Europarecht

Deliktische Schadensersatzansprüche nach dem Kauf eines vom sogenannten „Dieselabgasskandal“ betroffenen VW-Markenfahrzeugs des Typs VW Tiguan „TEAM“ 4MOTION 2,0 l TDI

Aktenzeichen  25 O 1327/20

Datum:
8.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 53807
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Memmingen
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 31, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2, § 195, § 199 Abs. 3, § 204 Abs. 1, § 823 Abs. 2, § 826, § 831, § 852
ZPO § 1, § 3, § 4,§ 32
StGB § 263
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27
GVG § 23 Nr. 1, § 71 Abs. 1
EG (VO) 715/2007 Art. 5 Abs. 2 S. 1
GKG § 48 Abs. 1 S. 1,§ 63 Abs. 2

 

Leitsatz

Durch Aufspielen des Software-Updates entfällt der Schaden auch nicht nachträglich (vgl. BGH, Urteil vom 25. 05.2020 – VI ZR 252/19).  (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Das Versäumnisurteil vom 16.11.2020 wird aufrechterhalten.
Die Klägerin hat die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil darf nur gegen Leistung dieser Sicherheit fortgesetzt werden.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 24.328,94 € festgesetzt.

Gründe

I. Der Einspruch ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.
II. Die Klage ist zulässig.
Das Landgericht Memmingen ist das örtlich gem. § 32 ZPO und sachlich gem. § 1 ZPO i.V.m. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG zuständige Gericht.
III. In der Sache hat die Klage jedoch keinen Erfolgt. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Anspruch wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gem. § 826 BGB i.V. m. § 31 BGB zu.
1. Zwar ist nach der Entscheidung des BGH vom 25.05.2020 grundsätzlich davon auszugehen, dass der Einbau der im streitgegenständlichen Fahrzeug ursprünglich installierten Motorsteuerungssoftware eine vorsätzlich sittenwidrige Schädigung darstellt. Auf das weitere Vorbringen der Klägerin, insbesondere die Frage ihrer Aktivlegitimation sowie das Vorbringen zu den behaupteten negativen Folgen des Software-Updates kommt es im hiesigen Fall jedoch nicht mehr an, da Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte zumindest verjährt sind.
Die Klägerin beruft sich zunächst auf eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch die ursprünglich verbaute illegale Abschalteinrichtung. Sie hat das Fahrzeug unstrittig am 19.05.2010 gekauft. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Nach § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist 3 Jahre. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in welchem der Anspruch entstanden ist und der Anspruchsteller Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen sowie der Person des Schuldners hat oder diese Kenntnis infolge grober Fahrlässigkeit nicht hat. Nach ständiger BGH Rechtsprechung liegt die erforderliche Kenntnis in Fällen wie hier im Allgemeinen vor, wenn dem Geschädigten die Erhebung einer Schadensersatzklage, sei es auch nur in Form der Feststellungsklage, erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos möglich ist. Weder ist es notwendig, dass der Geschädigte alle Einzelumstände kennt, die für die Beurteilung möglicherweise Bedeutung haben, noch muss er bereits hinreichend sichere Beweismittel in der Hand haben, um einen Rechtsstreit im Wesentlichen risikolos führen zu können. Auch kommt es, abgesehen von Ausnahmefällen, nicht auf eine zutreffende rechtliche Würdigung an (vergleiche BGH Urteil vom 15.11.2011 – XI ZR 54/09; BGH Urteil vom 04.07.2017 – XI ZR 562/15). Die erforderliche Kenntnis ist nach der Rechtsprechung des BGH bereits vorhanden, wenn die dem Geschädigten bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners als naheliegend erscheinen zu lassen. Es muss dem Geschädigten dabei lediglich zumutbar sein, aufgrund dessen, was ihm hinsichtlich des tatsächlichen Geschehensablaufs bekannt ist, Klage zu erheben, wenn auch mit dem verbleibenden Prozessrisiko, insbesondere hinsichtlich der Nachweisbarkeit von Schadensersatz auslösenden Umständen (BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20 -, juris Rn. 8). Grob fahrlässige Unkenntnis liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen.
