Europarecht

Dublin-Verfahren: Nachzug eines behinderten volljährigen Asylbewerbers aus Griechenland

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50309

Datum:
1.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27477
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 53 Abs. 1 Nr. 3, § 123
Dublin III-VO Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Eine Behinderung stellt für sich genommen noch keinen zwingenden Nachzugsgrund im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO dar. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der behinderte Antragsteller begehrt von Griechenland aus den Nachzug zu seinem in Deutschland lebenden älteren Bruder und zu seinen Eltern bzw. die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO).
Der … 1999 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger. Seit einem Bombenunfall in Syrien im Altern von 17 Jahren hat er Lähmungen in beiden Beinen und benutzt einen Rollstuhl. Der Antragsteller hat 12 Geschwister. Er ist das fünfte Kind seiner 1963 und 1975 geborenen Eltern, die sich zwischenzeitlich Deutschland befinden. Ebenso in Deutschland befinden sich seine Geschwister … (geb. 1993), … (geb. 1996), … (geb. 2000), … (geb. 2002), … (geb. 2003), … (geb. 2006), … (geb. 2008), … (geb. 2009) und … (geb. 2014).
Der Antragsteller verließ Syrien ohne seine Familie am 24. Juni 2018 und reiste über die Türkei auf dem Seeweg am 7. Juli 2018 nach Griechenland ein. Er stellte am 18. Juli 2018 in Griechenland einen Asylantrag. Von den griechischen Behörden wurde er am 6. September 2019 von der Insel Samos nach Thessaloniki verbracht. Er lebt dort mit seiner verheirateten Schwester … (geb. 1997) und deren Familie (Ehemann und zwei Kinder im Alter von ca. 2 ½ Jahren und ca. 9 Monaten) zusammen. Die Schwester war bereits am 28. Februar 2018 nach Griechenland gekommen, sie lebt seit Dezember 2018 in … und ist in Griechenland als Flüchtling anerkannt.
Der Bruder … des Antragstellers, zu dem dieser den Nachzug primär begehrt, befindet sich seit 1. Oktober 2016 in Deutschland; er hat in Deutschland internationalen Schutz erhalten und wohnt mit Ehefrau und zwei kleinen Kindern in … Die Eltern und jüngeren Geschwister …, …, … und … des Antragstellers reisten zusammen im November 2018 nach Griechenland ein und wurden im Januar 2019 auf das griechische Festland verlegt. Sie wurden im Rahmen eines Dublin-Verfahrens von der Bundesrepublik Deutschland übernommen (Übernahmeerklärung vom 10.7.2019), da sich in Deutschland ein minderjähriges Kind von ihnen befand. Sämtlichen in Deutschland sich befindende Familienangehörigen wurde – nach Aussage der Antragstellerseite – im Rahmen eines Asylverfahrens subsidiärer Schutz zuerkannt.
Aus der Bundesamtsakte der Eltern des Antragstellers ergibt sich, dass sich eine weitere Schwester … (geb. 2005) des Antragstellers in der Türkei befindet. Schwestern beider Elternteile leben ebenfalls in Griechenland.
Am 21. Januar 2020 richtete die griechische Dublin-Einheit ein auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestütztes Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin und legte die deutschen Papiere der Eltern, jüngeren Geschwister und des Bruders … sowie ein „medical certification“ des griechischen Gesundheitsministeriums vom 12. November 2019 vor. Nach letzterem leide der Antragsteller an schweren Lähmungen, vor allem des „right lower limp“ und es werde Physiotherapie der „lower extremity“ empfohlen. Weiter beigefügt war eine rechtliche Stellungnahme eines Rechtsantwalts sowie ein Sozialbericht, in dem ausgeführt wird, dass der Antragsteller vorübergehend in einer vom UNHCR zur Verfügung gestellten Wohnung untergebracht sei, er auf tägliche Hilfe angewiesen sei und Schwierigkeiten beim Anziehen und Kochen habe. Seine Schwester könne und wolle dem Antragsteller keine ausreichende Unterstützung mehr bieten. In Griechenland erschwere das ungenügende Gesundheitssystem mit langen Arztwartezeiten und das keine Kosten für Physiotherapie abdecke, sein Leben.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Schreiben vom 11. Februar 2020 die Übernahme ab und verwies darauf, dass der Antragsteller nach Griechenland eigenständig eingereist sei und die Trennung der Familie durch diese eigenverantwortlich erfolgt sei. Im Übrigen werde nicht der Nachzug zum Familienverbund der Eltern mit den jüngeren Geschwistern begehrt, sondern der Nachzug zum älteren Bruder, für den keine Einverständniserklärung vorliege. Es sei auch unklar, inwiefern Bruder und Eltern den Antragsteller unterstützen können. Es wurde gebeten, mehr Informationen zur in Griechenland lebenden Schwester zu geben und darauf hingewiesen, dass die Familienbeziehung mangels Vorliegen von übersetzen Identitätspapieren vom Antragsteller nicht nachgewiesen seien.
