Baurecht

Zulassung einer Abweichung von der Einhaltung der Abstandsfläche – Atypik im dicht bebauten Innenstadtbereich

Aktenzeichen  2 CS 17.1969

Datum:
4.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 156319
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 3
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 1, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34

 

Leitsatz

1. Die Zulassung einer Abweichung von der Einhaltung der Abstandsfläche setzt Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks im historischen Ortskern oder im dicht bebauten Innenstadtbereich, ergeben. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. In dicht bebauten innerstädtischen Bereichen ist eine atypische Situation auch dann anzunehmen, wenn jede bauliche Veränderung entsprechend der vorgegebenen baulichen Situation geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
4. Für die planungsrechtliche Situation iSd § 34 BauGB sind grundsätzlich künftige bauliche Entwicklungen nicht zu berücksichtigen. Dies gilt auch für bereits genehmigte Bauvorhaben. Etwas anderes kommt jedoch in Betracht, wenn mit dem Bau genehmigter Gebäude bereits begonnen worden und dementsprechend mit einer prägenden Wirkung alsbald zu rechnen ist. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 8 SN 17.3732 2017-09-12 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg, weil die dargelegten Gründe keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO rechtfertigen (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO).
Der Senat sieht nach einer einem Eilverfahren wie diesem angemessenen summarischen Prüfung (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581) im Rahmen der von ihm eigenständig zu treffenden Ermessensentscheidung keine Notwendigkeit für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Antragstellerin als Nachbarin kann eine Baugenehmigung mit dem Ziel ihrer Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch ihrem Schutz dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage der Antragstellerin wird aller Voraussicht nach jedoch erfolglos bleiben, weil die angefochtene Baugenehmigung vom 18. Januar 2017 in der Fassung der Tektur-Genehmigung vom 5. Oktober 2017 nicht an einem derartigen Mangel leidet.
1. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von der Einhaltung der Abstandsfläche des Vordergebäudes zur rückwärtigen, der Antragstellerin zugewandten Grundstücksgrenze nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO sind nach summarischer Prüfung voraussichtlich gegeben.
Die Bauaufsichtsbehörde kann gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abweichungen von den Anforderungen des Bauordnungsrechts zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Es entspricht dabei der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass die Zulassung einer Abweichung Gründe erfordert, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die etwa bewirkten Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris; Bv. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris; U.v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231 – juris). Wie diese Atypik beschaffen sein muss, hängt von der jeweiligen Situation des Einzelfalls ab. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht vor allem darin, eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten sowie die für die Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern. Dieser Zweck kann regelmäßig nur dann erreicht werden, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden. Da somit jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO zur Folge hat, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden können, setzt die Zulassung einer Abweichung Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Eine solche atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks im historischen Ortskern oder dicht bebauten Innenstadtbereich, ergeben. Von Bedeutung bei der Beurteilung des Vorliegens der erforderlichen Atypik ist insbesondere, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich oder unzumutbar ist. In dicht bebauten innerstädtischen Bereichen ist eine atypische Situation auch dann anzunehmen, wenn jede bauliche Veränderung entsprechend der vorgegebenen baulichen Situation geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris). Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen ist eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn zu treffen. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist.
