Europarecht

Anspruch auf verkehrsrechtliche Anordnung zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen

Aktenzeichen  RN 5 K 16.1733

Datum:
26.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 19484
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
VwGO § 75

 

Leitsatz

1. Die Voraussetzungen für eine Anordnung zum Schutz vor Verkehrslärm oder Abgasen sind nicht erst dann gegeben, wenn ein bestimmter Schallpegel oder Abgaswert überschritten wird. Die Überschreitung von Richtwerten löst nicht erst einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen aus, sondern hat bereits die Verdichtung des Ermessens der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten zur Folge. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV können im Rahmen des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO als unverbindlicher Richtwert für die Zumutbarkeitsgrenze herangezogen werden, weil sie ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck bringen, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion anzunehmen ist. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Straßenverkehrsbehörden haben darauf hinzuwirken, dass vom Durchgangsverkehr in erster Linie die dafür gewidmeten überörtlichen Straßen und nicht die örtlichen Erschließungsstraßen reiner Wohngebiete benutzt werden. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
4. Solange kein Luftreinhalte- oder Aktionsplan besteht, der Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote vorsieht, kann der Anwohner verlangen, dass die Straßenverkehrsbehörde Maßnahmen ergreift, die eine Verletzung seiner Gesundheit durch straßenverkehrsbedingte Überschreitungen der Immissionsgrenzwerte ausschließen. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers vom 31.07.2015 auf Erlass einer geeigneten, erforderlichen und angemessenen straßenverkehrsrechtlichen Anordnung gemäß § 45 StVO zur Begrenzung von Lärm- und Abgasimmissionen hinsichtlich der W …, F …, A … in D. unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist in Ziffer II. vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erlass straßenverkehrsrechtlichen Anordnung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
1) Die Klage ist als Untätigkeitsklage zulässig. § 75 VwGO ermöglicht im Fall der Untätigkeit der Verwaltung Klage zu erheben bevor eine Sachentscheidung ergangen ist. Das Fehlen einer Sachentscheidung im Zeitpunkt der Klageerhebung ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Untätigkeitsklage (so Kopp/ Schenke § 75 Rn.6). Eine solche Sachentscheidung der Beklagten lag bei Klageerhebung nicht vor. Dies wird unten noch näher ausgeführt.
Der Kläger verfügt über die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis, denn er hat möglicherweise einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Dieser Anspruch folgt vorliegend aus § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO, der nicht lediglich auf den Schutz der Allgemeinheit gerichtet ist, sondern daneben auch die Belange Einzelner schützt, soweit deren Individualinteressen berührt werden (BVerwG 37, 112; VGH München NZV 99, 269). Die insoweit durch das BVerwG verfolgte Rechtsprechung wird dem Schutzzweck des § 45 Abs. 1 StVO gerecht, der nicht lediglich die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG), sondern vorab bereits den Schutz vor Einwirkungen des Straßenverkehrs bezweckt, die das nach allgemeiner Anschauung zumutbare Maß übersteigen (BVerwG 74, 234; VGH Mannheim VBlBW 1994, 415). Es besteht die Möglichkeit, dass der Kläger vorliegend durch die Einwirkungen des Straßenverkehrs hinsichtlich der W … in D. in unzumutbarer Weise in seinen Rechten beeinträchtigt wird. Der Kläger ist zwar nicht in der W …, sondern im unmittelbar in die W … leitenden S … wohnhaft. Von dem aus der W … hervorgehenden Verkehrsaufkommen ist er also jedenfalls mittelbar berührt. Darüber hinaus nutzen der Kläger sowie dessen Tochter die W … regelmäßig als Fußgänger.
Mit vorliegender Klagebefugnis als Spezialfall des Rechtsschutzbedürfnisses ist der Kläger auch rechtsschutzbedürftig.
