Europarecht

Dublin III-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Italien, Adäquate Unterbringung von Mutter mit Kind nicht hinreichend sichergestellt, Vulnerabler Personenkreis, Erfordernis konkret-individueller Zusicherung zum maßgebl. Zeitpunkt

Aktenzeichen  M 30 K 20.50239

Datum:
9.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26854
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 34a
Dublin III-VO
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 – Gesch.Z. … – wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichteten, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist begründet. Der im Wege einer Anfechtungsklage gemäß § 42 VwGO angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 15. März 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Asylantrag der Klägerin ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig. In Folge dessen sind die getroffenen Entscheidungen über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG jedenfalls verfrüht ergangen und ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21) bzw. die verfügte Abschiebungsanordnung folglich gleichermaßen rechtswidrig.
Mangels Vorlage einer konkret-individuellen Zusicherung über eine adäquate Unterbringung und Versorgung der Klägerin mit ihrem Sohn durch die italienischen Behörden steht zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, vgl. § 77 Abs. 1 AsylG, zur Überzeugung des Gerichts i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO fest, dass eine Abschiebung der Klägerin nach Italien nicht durchgeführt werden kann, so dass nunmehr die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahren zuständig ist.
Es besteht ein real risk dafür, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Italiens infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRCh hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
Vorliegend kann dahinstehen, ob die Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer vor dem Hintergrund der drohenden Unterkunftssituation und eines Verlustes eines Anspruchs auf Unterbringung unabhängig von einer etwaigen Vulnerabilität systemisch mangelhaft sind (vgl. teilweise bejahend VG München, B.v. 23.2.2021 – M 30 S 21.50040 – noch nicht veröffentlicht; verneinend VG München U.v. 28.10.2020 – M 19 K 19.51141 – juris Rn. 37 ff. m.w.N.; B.v. 8.9.2020 – M 9 S 17.53032 n.v.; VG Würzburg, B.v. 21.12.2020 – W 8 S 20.50319 – juris Rn. 17 ff.; vgl. a. VG Augsburg, U.v. 10.11.2020 – Au 3 K 20.31390 – juris 23 ff.)
An die Behandlung vulnerabler Personen sind – speziell hinsichtlich ihrer Unterbringung – jedenfalls besondere Anforderungen zu stellen, von deren tatsächlichen Berücksichtigung durch Italien nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln nicht ohne Vorliegen einer – bisher nicht abgegebenen – konkret-individuellen Zusicherung Italiens ausgegangen werden kann (BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 13a ZB 18.30891 – juris Rn. 4 f.; B.v. 9.9.2020 – 9 ZB 20.5001 – juris Rn. 6 f; VG München, U.v. 28.10.2020 – M 19 K 19.51141 – juris Rn. 42 ff.). Insoweit schließt sich das Gericht den nachfolgenden Entscheidungsgründen in dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 28. Oktober 2020 – M 19 K 19.51141 – im Wesentlichen an:
„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 4. November 2014 im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung der Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Die allgemeine Situation der Asylbewerber in Italien war zwar nicht mit der Griechenlands vergleichbar und hatte nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern nach Italien verhindert (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 114 ff.). Es konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht war. Um sicherstellen zu können, dass die Aufnahmebedingungen an die Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen angepasst sind, mussten vor deren Abschiebung die vorgenannten individuellen Garantien eingeholt werden, (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 120, 122).
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der mit seinen Urteilen vom März 2019 (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rs. „Jawo“, juris Rn. 92 ff.) die Maßstäbe für Rückführungen im Dublinraum präzisierte und tendenziell eher verschärfte (vgl. Rn. 34, 35), erkennt das Erfordernis einer Differenzierung zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits und Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit andererseits an (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 93).
In gleicher Weise forderte auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – juris Rn. 19 f.; B.v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 16; B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 16), dass jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-VO) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen ist, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
Die italienischen Behörden reagierten auf die „Tarakhel“ Rechtsprechung des EGMR mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015, in denen sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten SPRAR-Unterkünften untergebracht werden. Daraufhin relativierte der EGMR im Jahr 2016 sein Urteil insofern, als von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, E.v. 4.10.2016, Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, https://dejure.org, Rn. 34). Zu diesem Zeitpunkt sicherten die allgemeinen Zusicherungen Italiens jedoch noch eine grundsätzliche Unterbringung von Familien mit (Klein-) Kindern in SPRAR-Unterkünften zu.
