedoch dahinstehen, da die Erteilung einer Abweichung im Hinblick auf die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück hin rechtmäßig war.
Die Beklagte hat eine Abweichung von den Abstandsflächen zugelassen, soweit mit dem Bauvorhaben zur östlichen Grundstücksgrenze eine Abstandsflächentiefe von 6,00 m eingehalten werden müsste, jedoch nur eine Abstandsflächentiefe – wie aus dem vorgelegten Plan zu erkennen – von 1,69 m vorhanden ist.
Von den Anforderungen der Bayerischen Bauordnung und damit auch von den Vorschriften über die Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO).
(1) Vorangestellt sei anzumerken, dass das bislang von der Rechtsprechung geforderte Vorliegen einer atypischen, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfassten oder bedachten Fallgestaltung (vgl. BayVGH, B.v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris Rn. 16; B.v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris Rn. 2; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; U.v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231 – BayVBl. 2012, 535) nach der ausdrücklichen Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/21574) nicht mehr erforderlich ist. Danach werde eine „Atypik“, wie sie die Rechtsprechung auch nach der Änderung der abstandsrechtlichen Vorschriften durch das Gesetz vom 12. April 1994 als zusätzliches (nunmehr ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal einer Abweichung verlangt, vom Gesetz nicht mehr gefordert (LT-Drs. 17/21574 S. 13). Ein sachlich und rechtlich nachvollziehbarer Grund dafür, warum eine Abweichung etwa von Vorschriften des Brandschutzes unter den Voraussetzungen des Art. 63 (ohne Atypik) möglich sei, aber bei der im Wesentlichen nicht sicherheitsrelevanten Abweichung vom Abstandsflächenrecht zusätzlich zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 eine Atypik erforderlich sein solle, bestehe nicht, so die Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/21574 S. 13). Dies würde der neue Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ausdrücklich klarstellen. Angesichts der Nichteinhaltung der Abstandsflächenvorschiften zu den jeweils östlich und westlich gelegenen Grundstücksgrenzen durch die Gebäude entlang der … …-… läge wohl eine derartig atypische Fallgestaltung vor. Würde man von den Beigeladenen im Zuge ihres streitgegenständlichen Bauvorhabens nun die Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften fordern, wäre das Grundstück unbebaubar und ein Ersatzbau nicht möglich.
(2) Die verbleibenden tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung sind vorliegend auch zu bejahen. Denn die erteilte Abweichung erweist sich unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO als vereinbar.
Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Die Abweichung dient daher gerade dem Interessensausgleich zwischen den Nachbarbelangen und den sonstigen öffentlichen Belangen, die durch das konkrete Bauvorhaben berührt werden. Den mit der Norm verfolgten Zielen soll dabei so weit wie möglich Rechnung getragen werden (Dhom in Simon/Busse, BayBO, Stand 132. EL Dezember 2018, Art. 63 Rn. 21). Dabei wurde die Erteilung einer Abweichung ebenfalls unter das Gebot der Rücksichtnahme gestellt, wie dies im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB der Fall ist. Bei der Anwendung des Art. 63 Abs. 1 BayBO sind daher dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes nach § 31 Abs. 2 BauGB (Dhom in Simon/Busse, a.a.O., Art. 63 Rn. 31 ff.). Wird folglich von Normen abgewichen, die nicht dem Nachbarschutz dienen, so hat der Nachbar nur einen Anspruch darauf, dass seine nachbarlichen Interessen mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie den Abstandsflächenvorschriften, kann der Nachbar hingegen nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist darüber hinaus auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt sind (vgl. BayVGH, a.a.O., juris Rn. 22). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist dabei auch der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten (vgl. BayVGH, U.v. 30.5.2003 – 2 BV 02.689 – juris Rn. 43; BayVGH, U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A.1224 – BayVBl. 1986, 143).
Nach diesen Maßstäben ist der Kläger durch die Abweichung nicht in seinen nachbarlichen Rechten verletzt. Die Besonderheit dieses Falles, die aus Sicht der öffentlichen Belange eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen rechtfertigt, ergibt sich aus der besonderen Bebauungssituation in der … …-…. In dieser Reihe ist die Grundstücksbebauung seit jeher dadurch gekennzeichnet, dass alle Gebäude fast bis an die östliche Grundstücksgrenze hin gebaut sind, während zur westlichen Grundstücksgrenze jeweils ein größerer Abstand frei gelassen wird. Keines der Gebäude – auch nicht das Gebäude des Klägers – hält zur östlichen Grundstücksgrenze die erforderlichen Abstände ein.