2) Die Klage ist begründet, denn dem Kläger steht der aus § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO geltend gemachte Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung zu.
a) Nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Allerdings ist der Immissionsschutz durch Maßnahmen nach dieser Vorschrift in das pflichtgemäße Ermessen der Straßenverkehrsbehörde gestellt. Bei der zutreffenden Ermessensentscheidung über eine verkehrsbeschränkende Anordnung nach dieser Vorschrift hat die zuständige Verkehrsbehörde zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift Schutz vor Verkehrslärm und Abgasen gewährt, wenn der Lärm bzw. Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss. Dabei ist nicht nur auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der Anlieger sowie auf das Vorhandensein oder Fehlen einer bereits gegebenen Lärmvorbelastung abzustellen. Maßgeblich sind auch andere Besonderheiten des Einzelfalles, so etwa der Umstand, dass eine Ortserschließungsstraße entgegen ihrer Funktion zunehmend vom überörtlichen Verkehr als so genannter Schleichweg in Anspruch genommen wird und damit Lärmbelästigungen auslöst, die von den Anlegern reiner Wohnstraßen üblicherweise nicht hingenommen werden müssen (vgl. VGH Baden-Württemberg vom 16.5.1997 Az.5 S 1842/95 Rn.30). Die Eingriffsnorm setzt voraus, dass vor Anordnung verkehrsbeschränkender oder -verbietender Maßnahmen vorher insbesondere die Verkehrsbelastung und die Verkehrsstrukturen erhoben werden und auf dieser Grundlage die Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Anlieger abgeschätzt wird (vgl. Begr. zu § 45 Abs. 9 S.3 in Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, § 45 Rn.8).
Die Voraussetzungen für eine Anordnung zum Schutz vor Verkehrslärm/Immissionen sind nicht erst dann gegeben, wenn dieser einen bestimmten Schallpegel oder Abgaswert überschreitet (MüKO-Steiner § 45 Rn 29). Die Überschreitung dieser Richtwerte löst nicht erst einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen aus, sondern hat bereits die Verdichtung des Ermessens der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten zur Folge (so VGH München, Urt. v. 21.03.2012 Az.: 11 B 10.1657 Rn.30, juris). Die Grenzen bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im Rahmen von § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO werden nicht durch auf Rechtssetzung beruhende Grenzwerte festgelegt.
Stattdessen kommt es in erster Linie auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Anlieger an. Weder die Vorläufigen Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen (Lärmschutz-Richtlinien-SV) noch die Vorschriften der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetztes (16. BImSchV) sind insofern als ausschließlich maßgebliche Normen heranzuziehen. Letztere bestimmt die Schwelle der Zumutbarkeit von Verkehrslärm nur für den Bau und die wesentlichen Änderungen u.a. von öffentlichen Straßen (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1), welche vorliegend gerade nicht Streitgegenstand sind.
Die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV können im Rahmen des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO allerdings als unverbindlicher Richtwert für die Zumutbarkeitsgrenze herangezogen werden, weil sie ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck bringen, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion anzunehmen ist. Sie können Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zu Maßnahmen ermächtigt, sein (so Bayer. Verwaltungsgerichtshof München vom12.04.2016 Az.11 B 15.2180 Rn.22,juris). Insofern ist eine Unterschreitung der an dieser Stelle normierten Werte ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung die Grenze der Zumutbarkeit von Verkehrslärm nicht erreicht (BVerwG NZV 94, 244; VGH München 99, 269).