Das Gericht geht vorliegend davon aus, dass die Klägerin angesichts der medialen Dauerberichterstattung und sowohl breiter öffentlicher, gesellschaftlicher als auch politischer Diskussion über den sog. „Abgasskandal“ oder „Dieselskandal“ zumindest ab Herbst 2015 in diesem Sinne hinreichende Kenntnis von etwaigen Ansprüchen hatte (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 BGB), nachdem auch das Wort „Betrug“ zu diesem Zeitpunkt bereits in aller Munde war. Ihr war jedenfalls die Erhebung zumindest einer Schadensersatzklage in Form der Feststellungsklage – wenn auch nicht risikolos – möglich. Auch waren ihr die tatsächlichen Umstände durch die mediale Dauerberichterstattung hinreichend bekannt. Sie musste nach der Rechtsprechung nicht alle Einzelumstände kennen, welche möglicherweise Bedeutung haben konnten. Aus den ihr bekannten Tatsachen, dass die Beklagte aufgrund einer strategischen Entscheidung in den Fahrzeugen mit dem Motortyp EA189 eine als illegale Abschalteinrichtung qualifizierte Einrichtung verbaut hat, konnte sie bereits den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten ziehen, zumal in der medialen Berichterstattung bereits von Bezeichnung als „Betrug“ die Rede war und die Thematik als „Abgasskandal“ bezeichnet wurde.
Am 22.09.2015 veröffentlichte die Beklagte ihre sogenannte Adhoc- Mitteilung und eine Pressemitteilung, in der es auszugsweise heißt: „Volkswagen treibt die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten in der verwendeten Software bei Diesel – Motoren mit Hochdruck voran. […] Auffällig sind Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189 mit einem Gesamtvolumen von weltweit rund 11 Millionen Fahrzeugen. Ausschließlich bei diesem Motortyp wurde eine auffällige Abweichung zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb festgestellt […].“
Aus dieser Mitteilung geht eindeutig die Betroffenheit von Fahrzeugen mit Motoren des Typs EA189 hervor sowie, dass es bei diesen Motoren zu Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten gekommen ist, die aufgeklärt werden sollen. An die Adhoc-Mitteilung anschließend entwickelte sich noch im September 2015 eine sämtliche Medien beherrschende Diskussion über den Einsatz manipulierter Dieselmotoren durch die Beklagte in deren Konzern, die als „Abgasskandal“ bezeichnet wurde. Ebenfalls informierte die Beklagte am 02.10.2015 im Rahmen einer Pressemitteilung über die Einrichtung der Website zur Ermittlung betroffener Fahrzeuge, die eine Suche nach von der Manipulation betroffenen Fahrzeugen der Beklagten unter Eingabe der entsprechenden Fahrzeug -Identifizierungsnummer (FIN) ermöglichte. Auch über diese Freischaltung wurde wiederum in allen Medien berichtet. Bereits im Oktober 2015 war mit Freischaltung der Website zur Ermittlung der konkreten Betroffenheit bestimmter Fahrzeugtypen somit bekannt und jedenfalls ohne großen Aufwand erkennbar, welchen konkreten Fahrzeuge des VW-Konzerns von der Manipulation betroffen sind.
Die Klägerin selbst trägt vor, von dem „Abgasskandal“ gewusst zu haben. Es widerspräche auch jeglicher Lebenserfahrung, dass irgendeine Person, die im Herbst 2015 in Deutschland weilte, von dem „Abgasskandal“ nichts gewusst haben könnte (vgl. auch OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.11.2017, Az. 7 U 69/17; OLG München Hinweisbeschluss vom 05.02.2020, 3 U 7392/19).
Der Klägerin waren somit auch hinreichende Tatsachen bekannt, die ihr den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten nahelegten.
Selbst wenn man der Auffassung der Klägerin folgten wollte, dass sie von der konkreten Betroffenheit ihres Fahrzeugs von dem Abgasskandal nichts wusste und sie frühestens mit Ablauf des Jahres 2017 hinreichende Kenntnis von der individuellen Betroffenheit ihres Fahrzeuges gehabt haben konnte, wird man in diesem Fall von einer grob fahrlässiger Unkenntnis der Klägerin im Jahr 2015 ausgehen müssen (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB). Entscheidend ist insoweit, dass die Klägerin, obwohl sie wusste, dass sie ein von der Beklagten hergestelltes Dieselfahrzeug fuhr und obwohl sich ihr im Hinblick auf die Gesamtumstände geradezu aufdrängen musste, dass gegebenenfalls ihr Fahrzeug auch betroffen sein könnte, keinerlei Erkundigungen eingeholt und lediglich abgewartet hat (vergleiche ebenso OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.02.2020, 3U 7392/19). Eine solche Erkundigung wäre der Klägerin unschwer möglich gewesen. Es ist gerade angesichts der oben genannten Website der Beklagten, auf der die Betroffenheit bestimmter Fahrzeuge abgefragt werden konnte, nicht ersichtlich, wieso es der Klägerin nicht hätte möglich sein sollen, von der Betroffenheit auch ihres Fahrzeuges zu erfahren. Dies war ohne größeren Aufwand zu ermitteln. Es wurde auch unbestritten vorgetragen, dass unmittelbar nach Bekanntwerden der Thematik bestimmte Fahrzeugtypen in der medialen Berichterstattung als von dem Abgasskandal betroffen benannt wurden. Die Klägerin gab selbst an, dass sie – obwohl sie von dem Dieselskandal an sich und der Tatsache, dass sie ein Dieselfahrzeug aus dem Konzern der Beklagten fuhr, Kenntnis hatte – keine weiteren Erkundungen nach der Betroffenheit ihres Fahrzeugs unternommen hat. Warum ihr Aufklärungsmaßnahmen nicht zumutbar gewesen wären, trägt sie nicht vor.
Selbst wenn man dem nicht folgen wollte, so musste die Klägerin im Rahmen der Durchführung des Software-Updates am 21.11.2016 eine Information über die Betroffenheit ihres Fahrzeugs von der EA189-Thematik erhalten haben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt musste die Klägerin von der konkreten Betroffenheit ihres Fahrzeugs von der EA189-Thematik gewusst haben, denn es liegt außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass ihr in diesem Zusammenhang nicht mitgeteilt wurde, warum ein Software-Update durchgeführt werden sollte.
Richtig ist zwar, dass eine ungeklärte, bzw. höchstrichterlich bestehende, aber entgegenstehende Rechtsprechung der Durchsetzung eines Anspruchs entgegenstehen kann. Der Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist wegen einer unsicheren und zweifelhaften Rechtslage kann sich jedoch nur in eng begrenzten, besonders begründeten Ausnahmefällen hinausschieben (BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20 -, juris Rn. 10). Eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage besteht zudem nicht bereits deshalb, weil noch keine höchstrichterliche Entscheidung bezüglich einer bestimmten Frage vorliegt (BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20 -, juris Rn. 13).
Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der Klägerin war es bereits im Jahr 2015 zumutbar, Klage zu erheben. Der Durchsetzung des Anspruchs der Klägerin stand eine höchstrichterliche Entscheidung nicht entgegen (BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20 -, juris Rn. 26 ff.).
Wie bereits dargelegt, war es ihr möglich, die Betroffenheit ihres Fahrzeugs ohne erheblichen Aufwand in Erfahrung zu bringen. Ihr war angesichts der medialen Berichterstattung über den Abgasskandal auch der Schluss zuzumuten, dass die Beklagte aufgrund einer strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse die Motorsteuerungssoftware in den von ihr hergestellten Dieselfahrzeugen bewusst und gewollt so programmiert hat, dass sie die gesetzlichen Grenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalten. Wie der BGH in einer Entscheidung jüngst ausführte, war ihr der Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten angesichts dieser Umstände möglich und zumutbar. Sie musste nicht interne Untersuchungen der Beklagten abwarten, um auch die Verantwortlichen im Konzern der Beklagten benennen zu können (BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20 -, juris Rn. 22 f.).
Die regelmäßige Verjährungsfrist von 3 Jahren (§ 195 BGB) begann im vorliegenden Fall nach alldem gemäß § 199 Abs. 1 BGB am 31.12.2015 zu laufen. Sie endete mit Ablauf des 31.12.2018, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB. Selbst wenn man dem nicht folgen wollte, so hat die Frist spätestens nach Durchführung des Software-Updates und damit zum 31.12.2016 zu laufen begonnen. Sie endete somit spätestens mit Ablauf des 31.12.2019.
Die erst nach Fristablauf am 21.09.2020 bei dem Landgericht Memmingen eingegangene und am 06.10.2020 zugestellte Klage konnte die Verjährung damit nicht gemäß § 204 Abs. 1 BGB hemmen.
Gleiches gilt jedenfalls auch für denkbare weitere Ansprüche der Klägerin gem. § 823 Abs. 2 BGB 1. V. m. § 263 StGB oder § 823 Abs. 2 BGB i.V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 EG-FGV sowie § 831 BGB, weshalb sich insoweit weitere Ausführungen erübrigen.
2. Auch ein Anspruch gem. § 852 BGB (sog. „Restschadensersatzanspruch“) besteht im konkreten Einzelfall nicht. Die Regelung greift nach ihrem Sinn und Zweck bereits nicht ein. Nach der Schuldrechtsreform, mit der die Verjährungsfristen bezüglich des Rechts der unerlaubten Handlung und des Rechts der ungerechtfertigten Bereicherung angeglichen wurden, verbleibt der Zweck der Regelung maßgeblich darin, es dem Geschädigten zu ermöglichen, trotz Kenntnis von den haftungsbegründenden Umständen und der Person des Schädigers länger als drei Jahre (§ 195) zuzuwarten und von der alsbaldigen gerichtlichen Geltendmachung des Deliktsanspruchs abzusehen, etwa weil das Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen oder die Rechtslage zweifelhaft ist oder weil dem zu Verklagenden aktuell die nötigen wirtschaftlichen Mittel fehlen, um den Ersatzanspruch zu befriedigen. Die Begründung zum SchuldRModG nennt das Beispiel, dass zwar der Erpresser, aber nicht das Lösegeld gefunden wird und der Geschädigte deshalb zunächst darauf verzichtet, den ihm zustehenden Ersatzanspruch geltend zu machen. Taucht die Beute binnen weiterer sieben Jahre nach Vollendung der Regelverjährungsfrist auf, kann deren Herausgabe nach § 852 verlangt werden (vgl. Wagner, in: MüKom, 8. Aufl. 2020, § 852 Rn. 3). Es sind somit Fälle gemeint, in denen der Geschädigte in voller Kenntnis seine Ansprüche gute Gründe hat, um von deren Geltendmachung einstweilen abzusehen (vgl. Wagner, in: MüKom, 8. Aufl. 2020, § 852 Rn. 4).
Vorliegend geht aus dem zu der Frage der Verjährung gesagten hervor, dass die Klägerin bereits im Jahr 2015 eine den Lauf der Verjährungsfrist in Gang setzende Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen hatte und Klage hätte erheben können. Es liegen gerade keine guten Gründe dafür vor, dass die Klägerin zunächst die Regelverjährungsfrist verstreichen ließ und erst später auf ihre Ansprüche zurückkam. Es liegt auch kein dem genannten Fall zum Diebesgut vergleichbarer Fall vor, indem wie dort das „Erlangte“ erst nach Ablauf der Verjährungsfrist wieder auftaucht und dem Geschädigten somit zu seinem Recht verholfen werden kann, indem zumindest diese Bereicherung bei dem Schädiger abgeschöpft wird. Schließlich liegt kein dem Recht des geistigen Eigentums – hier kommt § 852 BGB regelmäßig zum Tragen – vergleichbarer Fall vor, in dem der Streitwert besonders hoch, die Rechtslage sehr kompliziert wäre und somit das Prozessrisiko als enorm einzustufen wäre. Dies war für den Gesetzgeber jedoch ein maßgeblicher Grund für die Beibehaltung der Regelung (vgl. Wagner, in: MüKom, 8. Aufl. 2020, § 852 Rn. 4 unter Verweis auf BT-Drs. 14/6040, 270, 282).
Die Rechtslage – war wie bereits oben ausgeführt – nicht derart kompliziert und der Streitwert nicht derart hoch, dass die Prozessrisiken ein Zuwarten der Klägerin gerechtfertigt hätten. Der Gesetzgeber hat darüber hinaus zwischenzeitlich die Möglichkeit der Erhebung einer Musterfeststellungsklage geschaffen, an die sich Geschädigte anschließen können, wobei die Prozessrisiken für Geschädigte jedenfalls gering gehalten werden. Im Rahmen des Dieselskandals wurde eine solche Musterfeststellungsklage auch erhoben. Nachdem gerade im vorliegenden Fall gerichtsbekannt über die Erhebung der Musterfeststellungsklage im sog. Dieselskandal in den Medien berichtet wurde, erscheint es auch lebensfern, dass die Klägerin von dieser Möglichkeit keine Kenntnis genommen hatte. Nachdem somit im konkreten Fall – neben den ohnehin als geringen zu wertenden Prozessrisiken – aufgrund einer tatsächlich erhobenen Musterfeststellungsklage zudem die Möglichkeit bestanden hat, sich mit geringen Prozessrisiken einer Musterfeststellungsklage anzuschließen, um der Verjährung der Ansprüche entgegenzuwirken, spricht jedenfalls im konkreten Fall nach dem Sinn und Zweck der Regelung des § 852 BGB nichts für dessen Anwendung. Sonstige Gründe, die ein Zuwarten der Klägerin mit der Geltendmachung ihrer Ansprüche bis nach dem Ablauf der Verjährungsfrist gerechtfertigt hätten, trägt sie selbst nicht vor.
Selbst wenn man dieser Auffassung des Gerichts jedoch nicht folgen wollte, so ist jedenfalls die in § 852 S. 2 BGB bestimmte Verjährungsfrist von zehn Jahren abgelaufen, sodass ein Anspruch gem. § 852 S. 1 BGB jedenfalls nicht besteht.
Die Klägerin hat das Fahrzeug unstreitig am 19.05.2010 erworben. Die Klage ging bei Gericht am 21.09.2020 ein. Gem. § 852 S. 2 BGB verjährt der Anspruch aus § 852 S. 1 BGB in zehn Jahren von seiner Entstehung an, ohne Rücksicht auf die Entstehung in 30 Jahren von der Begehung der Verletzungshandlung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an. Der Frist beginnt unabhängig von der Kenntnis des Anspruchsinhabers ab Entstehung des Anspruchs zu laufen (Eichelberger, in: beckonline.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.12.2020, § 852 Rn. 35). Inhaltlich ist die Regelung § 199 Abs. 3 BGB angeglichen (Palandt, 80. Aufl. 2021, § 852 Rn. 2; Teichmann, in: Jauering, BGB, 18. Aufl. 2021, § 852 Rn. 1; Spindler, in: BeckOK BGB, Stand: 01.11.2020, § 852 Rn. 3). Maßgeblich muss somit – wie bei § 199 Abs. 3 BGB – die früher ablaufende Frist sein. Für die 30-jährige Frist ist auf das in Verkehr bringen des konkreten Fahrzeugs abzustellen. Im konkreten Fall kommt es auf die 10-Jahres-Frist an. Der Anspruch entsteht, wenn auch der Schaden eingetreten ist, welcher vorliegend in der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit liegt. Durch Aufspielen des Software-Updates ist der Schaden auch nicht nachträglich entfallen (BGH, Urteil vom 25. 05.2020 – VI ZR 252/19-, juris Rn. 44 ff.). Somit begann die 10-Jahres-Frist ab dem Vertragsschluss zu laufen (Henrich, in: BeckOK BGB, Stand: 01.11.2020, § 852 Rn. 15). Sie begann konkret am Tag nach dem Ereignis, somit dem 20.05.2010, § 187 Abs. 1 BGB (Eichelberger, in: beckonline.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.12.2020, § 852 Rn. 35) und endete gem. § 188 Abs. 2 BGB am 19.05.2020. Die Klage wurde erst am 21.09.2020 erhoben, sodass auch ein Anspruch nach § 852 S. 1 BGB vorliegend nicht gegeben ist. Auch der Vortrag der Klägerin, durch das Software-Update sei sie erneut getäuscht worden, weil durch dieses ein unzulässiges sog. „Thermofenster“ in den verfahrensgegenständlichen Motor implementiert worden sei, vermag der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung sind jedenfalls nicht schon gegeben, weil die Beklagte aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp mit einem sog. Thermofenster ausgestattet und in den Verkehr gebracht hat. Dieses Verhalten ist – selbst wenn die Beklagte durch den Einbau eine Kostensenkung und Gewinnerzielung erstrebt hat – für sich genommen bereits nicht als sittenwidrig zu qualifizieren. Ob sich die Beklagte auf Art. 5 Abs. 2 a) VO (EG) 715/2007 berufen kann, kann im vorliegenden Fall offen bleiben, weil die Klägerin jedenfalls keine zusätzlichen Umstände vorgebracht hat, die den Einbau der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems als sittenwidrig erscheinen lassen würden (BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847).
Bisher ist nicht abschließend geklärt, ob ein sog. Thermofenster überhaupt eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt. Jedenfalls gibt es eine nicht unerhebliche Zahl an Fachleuten, die das Thermofenster als zulässig erachten. Die Verwendung von Thermofenstern ist gängige Praxis (OLG Köln, Beschluss vom 04.05.2020 – 9 U 295/19 – BeckRS 2020, 22836). Dies in der Zusammenschau damit, dass das Thermofenster – anders als die evident unzulässige Umschaltlogik, welche bereits bewusst und gewollt so programmiert war, dass sie auf den Prüfstand anders als im normalen Fahrbetrieb arbeitet – auf dem Prüfstand wie auch im normalen Fahrbetrieb grundsätzlich gleichermaßen arbeitet und der substantiierte Vortrag der Beklagten, dass der Motorschutz es gerade erfordere, dass ein Thermofenster eingesetzt wird, um insbesondere einer sog. Versottung vorzubeugen, lässt das Gericht zu der Auffassung gelangen, dass die Beklagte im Zeitpunkt des Einbaus des Thermofensters in den streitgegenständlichen Motor jedenfalls unter Vornahme einer vertretbaren gesetzlichen Auslegung der Regelung des Art. 5 Abs. 2 a) EG (VO) 715/2007 handeln konnte. Ein Handeln unter Vornahme einer vertretbaren Auslegung des Gesetzes kann grundsätzlich und ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht als besonders verwerflich angesehen werden (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19-, juris Rn. 90 m.w.N.). Nachdem das mittlerweile ergangene Urteil des EuGH, Urteil vom 17.12.2020 – C-693/18, erst deutlich nach der im konkreten Fall maßgeblichen Verwendung des Thermofensters erging, kann die Klägerin daraus für sich nichts herleiten. Ausführungen erübrigen sich insoweit.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch eine umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Eine bloße Pflichtverletzung des Handelnden, welche einen Vermögensschaden hervorruft genügt hierfür grundsätzlich nicht. Es muss eine besondere Verwerflichkeit hinzutreten, die sich aus den Zielen des Handelns, den Mitteln oder der deutlich werdenden Gesinnung ergeben kann (BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847, Rn. 14).
Selbst wenn man das Thermofenster als unzulässig im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EG (VO) 715/2007 einstufen wollte – so hatte es der BGH in seiner bereits zitierten Entscheidung – BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847 – unterstellt, so reicht der Umstand, dass ein Thermofenster in dem streitgegenständlichen Motor eingebaut wurde für sich noch nicht aus, um eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung annehmen zu können. Der Vorwurf der Sittenwidrigkeit rechtfertigt sich nur, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen würden. Diese hätten somit bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handeln müssen, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nehmen müssen. Aus Sicht des BGH ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt, sollte es an diesem Umstand fehlen. Die Klägerin trägt hierfür die Darlegungs- und Beweislast (BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847, Rn. 19.
Vorliegend hat die Klägerin weder dargelegt, dass das Thermofenster wie die Umschaltlogik gerade so programmiert gewesen wäre, dass sie auf dem Prüfstand anders arbeitet als im normalen Fahrbetrieb. Noch hat sie zusätzliche Umstände dargetan, die darauf schließen lassen könnten, dass die Vertreter der Beklagten bei der Entwicklung und der Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Die Beklagte hat vorgetragen, sie habe die Verwendung des Thermofensters dem Kraftfahrtbundesamt gegenüber offengelegt. Dieses habe das Software-Update in Kenntnis der Umstände freigegeben. Diesem Vortrag ist die Klägerin nicht entgegengetreten. Sie hat hinsichtlich des Thermofensters lediglich vorgetragen, dass der Vorstand und die untergeordneten Ingenieure der Beklagten gewusst haben müssen, dass die Abgaswerte auch nach dem Software-Update nicht eingehalten würden. Dies genügt jedoch den Ansprüchen der Rechtsprechung nicht. Somit sind keine Umstände ersichtlich, die das Verhalten der Beklagten als objektiv sittenwidrig erscheinen lassen würden. Die geltend gemachten Nebenforderungen teilen überdies das Schicksal der nicht (mehr) bestehenden Hauptforderung.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist gem. § 709 S. 1, 2 und 3 ZPO ergangen.
VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2, 48 Abs. 1 S. 1 GKG, §§ 3 und 4 ZPO. Die geltend gemachten Nebenforderungen werden bei der Streitwertfestsetzung nicht berücksichtigt.


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