Soweit der Kläger durch den Neubau der Beigeladenen eine unzumutbare Verschattung seines Grundstücks geltend macht, kann dies nicht zu einem Überwiegen seiner nachbarlichen Interessen führen. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich im Hinblick auf die Abstandsflächensituation für den Kläger gegenüber dem Altbestand nichts ändert. Die Abstandsflächen bleiben gleich. Er ist sogar derjenige in der Reihe, zu dessen westlicher Grundstücksgrenze hin von den Beigeladenen noch am meisten Abstandsflächen eingehalten werden. Die einzige Veränderung, die sich für den Kläger durch das streitgegenständliche Bauvorhaben ergibt, ist die Verlängerung des Baukörpers nach Norden. Dadurch tritt nun erstmals eine Verschattung des Terrassenbereichs und Teilen des Gartenbereichs ein. Dass dies eine unzumutbare Beeinträchtigung darstellt und dazu führen würde, dass eine Abweichung unter Berücksichtigung nachbarlicher Belange mit den öffentlichen Belangen nicht hätte erteilt werden können, ist für das Gericht nicht erkennbar. Der Gartenbereich erweist sich – im Vergleich zu einem sensiblen Schlafbereich – jedenfalls als nicht besonders schutzwürdig. Zudem ist dieser Bereich nach Norden hin ausgerichtet, sodass er naturgemäß ohnehin nicht von einer übermäßigen Sonneneinstrahlung betroffen ist. Mithin liegt schon eine „negative Vorbelastung“ im Hinblick auf die Belichtungssituation vor. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst auf das Grundstück der Beigeladenen durch seine grenznahe und den Abstandsflächenvorschriften nicht entsprechende Bebauung einen Schatten wirft. Dies muss in die Abwägung zwischen seinen Belangen und den öffentlichen Belangen ebenfalls mit eingestellt werden. Im Ergebnis wiegt die Verschattung seines Grundstücks deshalb nicht so schwer, als dass sie geeignet wäre, eine unzumutbare Beeinträchtigung herbeizuführen.
Soweit der Kläger befürchtet, dass es zu unzumutbaren Einsichtsmöglichkeiten in den Gartenbereich kommt, vermag dies die Kammer ebenfalls nicht zu überzeugen. Zwar sollen die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften auch dem Interesse dienen‚ unmittelbare Einblicke zu begrenzen (vgl. BayVGH‚ B.v. 20.7.2010 – 15 CS 10.1151 – juris Rn. 19; U.v. 8.5.2008 – 14 B 06.2813 – juris Rn. 14). Allerdings lässt sich vorliegend eine solche Beeinträchtigung nicht feststellen. An der Ostseite des Gebäudes der Beigeladenen sind keine Fenster vorhanden. Einzig ein Dachfenster befindet sich im nördlichen Bereich des Satteldaches. Dass es dadurch zu einer neuen Qualität an Einsichtsmöglichkeit, die in einem Wohngebiet unzumutbar und rücksichtlos wäre, kommen würde, ist nicht erkennbar, zumal davon ausgegangen werden muss, dass man an aus einem Dachfenster nicht beim bloßen Vorübergehen hinausblicken kann, sondern sich bewusst aus diesem hinauslehnen muss, um einen Blick auf den klägerischen Gartenbereich zu werfen. Deshalb ist auch dieser nachbarliche Belang nicht geeignet, die öffentlichen Belange zu überwiegen.
Die Abweichung konnte auch unter dem Gesichtspunkt einer faktischen hinteren Baugrenze erteilt werden, da diese durch das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht überschritten wird. Der Neubau der Beigeladenen ragt genauso weit in den rückwärtigen Bereich hinein, wie der Kläger mit seinem Gebäude bzw. wie das Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. …. Die Beigeladenen passen sich mit ihrem Gebäude lediglich an die durch die Nachbarbebauung geschaffene Tiefe an.
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Beklagte im Rahmen der Erteilung der Abweichung die nachbarlichen Belange ausreichend gewürdigt hat und die Nachbarinteressen auch objektiv mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Eine Rechtsverletzung ergibt sich für den Kläger daraus nicht.
cc) Damit kann auch offen bleiben, ob es sich im vorliegenden Fall um einheitlich abweichende Abstandsflächentiefen i.S. des Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO handelt. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift bleibt angesichts des damit verbunden Aufwandes der Abmessungen der jeweiligen Abstände und der schwierigen Abgrenzung zu nicht ausreichender „diffuser Bebauung“ ohnehin begrenzt (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 49; bislang nur zwei Streitfälle dazu entschieden haben BayVGH, U.v. 7.3.2013 – 2 BV 11.882 und VG Augsburg, U.v. 30.7.2015 – 5 K 14.1340)
b) Auch ein Verstoß gegen bauplanungsrechtliche Vorschriften gemäß §§ 29 ff. BauGB liegt nicht vor.