Gemessen an diesen Voraussetzungen, ist vorliegend eine derartige Sondersituation im Einzelfall anzunehmen. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Erstgericht die erforderliche Atypik darin gesehen hat, dass in der maßgeblichen prägenden Umgebung eine Nachverdichtung in Form einer fünf- bis sechsgeschossigen Höhenentwicklung stattgefunden hat, welche die Höhenentwicklung auch für das Baugrundstück vorgibt, und dass bei der vorgegebenen Höhenentwicklung aufgrund der geringen Tiefe des Baugrundstücks die Einhaltung der Abstandsfläche des Hauptbaukörpers nach Süden hin nicht möglich ist.
Maßgeblich ist insoweit die Blockrandbebauung im Geviert L … Straße – S …straße – F …straße – G …straße. Entlang der L … Straße findet sich überwiegend eine fünfgeschossige Bebauung mit ausgebautem Dachgeschoss. Lediglich das Gebäude FlNr. … weist eine viergeschossige Bebauung mit ausgebautem Dachgeschoss auf. Auf den Grundstücken der Antragstellerin (FlNr. … und … ) ist eine fünfgeschossige Bebauung mit einem sechsten Terrassengeschoss errichtet worden. Hier befanden sich vor der Bebauung im Jahr 2012 eine Tankstelle sowie an der Ecke zur S …straße eine zur Tankstelle gehörende Freifläche. Die daran anschließenden Grundstücke FlNr. …, … und … waren mit älteren zweigeschossigen Gebäuden mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut. Daran schließen sich bis zur Ecke F …straße dreigeschossige Gebäude mit ausgebautem Dachgeschoss an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich eine ebenfalls ältere dreigeschossige Bebauung mit ausgebautem Mansard- bzw. Dachgeschoss. Auf dem Grundstück FlNr. … steigt die Bebauung auf fünf Geschosse an. Im Bereich der F …straße wurden erneut von der Antragstellerin die Gebäude auf den Grundstücken FlNr. … und … mit vier Geschossen sowie einem fünften Terrassengeschoss errichtet. Im weiteren Verlauf der F …straße sowie im Eckbereich der G …straße setzt sich die viergeschossige Bebauung mit ausgebautem Dachgeschoss fort. Der gesamte Altbestand im maßgeblichen Quartier ist durch Satteldächer geprägt. Erst die Neubebauung der Antragstellerin auf den Grundstücken FlNr. … und … weist Flachdächer sowie jeweils ein terrassiertes oberstes Geschoss auf.
An dieser Bebauung orientierten sich die bestandskräftigen Baugenehmigungen für die Grundstücke FlNr. … und … Auf dem Grundstück FlNr. … wurde mit Baugenehmigung vom 21. Januar 2015 ein fünfgeschossiges Gebäude mit sechstem Dachgeschoss genehmigt. Die Traufhöhe der Attika ist hier mit 18,055 m vermaßt. Die Traufhöhe des Gebäudes der Antragstellerin auf dem Eckgrundstück FlNr. … beträgt ebenfalls 18,055 m. Auf dem Grundstück FlNr. … wurde mit Baugenehmigung vom 13. Juni 2015 in der Fassung der Tektur-Genehmigung vom 9. März 2017 ein fünfgeschossiges Gebäude mit sechstem Terrassengeschoss genehmigt. Zum Baugrundstück hin erreicht die Brandwand eine Höhe von 18,105 m. Die Traufhöhe der Attika beträgt 18,105 m. In den Bauakten befindet sich eine Baubeginnsanzeige vom 27. März 2017. Die bisherigen Gebäude auf den Grundstücken FlNr. …, … und … wurden abgerissen. Mit dem Aushub der für alle drei Grundstücke gemeinsamen Keller- und Tiefgaragengeschosse wurde begonnen. Für die planungsrechtliche Situation im Sinn des § 34 BauGB sind grundsätzlich künftige bauliche Entwicklung nicht zu berücksichtigen. Dies gilt auch für bereits genehmigte Bauvorhaben (vgl. BVerwG, U.v. 26.11.1976 – 4 C 10.73 – juris). Etwas anders kommt jedoch in Betracht, wenn mit dem Bau genehmigter Gebäude bereits begonnen worden ist und dementsprechend nach Lage der Dinge mit einer prägenden Wirkung alsbald zu rechnen ist (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2017, § 34 Rn. 35). Dies ist vorliegend durch den Abriss des Altbestands sowie den Beginn des Aushubs der Kellergeschosse der Fall.
