Baurecht

Zulässigkeit einer Asylbewerberunterkunft im allgemeinen Wohngebiet

Aktenzeichen  1 ZB 17.3

Datum:
10.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6988
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 4 Abs. 2 Nr. 3
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Eine Asylbewerberunterkunft für 34 Personen ist als soziale Einrichtung innerhalb eines allgemeinen Wohngebiets eine allgemein zulässige Nutzungsart. Bei den Immissionen, die mit den Lebensäußerungen der Bewohner verbunden sind, handelt es sich um typische, grundsätzlich im Wohngebiet hinzunehmende Wohngeräusche, auch wenn sich möglicherweise die Gewohnheiten und der Lebensrhythmus der Asylbewerber von denen der Ortsansässigen unterscheiden (vgl. BayVGH BeckRS 2012, 59979). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 K 15.2475 2016-07-14 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Kläger wenden sich als Nachbarn gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer eingeschossigen Containeranlage für die Unterbringung von 34 Asylbewerbern. Das Landratsamt erteilte dem Beigeladenen hierfür am 2. Juni 2015 eine bis zum 1. November 2020 befristete Baugenehmigung auf dem Grundstück FlNr. …, … … (im Folgenden: Baugrundstück). Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans „A“ im Baubereich B 2, der den Gebäudestandort als öffentliche Grünfläche ausweist. Im Nordosten des Baugrundstücks grenzt das mit einem Wohnhaus bebaute Grundstück FlNr. … an, das im Miteigentum der Kläger steht und im Bebauungsplan als Baubereich WA 3 festgesetzt ist. Die Kläger wandten sich zunächst im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen das zugelassene Vorhaben. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 24. Juli 2015 (Az.: M 11 SN 15.2479) abgelehnt. Die gegen die Baugenehmigung erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 14. Juli 2016 abgewiesen. Unter Bezugnahme auf die Gründe des Beschlusses vom 24. Juli 2015 wurde ausgeführt, dass die mit der Baugenehmigung ausgesprochenen Befreiungen nicht zu nachbarschützenden Festsetzungen erfolgt seien. Einen Anspruch der Kläger auf Prüfung von Alternativstandorten gebe es nicht. Das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, liegen nicht vor (§ 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel im Sinn dieser Vorschrift, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
Die Kläger werden, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, durch die erteilten Befreiungen hinsichtlich der Baugrenzen, einer öffentlichen Grünfläche sowie der Dachgestaltung nicht in eigenen Rechten verletzt. Bei einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung befreit wird, dem Nachbarschutz dienen. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans hat der Nachbar über den Anspruch auf Würdigung seiner nachbarlichen Interessen hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – BauR 1998, 1206). Für Festsetzungen eines Bebauungsplans ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob und inwieweit die Festsetzung Drittschutz vermitteln will (vgl. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – NVwZ 1987, 409). Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung und Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien oder Baugrenzen sind in der Regel nicht nachbarschützend, können aber nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträger diese Wirkung haben (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – NVwZ 1996, 888).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Festsetzungen, von denen der Beklagte Befreiungen erteilt hat, nicht drittschützend sind. Die von den Klägern vorgebrachten Einwände führen zu keinem anderen Ergebnis. Der Festsetzung des Baugrundstücks als öffentliche Grünfläche sowie als Fläche nach § 9 Abs. 1 Nr. 20 BauGB kommt keine nachbarschützende Funktion zu. Eine solche müsste sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der Gemeinde (Sitzungsprotokolle etc.) ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2013 – 1 ZB 11.2893 – juris Rn. 4). Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf dem Nachbargrundstück reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – BayVBl 2016, 710). Die von den Klägern in Bezug genommene Begründung des Bebauungsplans zur Art der baulichen Nutzung (S. 7 der Begründung, Nr. 3.1.1) kann einen auf den Schutz des klägerischen Grundstücks gerichteten gemeindlichen Planungswillen nicht belegen. Soweit dort ausgeführt wird „die jeweiligen Einschränkungen wurden zum Schutz der vorhandenen Wohnbebauung vorgenommen“, ergibt sich aus der systematischen Stellung und dem Sinn der Textpassage, dass sich diese Aussage nur auf die für die Baubereiche WA 1 bis WA 4 festgesetzten Einschränkungen der Nutzungsart bezieht. Die Erläuterungen in Nr. 3.1.1 behandeln allein die Regelungen des Bebauungsplans zur zulässigen Nutzungsart. Die für den Baubereich B 2 festgesetzte Nutzung ist keine „Einschränkung“ der Art der Nutzung der anderen Baubereiche. Nur für die Baubereiche WA 1 bis WA 4 nimmt der Bebauungsplan „Einschränkungen“ zu den nach § 4 BauNVO zulässigen Nutzungen vor, indem er jeweils Ausnahmen nach § 4 Abs. 3 BauNVO ausschließt. Ausdrücklich wird zudem nur der Schutz der vorhandenen Wohnbebauung, nicht aber der geplanten Wohnbebauung angesprochen. Dadurch wird deutlich, dass diese Einschränkungen wegen der bereits vorhandenen Wohnbebauung im Osten des Plangebiets erfolgten. Sie soll vor störenden Nutzungen aus den geplanten Baubereichen WA 1 bis WA 4 geschützt werden. Ein auf den Schutz der künftigen Wohnnutzung innerhalb des Plangebiets gerichteter Planungswille ist demgegenüber nicht erkennbar.