§ 2 Abs. 1 Nr.6 der 16 BImSchV legt den Immissionsgrenzwert zum Schutz der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche beim Bau oder der wesentlichen Änderung öffentlicher Straßen in reinen und allgemeinen Wohngebieten und Kleinsiedlungsgebieten auf 59 dB(A) am Tag und 49 dB(A) in der Nacht fest. Für Mischgebiete setzt sie tagsüber einen Maximalwert von 64 dB(A) und nachts von 54 dB(A)an. Maßgeblich sind auch andere Besonderheiten des Einzelfalles. Als eine solche Besonderheit ist höchstrichterlich beurteilt worden, dass eine „Erschließungsstraße“ entgegen ihrer eigentlichen Funktion zunehmend vom überörtlichen Verkehr als so genannter Schleichweg in Anspruch genommen wird und damit Lärmbelästigungen ausgelöst werden, die von den Anliegern reiner Wohnstraßen üblicherweise nicht hingenommen werden müssen. Denn Verkehrslärm, der von den Anliegern etwa einer Bundesstraße, einschließlich Ortsdurchfahrt, oder auch einer Staatsstraße oder einer Kreisstraße wegen ihrer der Widmung entsprechenden Verkehrsbedeutung ertragen werden muss, ist nicht ohne weiteres in gleicher Weise den Anliegern einer Ortserschließungsstraße zumutbar. Demgemäß haben die Straßenverkehrsbehörden u.a. darauf hinzuwirken, dass vom Durchgangsverkehr in erster Linie die dafür gewidmeten überörtlichen Straßen und nicht die örtlichen Erschließungsstraßen reiner Wohngebiete benutzt werden (so Bayer. Verwaltungsgerichtshof München, a.a.O Rn.23 m.w.N.). Allerdings ist auch auf Ortsstraßen in Wohngebieten der Lkw-Verkehr grundsätzlich zulässig, soweit er nicht unzumutbare Ausmaße annimmt. Allein die Widmung einer Straße als Ortsstraße in einem allgemeinen Wohngebiet berechtigt nicht, diese für den Lkw-Verkehr zu sperren. Es sind daher Feststellungen darüber zu treffen, welcher Bereich in welcher Größenordnung und in Intensität von Verkehrslärm belastet ist (so Bayer. Verwaltungsgerichtshof München vom 12.04.2016, a.a.O, Rn.24 m.w.N.). Vor der Anordnung von Beschränkungen und Verboten des fließenden Verkehrs aus Lärmschutzgründen ist es daher grundsätzlich notwendig, die Lärmbelastung zu berechnen, was eine Erfassung der Verkehrsbelastung (Verkehrszählung) voraussetzt. Sodann ist zu berechnen, welche Lärmminderung durch die beabsichtigte verkehrsrechtliche Maßnahme erreicht wird (so Bayer. Verwaltungsgerichtshof München vom 12.04.2016, a.a.O, Rn.25 m.w.N.).
Es lässt sich aufgrund der Verkehrszählung der Beklagten im Jahr 1998 nicht ermessensfehlerfrei entscheiden, dass die Hinnahme des bestehenden Zustands zumutbar ist. Die von der Beklagten durchgeführte Verkehrszählung aus dem Jahr 1998 ist nach 20 Jahren zu alt, um aussagekräftige und aktuelle Grundlage für eine Berechnung der Lärmbelastung zu sein. Es wäre daher eine neue Erhebung der Verkehrsbelastung und Lärmberechnung zur Beurteilung der Frage, ob Beeinträchtigungen vorliegen, die nicht mehr als ortsüblich hingenommen werden müssen und unzumutbar sind, notwendig gewesen. Zudem müsste noch beachtet werden, welche Beeinträchtigungen durch Lärm und Abgase zu einem nicht unerheblichen Teil auf straßenverkehrsrechtlich unberechtigtem Verkehr oder überörtlichem Verkehr oder Lkw-Verkehr beruhen und dem Kläger damit ungeachtet ihres Ausmaßes nicht zugemutet werden können (vgl. dazu Bayer. Verwaltungsgerichtshof München vom 14.11.2000 Az.11 B 00.1339, Rn.10, juris). Grundlage der Berechnung der Mittelungspegel nach § 3 der 16.BImSchV i.V.m. der Anlage 1 und nach den maßgeblichen Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen ist die Verkehrsstärke in Kraftfahrzeugen je Stunde. Neben dem Anteil der Lkw am Gesamtverkehr werden noch die Straßenoberfläche, die zulässige Höchstgeschwindigkeit, der Einfluss von Steigungen und Gefälle sowie die erhöhte Störwirkung von lichtzeichengeregelten Kreuzungen und Einmündungen eingestellt. Eine aktuelle Verkehrszählung und Verkehrsstrukturerhebung und darauf beruhende Lärmberechnung fehlt aber der Beklagten derzeit.