Im Hinblick auf diese vorgegebene städtebauliche Situation ist von der grundsätzlichen planungsrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens in der hier vorliegenden Höhenentwicklung mit fünf Geschossen sowie einem sechsten Terrassengeschoss bei einer Traufhöhe von 17,90 m auszugehen. Ebenfalls planungsrechtlich vorgegeben ist die Tiefe des Vordergebäudes von 10,74 m, die sich beidseits an die benachbarte Bebauung anschließt. Zwar ist vorliegend das Baugrundstück rechteckig und ohne Besonderheiten in der Grundstücksform. Es weist aber eine Tiefe von lediglich ca. 21 m auf. Bei der planungsrechtlich vorgegeben Bautiefe des Hauptbaukörpers und der planungsrechtlich vorgegebenen Höhe des Hauptbaukörpers kann aber die nach Art. 6 BayBO notwendige Abstandsfläche nach Süden hin in diesem engen innerstädtischen Bereich nicht eingehalten werden.
Die Antragstellerin trägt richtigerweise vor, dass der bisherige Bestand auf den Grundstücken FlNr. … und … lediglich zwei Geschosse plus ausgebautes Dachgeschoss betrug und die sich östlich an das Baugrundstück anschließende Bebauung dreigeschossig mit ausgebautem Dachgeschoss ist. Die Prägung durch den Altbestand auf den Grundstücken FlNr. … … und … ist jedoch mit dem Abriss und dem Beginn der Bauarbeiten für die bestandkräftig genehmigten Gebäude auf den Grundstücken FlNr. … und … entfallen. Ausgelöst hat den Wandel der Prägung bereits die Blockrandbebauung auf den Grundstücken der Antragstellerin FlNr. … und … Diese waren lediglich mit einer Tankstelle bebaut bzw. an der Ecke zur S …straße hin befand sich eine Freifläche.
Im Rahmen der Abwägung der Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen ist insbesondere zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist. Dies ist vorliegend der Fall. Der Bauherr besitzt das sich aus seinem Eigentumsgrundrecht ergebende Interesse, sein Grundstück unter Ausnutzung des planungsrechtlich Zulässigen zu bebauen. Zwar wäre es vorliegend – wie die Antragstellerin vorträgt – möglich auch niedriger unter Einhaltung der Abstandsfläche zu bauen. Dem steht jedoch das städteplanerische Interesse an einer grundsätzlich einheitlichen Höhenentwicklung entgegen. Dazu kommt das gerade in der Landeshauptstadt München hohe öffentliche Interesse an der Schaffung von Wohnraum. Dem steht das Interesse der Antragstellerin als Nachbarin an der Einhaltung der Abstandsflächen gegenüber. Vorliegend ist die Schmälerung der nachbarlichen Interessen jedoch hinnehmbar. Das geplante Hauptgebäude auf dem Baugrundstück sowie das Hauptgebäude der hinterliegenden Bebauung auf dem Grundstück der Antragstellerin FlNr. … weisen einen Abstand zueinander von 18,25 m auf. Das geplante Hauptgebäude auf dem Baugrundstück erreicht dabei eine Höhe von 17,90 m (Höhe Terrassengeschoss). Der 45-Grad-Lichteinfallswinkel zum südlich gelegenen Gebäude der Antragstellerin hin wird eingehalten. Es ist daher weder mit einer Verschlechterung der Belichtung noch der Belüftung zulasten der Antragstellerin auszugehen. Die Antragstellerin behauptet eine negative Vorbildwirkung hinsichtlich einer künftigen Neubebauung der östlich an das Baugrundstück anschließenden, jetzt noch dreigeschossig bebauten Grundstücke an der S …straße. Insoweit ist jedoch festzuhalten, dass die Vorbildwirkung bereits durch die Antragstellerin selbst mit der Bebauung entlang der L …straße sowie an der Ecke zur S …straße gesetzt wurde. Im Übrigen muss sich die Antragstellerin auf einen Nachbarschutz im Rahmen der Baugenehmigungsverfahren für diese Grundstücke verweisen lassen, falls solche eingeleitet werden.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG


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