Ein Remontrationsersuchen der griechischen Behörden vom 3. März 2020 lehnte die Antragsgegnerin am 5.3.2020 ab. Auch eine Nachfrage des Jugendamtes in … und der studentischen Rechtsberatung der Universität … führte zu keiner Änderung der Haltung der Antragsgegnerin.
Mit am 10. September 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten stellte der Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO und beantragte, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Ministerium für Citizen Protection – Nationales Dublin-Referat für den Asylantrag des Antragstellers für zuständig zu erklären und auf seine Überstellung hinzuwirken.
Zur Begründung wurde auf die dauerhafte Verhinderung der Familieneinheit verwiesen. Ein Nachzugsanspruch bestehe nach Art. 17 Abs. 2 i.V.m. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO aufgrund einer Ermessensreduzierung auf null. Die enge familiäre Verbundenheit führe zusammen mit der Unterstützungsbedürftigkeit des Antragstellers aufgrund seiner schweren Behinderung zur Bejahung humanitärer Gründe. Der Antragsteller sei dauerhaft auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen. Seine Rückenmarksverletzung führe auch zu einer Obstruktion des Magen-Darm-Trakts, weswegen er erst kürzlich habe operiert werden müssen. Der Antragsteller sei in Griechenland ohne jegliche familiäre Bindung. Auf Samos habe er unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt. Die Schwester des Antragstellers habe nach ihrer Flüchtlingsanerkennung in Griechenland ihre Wohnung verlassen müssen und lebe in Umständen, die Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh widersprächen. Es könne deshalb nicht erwartet werden, dass sie sich adäquat um den Antragsteller kümmere. Eine freiwillige Trennung des Antragstellers von seiner Familie liege nicht vor. Dass nicht die Eltern, sondern der Bruder des Antragstellers als Nachzugsperson benannt worden sei, sei dadurch begründet, dass im Formblatt lediglich eine Person genannt werden könne. Der Bruder, die Eltern und neun Geschwister des Antragstellers lebten zusammen, sie seien willig und in der Lage, sich um den Antragsteller zu kümmern. Der Umzug in eine größere rollstuhlgerechte Wohnung finde gerade statt. Eine Zustimmungserklärung des Antragstellers vom 26. August 2020 zur Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland sowie Zustimmungen seiner Eltern vom 1. September 2020, den Antragsteller bei sich aufzunehmen („join“) wurde beigefügt, ebenso eine undatierte Stellungnahme der „Refugee Law Clinic“ der Universität … Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 16. September 2020, den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
Die Antragstellerseite begründete den Antrag weiter mit Schriftsatz 17. September 2020. Mit Schriftsatz vom 29. September 2020 wurde die Entscheidung der griechischen Asylbehörde (in englischer Sprache) vom 22. Juli 2019 vorgelegt, wonach Griechenland seine Zuständigkeit wegen vorrangiger Zuständigkeit Deutschlands nach der Dublin III-VO für die Eltern und jüngeren Geschwister des Antragstellers abgelehnt hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten, auch derjenigen des Bruders … und der Eltern und jüngeren Geschwister des Antragstellers und die Gerichtsakte mit den Schriftätzen und deren Anlagen verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zwar zulässig (2), aber unbegründet (3) und deshalb abzulehnen. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1).