Das geplante Bauvorhaben liegt in einem in Zusammenhang bebauten Ortsteil und beurteilt sich daher nach § 34 BauGB.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Bauvorhaben bauplanungsrechtlich zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Die nähere Umgebung bestimmt sich nach den umliegenden Grundstücken, auf die sich die Ausführung des Vorhabens auswirken kann und die ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägen oder beeinflussen (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 132. EL Februar 2019, § 34 Rn. 36; BVerwG, B. v. 13.5.2014 – 4 B 38/13 – NJW 2014, 1246).
aa) Das Bauvorhaben fügt sich nach der Art der baulichen Nutzung als Wohnhaus unstreitig in die in der Umgebung vorhandene Wohnbebauung ein. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob es sich vorliegend bei der näheren Umgebung um ein allgemeines Wohngebiet oder ein Mischgebiet handelt, da jedenfalls in beiden Gebieten Wohnbebauung nach der Art zulässig ist.
bb) Ob sich das Bauvorhaben im Übrigen in die nähere Umgebung einfügt, kann dahingestellt bleiben, da es der ganz herrschenden Meinung entspricht, dass grundsätzlich die Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung, über die Bauweise und die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht nachbarschützend sind (vgl. BVerwG, B. v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – juris Rn. 3; BayVGH, B. v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2327 – juris Rn. 9; B. v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 3). Damit kann sich die Klägerin auf eine Verletzung dieser Vorschriften nicht berufen.
cc) Das genehmigte Bauvorhaben verstößt auch nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme.
Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt im Einzelfall nachbarschützende Wirkung insoweit zu, als in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Insoweit müssen die Umstände des Einzelfalles eindeutig ergeben, auf wen Rücksicht zu nehmen und inwieweit eine besondere rechtliche Schutzwürdigkeit des Betroffenen anzuerkennen ist (BVerwG, U.v. 5.8.1983 – 4 C 96/79 – BVerwGE 67, 334).
Ist ein Bauvorhaben nach § 34 Abs. 1 bzw. 2 BauGB zu beurteilen, so ist das Gebot der Rücksichtnahme in dem in dieser Bestimmung genannten Begriff des Einfügens bzw. in einer unmittelbaren Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthalten.
Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann danach zu bejahen sein, wenn von dem Bauvorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung in Form einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung ausgeht. Das kommt nur bei übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – BauR 1981, 354: 12-geschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zu 2-geschossigem Nachbarwohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – NVwZ 1987, 34: 11,50 m hohe und über 13 m lange Siloanlage in einem Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnhaus). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind daher u.a. die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Für die Annahme einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist jedoch kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude, wobei dies insbesondere dann gilt, wenn beide Gebäude im dicht bebauten städtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5).
Da die Gebäude des Klägers und der Beigeladenen nach den vorgelegten Plänen gleich hoch sind, scheidet bereits die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung angesichts des Ausmaßes als auch der baulichen Gestaltung aus. Auch der Umstand, dass der Neubau der Beigeladenen im Vergleich zum Altbestand um 2-3m nach Norden verlängert wird, ändert an der Bewertung nichts. Es verbleibt immerhin noch ein knapp 8 m langer Bereich nach Norden hin, der auf dem Grundstück der Beigeladenen von Bebauung freigehalten wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst auf seinem Grundstück einen – wenn auch niedrigeren – Anbau bis auf Höhe des Neubaus der Beigeladenen hat. Hinzu kommt, dass das nördlich gelegene Nachbargrundstück mit seiner Gartenfläche an das klägerische Grundstück angrenzt, sodass der Kläger in diesem Bereich insoweit eine gewisse Freifläche hat und nicht von allen Seiten umbaut ist. Insgesamt löst das Bauvorhaben auch unter Berücksichtigung der besonderen Bebauungssituation in der … keine „abriegelnde“ Wirkung aus, die zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung des Klägers führen würde. Dies haben auch die Erkenntnisse aus der Ortseinsicht bestätigt.
Wie bereits erläutert, wird durch die Verlängerung des Baukörpers auch keine unzumutbare Einsichtsmöglichkeit geschaffen. Der Neubau weist lediglich ein Dachfenster im nördlichen Bereich des Satteldaches auf, von dem aus aber keine unmittelbare Einsichtsmöglichkeit aus kürzester Entfernung in sensible Räume geschaffen wird. Eine neue Qualität an Einsichtnahme wird daher nicht geschaffen, auch wenn fortan der nördliche Bereich des Baukörpers der Wohnnutzung dienen wird. Das öffentliche Baurecht vermittelt insofern keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, a.a.O., Art. 66 Rn. 440).
Es ist zudem allgemein anerkannt, dass aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt ist, wenn das Vorhaben den Abstandsflächenvorschriften entspricht (vgl. BayVGH, B.v. 8.3.2013 – 15 NE 12.2637 – juris). Unter Berücksichtigung der nicht zu beanstandenden Entscheidung der Beklagten über die Zulassung einer Abweichung werden die Abstandsflächenvorschriften (vgl. 2. a) bb) (1)) durch das Bauvorhaben der Beigeladenen eingehalten.
3. Nach alledem verletzt die mit der Klage angefochtene Baugenehmigung vom 11. Dezember 2018 den Kläger nicht in nachbarschützenden Rechten. Die Klage erweist sich als erfolglos und ist demzufolge abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da die Beigeladenen einen eigenen Antrag gestellt und sich mithin auch dem Prozessrisiko ausgesetzt haben, entspricht es der Billigkeit, dass der Kläger als im Verfahren unterlegen die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 Abs. 2 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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