Zwar darf nach einer früheren Rechtsprechung die Bewertung der Zumutbarkeit der Belastungen anhand einer Verkehrszählung erfolgen, wenn sich daraus genügend Anhaltspunkte für diese Beurteilung ergeben (VGH Mannheim, Urteil v. 16.05.1997 = NVwZ-RR 1998, 682; OVG Münster, NZV 1996, 293, 295). Doch ist dieser Auffassung nicht mehr zu folgen, da doch § 3 16.BImschV eine Berechnung zwingend vorsieht. Auch hat der VGH – wie oben ausgeführt – vor der Anordnung von Beschränkungen und Verboten des fließenden Verkehrs aus Lärmschutzgründen es grundsätzlich für notwendig gehalten, die Lärmbelastung zu berechnen, was eine Erfassung der Verkehrsbelastung (Verkehrszählung) voraussetzt.
Eine von dem Kläger und anderen Anliegern veranlasste stichprobenartige Verkehrszählung ergab am 06.09.2016 zwischen 10.00 Uhr und 11.00 Uhr 500 Fahrzeuge und am 08.09.2016 zwischen 15.00 Uhr und 16.00 Uhr 600 Fahrzeuge. Aus diesen Zählungen lässt sich nach Ansicht der Kläger schließen, dass ca. 6.500 Fahrzeuge täglich das Gebiet durchqueren. Die Beklagte kann dies nicht durch eigene repräsentative aktuelle Verkehrszählungen widerlegen, da diese neueren Zählungen offenbar nur wenige Tage durchgeführt wurden und auch die Verkehrsstruktur nicht beachtet wurde. Zudem ist von Klägerseite substantiiert vorgetragen, dass sich durch die Einbahnstraßenregelung in der A … stadtauswärts der einmündende Verkehr in die Stadtmitte zu einem erheblichen Teil nachträglich auf die W … verlagert hat. Der Lkw-Anteil/Kolonnenverkehr für die W … Richtung „A …“ ist dabei mit über 50% sehr hoch, wie sich aus den neueren Geschwindigkeitsmessungen der …Gmbh vom 3.2 bis 9.2.2015 (Bl.269 BA) in dieser Straße ergibt. Zudem konnten die seit vielen Jahren bestehenden Verkehrsprobleme in den hier strittigen Straßen trotz zahlreicher verkehrsrechtlicher und verkehrslenkender Maßnahmen, wie einer Tempo-30-Zone, Fahrbahnverengung in der W …, Parkverbote und anderer Maßnahmen, nicht bewältigt werden. Dies alles hätte der Beklagten Veranlassung geben müssen, die Verkehrsbelastung und die Verkehrsstrukturen neu zu erheben. In einem solchen Fall geht die Beweislast dafür, dass die Verkehrsbelastung durch Lärm und Abgase und die Verkehrsstruktur noch zumutbar sind, auf die Beklagte über. Denn sie hat originär die Aufgabe, die Verkehrsbelastung und die Verkehrsstrukturen zu erheben und auf dieser Grundlage die Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Anlieger abzuschätzen. Die Bürger können diese Aufgaben des Gesundheitsschutzes nicht übernehmen. Es liegt hier ein langjähriges Verkehrsproblem im Stadtgebiet der Beklagten vor, das wie die zahlreichen bisher durchgeführten verkehrsrechtlichen Maßnahmen der Beklagten zeigen, nicht ohne Erhebung von repräsentativen und aktuellen Daten gelöst werden kann. Erst wenn diese Daten erhoben sind, lässt sich sagen, ob der Verkehrslärm oder die Abgasbelastung noch zumutbar ist. Eine Bezugsfallwirkung, dass die Beklagte auch in sonstigen Fällen „unnötigerweise“ zu aufwendigen Verkehrserhebungen und Erhebung der Verkehrsbelastungen durch Verkehrsemissionen gezwungen wird, sieht das Gericht nicht.