1. Da sich der Antragsteller in Griechenland aufhält, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zu ständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftrreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Der Antragssteller ist entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. In Frage kommen hier Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein Berufen vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO ist dabei anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 Europäische Grundrechts-Charta (GRCh) sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet, da zwar wohl von einem Anordnungsgrund auszugehen ist, weil nach einer jederzeit möglichen Entscheidung über den Asylantrag in Griechenland ein Nachzug zum Bruder bzw. Eltern nach den Regularien der Dublin III-VO ausgeschlossen ist; dies kann aber letztlich offenbleiben. Jedenfalls ist im Ergebnis ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat nach keiner Vorschrift der Dublin III-VO einen Nachzugsanspruch glaubhaft gemacht.
a) Ansprüche nach Art. 8 bis 11 Dublin III-VO scheitern bereits daran, dass es sich beim Antragsteller um einen Volljährigen handelt, so dass er nicht als Familienangehöriger seiner in Deutschland lebenden Eltern und Geschwister gilt, Art. 2 Buchst. g) Dublin III-VO. Im Übrigen ist die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO durch das Übernahmeersuchen der griechischen Behörden nicht gewahrt, was den Anspruch ausschließt. Die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts dieser Vorschrift auch zu Lasten des Antragstellers zu berücksichtigen, wenngleich er auf die Fristeinhaltung durch die griechischen Behörden keinen Einfluss hatte (s. hierzu im einzelnen VG Ansbach, U.v. 10.7.2019 – AN 18 E 19.50571 – juris, VG Berlin, B.v. 17.6.2019 – 23 K L 293.19.A; VG Gießen, B.v. 8.4.2019 – 2 L 1027/19.Gl.A; VG Oldenburg, B.v. 4.12.2018 – 11 B 4236/18 – jeweils juris). Der Antragsteller hat bereits am 18. Juli 2018 in Griechenland seinen Asylantrag gestellt, die griechischen Behörden haben jedoch erst am 21. Januar 2020 und damit deutlich außerhalb der 3-Monats-Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO das Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin gerichtet.
b) Ein Anspruch auf Nachzug bzw. Zuständigerklären ergibt sich vorliegend auch nicht aus
Art. 16 Dublin III-VO. Nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO entscheiden die Mitgliedstaaten in der Regel, ein Neugeborenes und einen wegen Schwangerschaft, schwerer Krankheit, hohen Alters oder ernsthafter Behinderung auf die Unterstützung angewiesenen Antragsteller und seine sich rechtmäßig in einem Mitgliedsstaat aufhaltenden Eltern bzw. Geschwister nicht zu trennen bzw. zusammenzuführen, wenn die familiäre Bindung bereits im Heimatland bestanden hat, der Familienangehörige in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen und die betroffenen Personen den entsprechenden Wunsch schriftlich kundgetan haben.
Auch für den Übernahmeanspruch nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO gilt jedoch das Aufnahmeverfahren des Art. 21 Dublin III-VO mit der Fristbindung des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO (VG Freiburg, B.v. 5.2.2020 – A 13 K 4642/19 – juris Rn. 50), an dessen rechtzeitiger Durchführung es hier scheitert. Im Übrigen ist ein schriftlich kundgetaner Wunsch des Antragstellers i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO nicht glaubhaft gemacht. Eine solche Erklärung befindet sich weder in der Bundesamtsakte, noch wurde eine solche Erklärung im gerichtlichen Verfahren vorgelegt. In der Bundesamtsakte finden sich lediglich die Stellungnahmen eines Sozialarbeiters und eines Rechtsanwalts, ohne dass aber z.B. durch Vollmacht nachgewiesen wäre, dass diese für den Antragsteller zu sprechen befugt sind. Auch die mit Schriftsatz vom 10. September 2020 vorgelegte Erklärung („writte consent form“) vom 26. August 2020 genügt dieser Anforderung des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO nicht. Darin erklärt der Antragsteller lediglich sein Einverständnis mit einer Behandlung seines Asylverfahrens ins Deutschland. Der Wunsch, mit seinen Eltern oder seinem Bruder vereint zu werden und von diesen die erforderliche Unterstützung zu erhalten, geht daraus gerade nicht hervor. Angesichts der gleichzeitig nachgereichten und hiervon deutlich abweichenden Formulierungen der Erklärungen der Eltern des Antragstellers vom 1. September 2020, muss davon ausgegangen werden, dass es sich auch nicht um eine versehentliche Unklarheit oder Ungenauigkeit handelt, sondern bewusst eine rein sachliche, auf das Verfahren, nicht aber die Familienangehörigen bezogene Erklärung abgegeben werden sollte. Ein Wunsch des Antragstellers, mit seinem Bruder … und/oder seinen Eltern vereint zu werden, ist jedenfalls nicht glaubhaft gemacht.