Dies änderte sich jedoch seit den Umstrukturierungen durch das Salvini-Dekret vom Oktober 2018 in entscheidungserheblicher Weise, die die vorliegend getroffene Maßgabe-Entscheidung erforderlich macht. Das neue Unterbringungssystem Italiens differenziert nun zwischen einer Erstaufnahme („prima accoglinza“) und einer sekundären Versorgungsschiene („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“ – SIPROIMI). Asylsuchende – auch Dublin-Rückkehrer – werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und verbleiben während des Asylverfahrens dort. In den SIPROIMI (bis Ende 2018 SPRAR), den Aufnahmeeinrichtungen der zweiten Ebene, werden ausschließlich unbegleitete Minderjährige sowie international Schutzberechtigte untergebracht. Unstreitig ist damit, dass die vom EGMR in Bezug genommenen besser ausgestatteten SPRAR-Unterkünfte, die jetzigen SIPROIMI, den Dublin-Rückkehrern und somit auch Familien mit (Klein-)Kindern nicht mehr zur Verfügung stehen. Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (CAS und CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann jedoch nicht ohne Weiteres ausgegangen werden.
Der allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 ist zunächst die Unterbringung vulnerabler Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu entnehmen. Darüber hinaus kann aus ihr nicht die hinreichende Gewissheit gewonnen werden, dass, wo und wie, die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation einer Familie mit Säugling angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23). Denn den durch den EGMR aufgestellten Anforderungen an die Unterbringungsgarantien bezüglich Familien und schwer erkrankten Asylsuchenden kann dieses allgemeine Schreiben vom 8. Januar 2019 hinsichtlich der dargestellten, weitreichenden Änderungen des italienischen Unterbringungssystems nicht mehr standhalten (vgl. Schweizer Bundesverwaltungsgericht, BVGer, U.v. 17.12.2019 – E-962/2019 – abrufbar unter https://www.bvger.ch/bvger/de/home/rechtsprechung/referenzurteile/asyl/dublin-italien.html; AIDA – Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, a.a.O. S. 62).
Den geänderten Verhältnissen bezüglich der Unterbringung vulnerabler Personen Rechnung tragend, ist damit bei dieser Personengruppe eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung zu fordern (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 f.; VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 7 AS 19.50020 – juris Rn. 17 f.). Dieser obergerichtlichen Rechtsprechung folgend, geht das Gericht daher derzeit davon aus, dass für den Kläger als besonders schutzbedürftige Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt werden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind.
So weist das Bundesamt in seinem Bericht vom 2. April 2020 selbst auf regionale Unterschiede im Unterbringungssystem hin (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 51) und kann bei der Darstellung der drei besuchten Aufnahmeeinrichtungen in Rom, Mailand und St. Anna (Nähe Crotone) keine verbindlichen Aussagen zum Zeitpunkt und zum Ort der gesicherten Unterbringung treffen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 25 – 38). Vage Begrifflichkeiten („in der Regel“ werde in Rom […] untergebracht; „üblicherweise“ würden zurückgekehrte Familien von Mitarbeitenden der Unterkünfte am Flughafen abgeholt und in die jeweiligen Unterkünfte gebracht, BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 27) sowie der im Bericht durchgehend verwendete Konjunktiv verstärken die Zweifel an einer Sicherstellung der erhöhten Anforderungen im Hinblick auf den vulnerablen Personenkreis. Gleiches gilt bezüglich der Aussagen des italienischen Flüchtlingsrats, der die Sorge, dass eine Familie mit Kindern nach der Rücküberstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens unfreiwillig obdachlos würde, nicht vollkommen ausschließen konnte (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 40). Vielfach werden Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die zeitnahe Unterbringung vulnerabler Personen durch ehrenamtliche Helfer oder NGOs aufgefangen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 47), was jedoch nicht sicher planbar und verlässlich ist.“
(VG München, U.v. 28. Oktober 2020 – M 19 K 19.51141 – juris Rn. 43 ff.).
Auch die neueren Erkenntnisse sind nicht geeignet, von einer Beseitigung der drohenden mangelhaften Unterbringungs- und Versorgungslage für vulnerable Personen auszugehen. Aus den aktuellen Berichten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BfA – Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11.11.2020) und der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH – Aufnahmebedingungen in Italien – von Januar 2020 sowie Anfragebeantwortung vom 29.10.2020) ergeben sich vielmehr hinreichend deutliche Anhaltspunkte, dass nicht nur anerkannt Schutzberechtigte (vgl. insoweit auch Hess.VGH, B.v. 11.1.2021 – 3 A 539/20.A – juris; VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 – 6 A 243/20 – juris Rn.; VG Magdeburg, U.v. 23.6.2020 – 6 A 124/18 MD – asylnet; VG Gelsenkirchen, GB v. 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A – juris Rn. 64 ff.; VG Braunschweig, U.v. 21.4.2020 – 3 A 112/19), sondern auch anderweitige Dublin-Rückkehrer unter Umständen keinen Zugang (mehr) zu den italienischen Unterkünften bekommen (vgl. VG München, B.v. 23.2.2021 – M 30 S 21.50040 – noch nicht veröffentlicht). Inwiefern hiervon Familien oder vulnerable Personen tatsächlich ausgenommen sind, erscheint fraglich. Zudem haben die italienischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch vom 19. Februar 2019 im vorliegenden Verfahren gerade nicht reagiert. Dass die allgemeinen Angaben des Bundesamtes über das Procedere im Zusammenhang mit einem konkreten Überstellungsgesuch, u.a. dahingehend, dass einer Überstellung erst bei vorhandenem Platz in einer entsprechend angemessenen Unterkunft zum Termin der Überstellung zugestimmt werde, Berücksichtigung finden werden, vermag das Gericht in Übereinstimmung mit den umfangreichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts München im Verfahren M 19 K 19.51141 nicht festzustellen.
Auch das von der Beklagten im Verfahren vorgelegte Rundschreiben des Ministero dell´ Interno vom 8. Februar 2021 vermag hieran noch nichts zu ändern. Zwar stellt es heraus, dass im Rahmen eines neues Schutzsystems SAI, das das frühere SIPROIMI ersetze, auch Dublin-Familiengruppen mit Minderjährigen aufgenommen würden. Es handelt sich hierbei jedoch zunächst um einen Hinweis auf ein entsprechendes Gesetzesdekret. Wann die Einführung des neuen Schutzsystems SAI tatsächlich erfolgt bzw. abgeschlossen ist und inwieweit den besonderen Anforderungen der Personen des vulnerablen Personenkreises tatsächlich Rechnung getragen wird – im Schreiben vom 8. Februar 2021 wird nur der Schutz der Familieneinheit zitiert – bleibt unklar. Das Schreiben ist daher vergleichbar mit einer (abstrakten) Absichtserklärung und vermag nicht das Erfordernis nach einer konkret-individuellen Zusicherung entfallen zu lassen, zumal Italien im vorliegenden Fall auf das Wiederaufnahmegesuch hinsichtlich der Klägerin nicht reagiert hat.
Ohne Vorliegen einer konkret-individuellen Zusicherung der italienischen Behörden droht der Klägerin mit ihrem im Jahre 2019 geborenen Sohn eine mangelhafte Unterbringungssituation und damit eine – gemäß der Maßstäbe von EGMR, EuGH und BVerfG – extreme materielle Notlage, der die Klägerin nicht mehr mit zumutbarer Eigeninitiative wird entgegentreten können.
Für eine Klageabweisung unter Maßgabe der Vorlage einer entsprechend konkret-individuellen Zusicherung, so im Gerichtsbescheid den Sohn der Klägerin betreffend tenoriert (VG München, GB. v. 11.1.2021 – M 19 K 19. 50797 -) ist vor dem Hintergrund des § 113 Abs. 1 VwGO, des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts nach § 77 Abs. 1 AsylG sowie der sich etwaig ergebenden Vollstreckungsfragen eines sog. Maßgabeurteils – der streitgegenständliche Bescheid erwächst bei Klageabweisung trotz erfolgter Maßgabe, aber mangels ausdrücklicher Änderung wohl unverändert in Bestandskraft – aus Sicht des vorliegend erkennenden Gerichts kein Raum (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG Rn. 36 a.E.; a. A. VG München, U.v. 28.10.2020 – M 19 K 19.51141 – juris; VG München, GB v. 27.1.2021 – M 2 K 19.50637 – n.v.). Der obergerichtlichen Rechtsprechung lassen sich insoweit (bislang) keine hinreichenden Ausführungen für eine solche Urteilstenorierung mit Maßgabe entnehmen. Während der Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg eine Ablehnung eines Eilantrages „mit der Maßgabe, dass das Bundesamt vorsorgen muss“, als nicht den Vorgaben der Tarakhel-Rechtsprechung genügend erachtet (VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41), lassen sich den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in den Nichtzulassungsentscheidungen vom 19. Oktober 2020 – 13a ZB 18.30891 – sowie vom 9. September 2020 – 9 ZB 20.50011 – keinerlei hierzu Ausführungen finden, ebensowenig im Übrigen den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Urteilen des VG Regensburg. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hingegen kritisch zu einer Maßgabeentscheidung im Eilverfahren geäußert, eine Entscheidung diesbezüglich aber offengelassen (BVerfG, B.v. 30.4.2015 – 2 BvR 746/15 – juris Rn. 8). Wenn schon im Eilverfahren eine Ablehnung unter Maßgabe kritisch zu sehen ist, bietet § 113 VwGO im Klageverfahren hierfür erst recht keinen Raum.
Der (Anfechtungs-)Klage ist daher vielmehr mit Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids stattzugeben. Einer Entscheidung über den Hilfsantrag in Bezug auf die Feststellung von Abschiebungsverboten bedarf es nicht.
Die Kostenfolge folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).


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