Für eine nachbarschützende Funktion der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen nennt die Zulassungsbegründung keine konkreten Anhaltspunkte. Die zur Festsetzung von Einzel- und Doppelhäusern zitierte Stelle aus der Bebauungsplanbegründung belegt gerade, dass es sich hier um eine Festsetzung aus städtebaulichen Gründen handelt, die die Struktur des Baugebiets bestimmen soll, nicht jedoch den Schutz des Einzeleigentümers bezweckt. Gleiches gilt für die Festsetzung zur Dachgestaltung. Es handelt sich um eine nach § 9 Abs. 4 BauGB i.V.m. Art. 81 Abs. 2 BayBO in den Bebauungsplan integrierte örtliche Bauvorschrift über die äußere Gestaltung baulicher Anlagen gemäß Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO, die nur ausnahmsweise dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2009 – 1 CS 08.2352 – juris Rn. 21). In der im Zulassungsantrag genannten Begründungspassage wird lediglich auf den Tatbestand des Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO Bezug genommen. Anhaltspunkte für die Begründung eines Abwehrrechts der Nachbarschaft ergeben sich daraus nicht.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts bestehen auch nicht insoweit, als die Kläger die Verletzung eines Gebietserhaltungsanspruchs behaupten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kläger einen über ihren Baubereich WA 3 hinausgehenden Gebietserhaltungsanspruch geltend machen können. Die streitgegenständliche Anlage ist als solche für soziale Zwecke auch innerhalb des Gebiets der Kläger nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO allgemein zulässig und steht somit nicht in Widerspruch zur Gebietsart. Einen baugebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruch hat der Senat im Übrigen in der Regel bei unterschiedlichen Baugebieten, die in demselben Bebauungsplan festgesetzt wurden, verneint (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – BayVBl 2016, 710).
Einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme hat das Verwaltungsgericht zutreffend verneint. Die Asylbewerberunterkunft ist als soziale Einrichtung nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO auch innerhalb des allgemeinen Wohngebiets, in dem das Grundstück der Kläger liegt, eine allgemein zulässige Nutzungsart. Angesichts der geringen Personenzahl, die untergebracht werden soll, ist das Bauvorhaben unabhängig von der Frage, ob es sich um eine Einzelhausbebauung handelt, nicht geeignet, entgegen der gesetzgeberischen Wertung der BauNVO eine Unvereinbarkeit mit dem Gebietscharakter eines Wohngebiets anzunehmen. Erst recht muss dies gelten, wenn die Anlage wie hier lediglich dem allgemeinen Wohngebiet benachbart ist. Bei den von den Klägern befürchteten Immissionen, die mit den Lebensäußerungen der Bewohner verbunden sind, handelt es sich um typische, grundsätzlich im Wohngebiet hinzunehmende Wohngeräusche, auch wenn sich möglicherweise die Gewohnheiten und der Lebensrhythmus der Asylbewerber von denen der Ortsansässigen unterscheidet. Dies führt noch nicht zu einer bodenrechtlich relevanten Störung, die mit einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots einhergehen könnte (vgl. BayVGH, U.v. 13.9.2012 – 2 B 12.109 – BauR 2013, 200). Die durch die Zulassung des Vorhabens befürchtete Wertminderung des Grundstücks der Kläger kann eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nicht begründen, da ein Anspruch des Einzelnen darauf, vor jeglicher Wertminderung bewahrt zu bleiben, nicht besteht (vgl. BVerwG, B.v. 13.11.1997 – 4 B 195.97 – NVwZ-RR 1998, 540). Dem Beigeladenen als öffentlich-rechtlicher Körperschaft obliegen keine weitergehenden Rücksichtnahmeverpflichtungen als anderen Bauherren. Das Rücksichtnahmegebot verlangt keine Prüfung von Alternativstandorten, die die Kläger weniger belasten (vgl. BVerwG, B.v. 26.6.1997 – 4 B 97.97 – NVwZ-RR 1998, 357).
Soweit vorgetragen wird, die Befreiung sei rechtswidrig, da die Grundzüge der Planung berührt würden, das Wohl der Allgemeinheit die Befreiung nicht erfordere und sie städtebaulich nicht vertretbar sei, kommt es hierauf nicht an. Bei der Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen werden Nachbarrechte nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 1 CS 17.693 – juris Rn. 3)
Die Berufung ist auch nicht aufgrund besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf‚ wenn die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet‚ wenn sie sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt (BayVGH‚ B.v. 20.4.2016 – 15 ZB 14.2686 – juris Rn. 63 und Rudisile in Schoch/Schneider/Bier‚ VwGO‚ Stand: Juni 2017‚ § 124 Rn. 28 m.w.N.). Besondere rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache ergeben sich – wie dargelegt – weder aus der Frage des nachbarschützenden Charakters der Festsetzungen des Bebauungsplans noch aus der von den Klägern postulierten Standortalternativenprüfung im Rahmen des Rücksichtnahmegebots.
Den in der Zulassungsbegründung aufgeführten Fragen kommt weder eine grundsätzliche Bedeutung zu, noch sind sie klärungsbedürftig oder entscheidungserheblich. Ob die Kläger einen gebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruch haben, ist bereits nicht entscheidungserheblich, da die geplante Anlage auch innerhalb ihres Baugebiets allgemein zulässig wäre. Die Frage, ob der Staat im Rahmen des Rücksichtnahmegebots weiterreichende Prüfpflichten hat, ist nicht klärungsbedürftig. Die Forderung der Kläger, wonach „eine pauschale Beschränkung auf bauplanungsrechtliche Aspekte“ nicht sachgerecht sei, übersieht, dass es sich bei der streitgegenständlichen Baugenehmigung um eine gebundene Entscheidung handelt. Der Beklagte kann hier nur Anforderungen stellen, die das Bauplanungsrecht unabhängig vom jeweiligen Bauherren vorgibt.
Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner zu tragen, da ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO, § 159 Satz 2 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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