c) Ein Anspruch auf Nachzug ergibt sich vorliegend auch nicht aus der Ermessensnorm des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, der im Gegensatz zu den anderen Nachzugstatbeständen nicht fristgebunden ist.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff. Im Kontext der Dublin III-VO ist dabei eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist. Dies lässt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen.
Zu berücksichtigen ist weiter, dass ein Antrag nach § 123 VwGO nach herrschender Meinung, die auch das erkennende Gericht vertritt, nur dann zum Erfolg führt, wenn eine Ermessensreduzierung auf null gegeben bzw. glaubhaft gemacht ist. Ein gegebenenfalls vorliegender Ermessensfehler der Antragsgegnerin alleine würde noch nicht zu einer Antragsstattgabe führen.
Eine Ermessensreduzierung auf null im Hinblick auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist jedoch nur anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Familienangehörigen an einem Aufenthalt in ein und demselben Staat konkret und im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die den dauerhaften Aufenthalt in zwei unterschiedlichen Staaten zu einer besonderen Härte machen würden und deshalb eine andere Entscheidung als die Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Eine Trennung von erwachsenen Familienangehörigen, insbesondere von Eltern und erwachsenen Kindern und eine Trennung von erwachsenen Geschwistern ist aber grundsätzlich nicht unzumutbar, auch dann nicht, wenn lediglich ein Familienangehöriger von Rest der Familie getrennt in einem anderen Staat zu leben gezwungen ist. Zum einen sind Erwachsene anders als Minderjährigen aufgrund einer weitgehend abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung regelmäßig weder tatsächlich, noch emotional derart aufeinander angewiesen, dass eine räumliche Trennung eine nachhaltige und erhebliche Belastung, insbesondere gesundheitlicher oder psychischer Art, darstellt. Zum anderen beruht die Trennung von erwachsenen Familienmitgliedern regelmäßig auf einer autonomen, selbstverantworteten und überlegten Lebensentscheidung, an der Erwachsene, anders als Kinder, die rechtlich und entwicklungsbedingt die Folgen einer Entscheidung nur bedingt absehen können, festgehalten werden können.
Nach diesen Prämissen ist für den Antragsteller trotz seiner Behinderung kein sich als zwingend darstellender Nachzugsgrund zu erblicken. Seine Situation ist gerade nicht mit der eines minderjährigen Kindes, das regelmäßig auf die Sorge seiner Eltern für seine Entwicklung angewiesen ist, zu vergleichen. Erst recht ist kein gewichtiger Grund für einen Nachzug zum sechs Jahre älteren Bruder …, von dem der Antragsteller durch die getrennten Fluchten seit mindestens vier Jahren getrennt ist, zu erblicken. Dass eine psychische Angewiesenheit des Antragstellers auf seine Familienangehörigen in Deutschland bestünde, wurde weder vorgetragen, noch ist dies ersichtlich. Auch der Stellungnahmen der griechischen Behörde, seines griechischen Anwalts bzw. des dortigen Sozialarbeiters ist dies nicht zu entnehmen. Ein körperliches Angewiesensein aufgrund der Behinderung bzw. eine erhebliche Hilfsbedürftigkeit ergibt sich aus den Stellungnahmen ebenfalls nicht ausreichend und konkret. Den ärztlichen und sonstigen Unterlagen ist nicht mehr zu entnehmen, als dass der Antragsteller einen Rollstuhl benutzt und Schwierigkeiten bei alltäglichen Verrichtungen wie Kochen und Anziehen hat. Dies allein ist nicht ausreichend. Es ist weder ersichtlich, welche genauen familiären Unterstützungsleistungen der Antragsteller braucht (was bereits die Antragsgegnerin nachgefragt hatte, ohne dass es aber in der Folge zu näheren Darlegungen gekommen ist), aber