b) Die Ermessensentscheidung über den Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung, die die Klägerin aufgrund des vorbeugenden Gesundheitsschutzes vor unzumutbaren Lärm- und Abgasbelastungen beanspruchen kann, ist von der Beklagten bislang nicht fehlerfrei getroffen worden.
Angesichts ihres Entschließungsermessens liegt ein Ermessensausfall vor. Denn zum Antrag des Klägers erging kein Bescheid von der Beklagten.
Die Klägerseite begehrte mit ihrem Schreiben vom 31.07.2015 bzw. jedenfalls mit ihrem klarstellenden Schreiben vom 11.11.2015 den Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung. Wie sich aus dem Schreiben der Beklagten vom 26.11.2015 ergibt, erachtete die Beklagte, vertreten durch ihren Oberbürgermeister, die Verbescheidung des Antrages mangels Verwaltungsaktqualitäts als nicht erforderlich. Dieser Auffassung steht allerdings der Bedeutung des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO entgegen. Der Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung ist als Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung gemäß Art. 35 S. 2 BayVwVfG zu qualifizieren. Entsprechend ist auch der Versagung des Verwaltungsaktes eine entsprechende Eigenschaft zuzuschreiben. Auch nach nochmaligem Hinweis auf die Verbescheidung des Klägerantrages mit Schreiben vom 04.02.2016 entgegnete die Beklagte, dass es keine gesetzliche Notwendigkeit gebe und verwehrte mithin den Erlass eines Bescheides mangels gesetzlicher Notwendigkeit. Die Beklagte hätte insofern eine Entscheidung durch Verwaltungsakt treffen müssen, die bislang unterblieben ist.
Das Vorbringen der Beklagten, dass die Behandlung des Begehrens im Verkehrsausschuss zur Entbehrlichkeit der behördlichen Entscheidung führe, ist unzutreffend. Die Mitteilungen an den Kläger vom 29.12.2016 und 22.02.2016 mit dem Inhalt, dass das Begehren bereits im Verkehrsausschuss behandelt wurde beinhaltet keine Regelungswirkung und ist folglich nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren.
c) Ungeachtet des Vorgehens der Beklagten, auf den Antrag des Klägers keinen Bescheid zu erlassen, ist ein Ermessensausfall im Rahmen des Entschließungsermessens insofern gegeben, als sie keine Veranlassung sah, über eine konkrete verkehrsrechtliche Anordnung zu entscheiden.
Bei der Frage, ob Lärmimmissionen zu reduzieren sind, ist dem besonderen Anliegen der Wohnruhe und dem hohen Rang der Gesundheit Rechnung zu tragen. In die Ermessensabwägung sind die Funktion der Straße in Bezug auf die Freizügigkeit des Verkehrs einerseits und der Schutz der Wohnbevölkerung andererseits einzustellen. Dabei ist zu beachten, dass Verkehrslärm, der von den Anliegern einer Bundesfernstraße (einschließlich Ortsdurchfahrt) oder auch einer Landesstraße bzw. einer Kreisstraße wegen ihrer der Widmung entsprechenden Verkehrsbedeutung ertragen werden muss, den Anliegern einer Ortserschließungsstraße nicht ohne weiteres in gleicher Weise zumutbar ist (BVerwG, 74, 234).
Soweit in dem Schreiben der Beklagten vom 22.02.2016 überhaupt eine Verbescheidung des erstmalig gestellten Antrags des Klägers und nicht eine bloße Begründung der Weigerung, sich mit der Problematik erneut zu befassen, liegen sollte, lässt diese weder erkennen, dass sich die Beklagte überhaupt bewusst war, dass ihr in diesem Rahmen grundsätzlich ein Ermessen eröffnet war, noch dass dieses Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde.
Dass sich die Beklagte vorliegend nicht über die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung bewusst war, wird durch ihr Vorbringen belegt, dass sie nicht von unzumutbaren Lärm- und Abgasbelastungen ausging. Zwar kann die zuständige Verkehrsbehörde bei der Abwägung zwischen den unzumutbar beeinträchtigten Interessen der Anwohner und möglicherweise übergeordneten Verkehrsinteressen zu dem Ergebnis kommen, dass keine verkehrsbeschränkende Maßnahme anzuordnen ist. Erforderlich ist allerdings, dass eine solche Abwägung überhaupt nachvollziehbar stattgefunden hat und auch im Ergebnis vertretbar ist.
Ohne eine Lärmberechnung/Abgasmessung oder eine Verkehrszählung durchzuführen, die – wie oben dargelegt – Indizwirkung hinsichtlich unzumutbarer Beeinträchtigungen durch den Straßenverkehr hätten, ging die Beklagte ausweislich ihres Vorbringens davon aus, dass es sich bei der W … um eine normal belastete Straße im D. Stadtgebiet handele, da sie nicht lediglich eine Anliegerfunktion, sondern eine Verbindungsfunktion habe. Selbst wenn diese Behauptung zutrifft, so enthält diese Angabe keine Aussage über die tatsächlichen Lärm- und Abgasimmissionen, die von der Straße auf die umliegenden Grundstücke ausgehen. Die Behauptung der Beklagten, dass die vom Kläger vorgebrachten Verkehrszahlen nicht nachvollziehbar seien und dem tatsächlichen Verkehrsaufkommen widersprechen und wesentlich geringer sind, ist mangels aktueller Erhebungen nicht belegt.
Auch das Vorbringen, dass diese Straße vom Bayerischen Landesamt für Umwelt nicht als betroffener Straßenzug im Sinne der EU-Umgebungslärmrichtlinie erfasst wird, geht ins Leere. Gemäß Art. 40 BayVwVfG hat die zuständige Behörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung einzuhalten und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Bei der Ermessensausübung im Rahmen des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO darf also nicht auf die Beurteilung einer anderen Behörde zu einer anderen Fragestellung und anderen Straßen ausgewichen werden.
Die Ansicht der Beklagten, dass sie als Große Kreisstadt nicht für den technischen Umweltschutz zuständig sei, ist vorliegend ebenso nicht entscheidend. Die Beklagte trägt in diesem Zusammenhang vor, dass Geräte für Lärm- und Schadstoffmessungen nicht vorhanden seien. Die Immissionsschutzbehörde des Landratsamtes D. als untere Immissionsschutzbehörde sei für Fragen des technischen Umweltschutzes und das Bayerische Landesamt für Umwelt für die Erfassung der Luftschadstoffbelastung zuständig. Diese Zuständigkeitsverteilung hat aber nicht zur Folge, dass die Beklagte von ihrer Pflicht zur Ermittlung der Lärm- und Abgaswerte befreit wird. Nach § 45 Abs. 1 S.2 Nr.3 StVO hat die Straßenverkehrsbehörde auch die Aufgabe, zum Schutze der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Im Rahmen der Entscheidung nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr.3 StVO stellen die in der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (39.BImschV) festgesetzten Immissionsgrenzwerte eine geeignete und hinreichende Orientierungshilfe für die ermessensgerechte Bewertung der verkehrsbedingten Schadstoffbelastung der Anlieger einer Straße dar. Wenn eine Straßenverkehrsbehörde, insbesondere eine Große Kreisstadt, diesen Aufgaben gerecht werden will, muss sie auch ermitteln, ob die Schadstoffbelastung durch Kraftfahrzeuge für die Anlieger noch zumutbar sind. Der Schutz der Wohnbevölkerung vor Abgasen durch den Straßenverkehr besteht nicht nur in Ballungsräumen und größeren Städten, die der 39. BImschV unterliegen. Solange kein Luftreinhalte- oder Aktionsplan besteht, der Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote nach Maßgabe für straßenverkehrsrechtliche Vorschriften vorsieht, kann der Anwohner verlangen, dass die Straßenverkehrsbehörde Maßnahmen ergreift, die eine Verletzung seiner Gesundheit durch straßenverkehrsbedingte Überschreitungen des Immissionsgrenzwerte des nach Maßgabe des Verursacheranteils und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausschließen (so BVerwG v.29.03.2007-7 C 9/06,Rn.32 u.EuGH vom 25.07.2008-C-237/07 Rn.42, juris). Bei § 45 StVO und § 40 Abs. 1 u. 2 BImschG handelt es sich um nebeneinander stehende selbständige Ermächtigungsgrundlagen (vgl. Bayer. Verwaltungsgerichtshof München, Beschluss vom 8.10.1993-11 B 93.1408 und VG Düsseldorf vom 27.05.2014 – 6 K 2470/12 Rn.93 m.W.N, juris). Vielmehr steht der Beklagten zur Ermittlung der Werte ein Ersuchen der o.g. Behörden im Wege der Amtshilfe zu. Die Beklagte ist verpflichtet auch bei nicht verfügbarer eigener Kapazitäten, Verkehrszählungen und Lärmberechnungen oder Abgasmessungen vorzunehmen oder in Auftrag zu geben entweder an öffentliche Stellen oder an qualifizierte Privatgutachter, wenn wir hier ein komplexes und langjährig nicht gelöstes Verkehrsproblem besteht. Sie durfte nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass die klägerseits behaupteten Lärm- und Abgasbelastungen die nach den vorstehend genannten Kriterien bestimmten Grenzen der Zumutbarkeit nicht überschreiten. Der Anspruch der Klägerseite auf fehlerfreie Ausübung behördlichen Ermessens ist nach alledem nicht erfüllt, sodass die Beklagte über den Antrag erneut entscheiden muss. Bei der Entscheidung ist – wie oben ausgeführt – zu berücksichtigen, dass der Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen, der Schutz der Wohnruhe, aber auch der Schutz von Kindern und Passanten, die zu schmale Gehwege benutzen müssen, besonders berücksichtigungswürdige Belange mit Grundrechtsrang sind und deshalb bei der Ermessensentscheidung einen hohen Stellenwert haben und mit den übrigen privaten oder öffentlichen Interessen auf der Basis einer zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ermittlung abgewogen werden müssen (OVG Münster, NJW 1981, 701). Die Straßenverkehrsbehörde hat das ihr nach § 45 Abs. 1 S.2 Nr.3 StVO eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt, wenn sie die Belange der klagenden Anwohner nicht mit der diesen zukommenden Bedeutung gewichtet und in die Abwägung eingestellt hat; dazu bedarf es zumindest im vorliegenden komplexen und langjährig ungelösten Verkehrsproblem einer Ermittlung des konkreten Ausmaßes der gegebenen Lärm- und Schadstoffbelastung (vgl. dazu auch OVG Berlin vom 18.11.1998 Az.1 B 80.95, juris).
Einzelstreckenbezogene Verkehrsverbote, wie Durchfahrts- und Halteverbote werden auch nicht durch § 45 Abs. 1 StVO ausgeschlossen (vgl. dazu BVerwG vom 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn.50, juris). Im Ergebnis liegt daher im Bereich des Entschließungsermessens ein Ermessensausfall vor.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 VwGO, wonach die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Vorliegend ist die Klage zulässig und begründet, sodass die Beklagte vollumfänglich unterliegt. Ihr sind die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und Sicherheitsleistung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Berufung ist nicht zuzulassen, da keine der in § 124 a Abs. 1 VwGO genannten Voraussetzungen gegeben ist.


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