in Griechenland nicht erhalten kann, noch warum (nur) der Bruder bzw. die Eltern diese Leistungen erbringen können. Zu Recht verweist die Antragsgegnerin darauf, dass der Antragsteller auch in Griechenland familiär nicht völlig auf sich allein gestellt ist. Vielmehr lebt er dort mit seiner volljährigen Schwester und deren Familie zusammen, also in einer vergleichbaren Situation wie er sie bei seinem Bruder in Deutschland anstrebt. Dass die Schwester nicht (mehr) in der Lage ist oder es wegen ihrer eigenen Familiensituation ablehnt, sich weiterhin um den Antragsteller zu kümmern, ist zwar behauptet, aber durch keine sonstigen Anhaltspunkte belegt. Insbesondere wurde keine Stellungnahme der Schwester vorgelegt und auch sonst nichts dafür belegt – auch von den griechischen Behörden dazu nichts vorgetragen -, dass die Schwester des Antragstellers aufgrund einer Wohnungskündigung von diesem getrennt wurde oder dies ansteht. Bei dem Vorbringen zur Betreuungsbedürftigkeit und der bisherigen Betreuung des Antragstellers handelt sich insgesamt um einen vagen, in keiner Weise nachprüfbaren Sachverhalt, der auch eher lebensfremd scheint, da die griechischen Behörden ein Interesse daran haben dürften, dem Antragsteller ein möglichst unterstützendes familiäres Umfeld zu wahren, schon allein um eigene Sozialleistungen zu sparen. Bisher wohnte der Antragsteller jedenfalls unstreitig zusammen mit seiner Schwester in …, während er in Griechenland aber zu keinem Zeitpunkt mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern und niemals mit seinen deutlich vorher ausgereisten Bruder … zusammengelebt hat. Zudem zeigt die Flucht des Antragstellers ohne jegliche Familienangehörigen und trotz seiner Behinderung und mit Rollstuhl, dass er wohl nicht derart auf Betreuung angewiesen ist, dass eine Trennung von Pflegepersonen schlechterdings nicht denkbar ist.
Die Tatsache, dass der Antragsteller in Griechenland zu keinem Zeitpunkt mit seinen Eltern zusammengeführt worden ist, sondern von den griechischen Behörden zunächst nur die Übernahme der Eltern und jüngeren Geschwister nach Deutschland betrieben worden ist, zeigt die Einschätzung der griechischen Behörden, dass ein absolutes Auf-Einander-Angewiesen-Sein der Betroffenen nicht bestand. Dass der Antragsteller oder seine Eltern selbst, etwa mit Hilfe eines Rechtsanwalts, versucht hätten, eine Vereinigung in Griechenland zu erreichen, ist ebenfalls nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Vielmehr wird das Bedürfnis des Nachzugs nach Deutschland vorwiegend mit der vermeintlich besseren medizinischen und therapeutischen Behandlung des Antragstellers begründet. Dieser Aspekt stellt jedoch keinen im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zu berücksichtigenden Umstand dar. Es handelt sich dabei nicht um einen humanitären Grund aus einem familiären oder kulturellen Kontext. Im Übrigen zeigen die vorgelegten ärztlichen Unterlagen aus Griechenland und der Vortrag, dass der Antragsteller dort kürzlich operiert worden ist, dass er dort durchaus medizinisch versorgt wird. Die Tatsache, dass eine medizinische und therapeutische Betreuung des Antragstellers in Deutschland eventuell leichter und besser möglich ist, genügt im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht, auch nicht in Zusammenschau mit der Tatsache, dass sich die Herkunftsfamilie des Antragstellers überwiegend in Deutschland aufhält.
Die Überstellung des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland stellt sich nicht als einzige humanitär vertretbare Lösung für den Antragsteller dar.
4. Die Kostenentscheidung des damit erfolglosen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
5. Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben