Europarecht

Dublin-Verfahren, systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn, sechsköpfige Familie

Aktenzeichen  W 1 S 22.50035

Datum:
9.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2913
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 34a
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7
Dublin III-Verordnung Art. 14
Dublin III-Verordnung Art. 16
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheides vom 14.01.2022 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller zu 1) wurde den Angaben in seinem Reisepass zufolge 1987 in Afghanistan geboren, ebenso die Antragstellerin zu 2) 1990, die 2015 geborene Antragstellerin zu 3), der 2017 geborene Antragsteller zu 4), die 2019 geborene Antragstellerin zu 5) sowie die 2020 geborene Antragstellerin zu 5). Die Antragsteller geben an, sie seien afghanische Staatsangehöriger tadschikischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit. Sie hätten das Heimatland am 26. August 2021 verlassen und seien sodann nach Ungarn geflogen, wo sie sich für ca. 45 Tage aufgehalten hätten. Von Ungarn aus seien sie dann auf dem Landweg am 5. Oktober 2021 nach Deutschland eingereist, wo sie ein Asylgesuch äußerten und am 3. November 2021 einen schriftlichen Asylantrag stellten. Eine Eurodac-Abfrage verlief negativ.
Nachdem die Antragsteller Dokumente der ungarischen Behörden vorgelegt hatten, die vom 2. September 2021 bis 30. November 2021 gültig waren, stellte das Bundesamt am 19. November 2021 ein Übernahmeersuchen aufgrund der Verordnung (EU) Nummer 604/2013 – Dublin III-Verordnung – gegenüber Ungarn.
Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 13. Dezember 2021 zur Zulässigkeit ihres Asylantrages gaben die Antragsteller an, dass sie am 23. August 2021 nach Europa (Ungarn) gereist seien. Dort hätten sie sich 45 Tage bzw. zwei Monate aufgehalten. Die Kinder hätten nicht zur Schule gehen können. Sie hätten dort auch keine Bekannte oder Landsleute gehabt. Sie hätten auch kein Geld bekommen, sondern nur eine Mahlzeit pro Tag. Sie hätten alles privat ausgegeben, was sie gebraucht hätten. Sie seien wie Gefangene im Camp gewesen. Die Sozialarbeiter hätten ihnen gesagt, die Regierung wolle keine Flüchtlinge in Ungarn. Beschwerden, Erkrankungen, Gebrechen oder eine Behinderung hätten sie nicht. Sie hätten sich überlegt, lieber in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen.
Mit Schreiben vom 7. Dezember 2021 erklärte Ungarn seine Zustimmung zur Überstellung der Antragsteller gemäß Art. 18 Abs. 1 Nr. b Dublin III-VO.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 14. Januar 2022 wurden die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig abgelehnt (Nummer 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nummer 2). Die Abschiebung nach Ungarn wurde angeordnet (Nummer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 4). Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller am 30. Januar 2022 Klage erhoben (W 1 K 22.50034), über die bislang nicht entschieden ist. Zugleich haben sie auch ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Hinweis auf die vom BayVGH festgestellten systemischen Mängel des Asylverfahrens in Ungarn eingeleitet. Sie seien nach der Ankunft in Ungarn in einem Camp untergebracht worden, in dem sie wie in einem Gefängnis gelebt hätten. Sie hätten lediglich eine Mahlzeit am Tag erhalten. Für die Kinder zwischen 1 bis 6 Jahren habe es keine Bildungseinrichtungen gegeben; dies stelle eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.
Die Antragsteller beantragen,
Hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet.
Das Bundesamt beantragt für die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren, im Verfahren W 1 K 22.50034 sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 14. Januar 2022 ist zulässig und begründet.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse der Antragsteller und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen (Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 152; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 89). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird; ergibt eine vorläufige Überprüfung der Klage in der Hauptsache dagegen, dass diese offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. Hoppe in Eyermann a.a.O., Rn. 90 ff.).
Unter Anwendung dieser Grundsätze war dem Antrag vorliegend stattzugeben, weil sich nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ergeben, so dass die Interessen der Antragsteller, vorläufig von einer Überstellung nach Ungarn und damit der dort möglicherweise drohenden menschenrechtswidrigen Behandlung verschont zu bleiben, das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegen.
1. Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist grundsätzlich § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG.
Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-Verordnung der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Vorliegend ergibt sich die grundsätzliche Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz aus Art. 14 Abs. 1 Dublin III-Verordnung. Reist danach ein Drittstaatsangehöriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ein, in dem für ihn kein Visumzwang besteht, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Dies ist hier der Fall, da die zuständigen ungarischen Behörden den Antragstellern Dokumente ausgestellt haben, wonach es ihnen möglich war, visumsfrei nach Spanien einzureisen, nachdem sie die Absicht erklärt hatten, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die Dokumente hatten eine Gültigkeitsdauer von 3 Monaten. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2021 haben die ungarischen Behörden sodann folgerichtig auf das vom Bundesamt am 3. Dezember 2021 nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-Verordnung fristgerecht gestellte Aufnahmegesuch ihre Zustimmung zur Aufnahme des Antragstellers erteilt, Art. 22 Abs. 1 Dublin III-Verordnung. Ungarn ist somit nach Art. 18 Abs. 1a) Dublin III-Verordnung zur Aufnahme des Antragstellers verpflichtet.
Der Fortbestand der Zuständigkeit Ungarns ist auch nicht nachträglich nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 oder Abs. 3 Unterabs. 1 Dublin III-Verordnung erloschen, wie sich aus den Angaben der Antragsteller entnehmen lässt. Ebenso wenig ergibt sich eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung, da die dort geregelte sechsmonatige Überstellungsfrist seit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn ersichtlich noch nicht abgelaufen ist.
2. Die Antragsgegnerin ist aber möglicherweise gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung für die Prüfung des Asylantrages der Antragsteller zuständig. Denn es sind zumindest erhebliche Anhaltspunkte für die Annahme der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 106) bzw. dem übereinstimmenden Art. 3 EMRK (vgl. Nds OVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 26) bei einer Rückkehr der Antragsteller nach Ungarn aufgrund systemischer Mängel im Asylverfahren bzw. in den dortigen Aufnahmebedingungen feststellbar. Bei der Prüfung, ob ein Mitgliedsstaat hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzsuchenden gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Denn nach dem Konzept, welches Art. 16a Abs. 2 GG und §§ 26a, 29 Abs. 1, 34a AsylG zu Grunde liegt, ist davon auszugehen, dass unter anderem in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist und daher dort einem Schutzsuchenden keine politische Verfolgung droht sowie keine für Schutzsuchende unzumutbare Bedingungen herrschen („Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“, vgl. auch EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-173/17 – juris Rn. 82, und U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 -, NVwZ 2012, 417; BVerwG, U.v. 9.1.2019 – 1 C 36.18 – juris Rn. 19; Nds. OVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (ABl. 2013, L 180/96), die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (ABl. 2011, L 337/9) oder die Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU (ABl. 2013, L 180/60) genügen, um die Überstellung eines Schutzsuchenden an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Kann einem Mitgliedstaat hingegen nicht unbekannt sein, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in dem zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden, hat eine Überstellung zu unterbleiben (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17, juris Rn. 85; vgl. auch BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Systemische Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 -juris Rn. 92). Das Gericht muss auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte (in einem Klageverfahren) feststellen, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 98). Der Nachweis obliegt dem Schutzsuchenden (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 163/17 – juris Rn. 95).
Der BayVGH hat in mehreren Verfahren festgestellt, dass eine Abschiebung nach Ungarn deshalb unzulässig ist, weil das Asylverfahren auch für Dublin-Rückkehrer an systemischen Mängeln leidet (vgl. BayVGH, U.v. 31.01.2018 – 9 B 17.50039; B.v. 29.01.2018 – 20 B 16.50000; U.v. 23.03.2017 – 13a B 16.30951 – alle bei juris). Der BayVGH hat dies mit der gesetzlichen und tatsächlichen Entwicklung in Ungarn seit 2013 begründet, u.a. mit der Gefahr für Asylbewerber, bis zu 60 Tagen in Asylhaft genommen zu werden bei unklaren Voraussetzungen und fehlendem effektiven Rechtsschutz sowie auch wegen der Gefahr von Verstößen gegen das Refoulment-Verbot.
Die Situation in Ungarn hat sich seitdem auf der Grundlage der vorliegenden neueren Erkenntnisse nicht grundlegend zugunsten der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer geändert: Zwar wurden die sogenannten Transit-Zonen nach der grundlegenden Entscheidung des EuGH vom 14.05.2020 (C-924/19 PPU u.a.) mit Wirkung ab dem 21.05.2020 geschlossen, hinsichtlich der Inhaftierung von Asylbewerbern hat dies indessen keine grundlegende Änderung der Rechtspraxis mit sich gebracht, da von den 217 neuen Asylbewerbern 2020 22 in Haft kamen und damit ein ähnlich hoher Prozentsatz wie in den Jahren zuvor; die Probleme sind daher die gleichen wie zuvor (vgl. AIDA, asylumineurope.org/reports/country/hungary, Stand 15.04.2021). Seit dem 26.05.2020 können zudem nur noch solche Asylbewerber in Ungarn einen Asylantrag stellen, die zuvor bei den ungarischen Botschaften in Kiew oder Belgrad eine sogenannte Absichtserklärung abgegeben hatten und sodann eine Einreisegewährung erhalten haben (AIDA, aaO., S. 11). Die europäische Kommission leitete auch hinsichtlich der neuen Regelungen ein Vertragsverletzungsverfahren ein (Amnesty International, Report Ungarn, Stand 07.04.2021). Auch für Dublin-Rückkehrer finden sich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Stellung eines Asylantrages keine Ausnahmen (AIDA, aaO. S. 45/46; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; Ungarn, Stand 09.03.2020, S. 6; Human Rights Watch, Hungary, Stand 01.01.2022). Es ist also bei einer Überstellung nach Ungarn noch nicht einmal sichergestellt, dass die Antragsteller dort Flüchtlingsschutz beantragen können, geschweige denn, dass sie dies unter rechtsstaatlichen Bedingungen tun können. Das Schreiben, mit dem die ungarische Dublin-Unit ihr Einverständnis mit der Übernahme der Antragsteller erklärt hat, weist ausdrücklich darauf hin, dass diese in Ungarn noch keinen Asylantrag gestellt haben, ohne zu erklären, warum dies bei einer Aufenthaltsdauer von ca. 45 Tagen nicht möglich gewesen ist.
Die Antragsgegnerin hat schließlich auch nichts Substantiiertes vorgetragen, was gegen diese Einschätzung sprechen würde, sondern lediglich pauschal unter Verweis auf Entscheidungen verschiedener deutscher Gerichte, die allesamt vor den oben zitierten Entscheidungen des BayVGH ergangen waren und ohne die Entscheidungen des BayVGH überhaupt nur zu erwähnen, erklärt, das ungarische Asylverfahren leide nicht an systemischen Mängeln (vgl. S. 6 des Bescheides vom 14.01.2022). Soweit in dem Bescheid ausgeführt wird, wie die ungarischen Behörden bei der Einreise von Dublin-Rückkehrern angeblich vorgehen sollen (S. 5 des Bescheides) decken sich diese Ausführungen nicht mit den unabhängigen Erkenntnissen, die oben geschildert wurden und vermögen, zumal sie ohne überprüfbare Nachweise erfolgen, die Rechtsprechung des BayVGH zu den systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren nicht in Zweifel zu ziehen. Auch die im Behördenvorgang enthaltene email der ungarischen Dublin-Unit (Blatt 336) bzw. das als „Beweismittel“ bezeichnete pdf ohne Datum und Unterschrift (Blatt 337) vermögen die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Vorgehens der ungarischen Behörden nicht zu beseitigen, zumal dieses pdf, das vorgibt, in jedem Fall von Bitte um internationalen Schutz würden die Richtlinien 32 und 33/2013 der EU beachtet, keinerlei Bezug zum konkreten Fall der Antragsteller aufweist und keine Garantie dafür bietet, dass die Antragsteller bei einer Rückkehr nach Ungarn ihre Asylanträge dort stellen können und während des Verfahrens tatsächlich richtlinienkonform behandelt werden.
Da somit die erhobene Klage in der Hauptsache nach derzeitiger Einschätzung mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird, überwiegen die Interessen der Antragsteller das öffentliche Vollzugsinteresse, so dass dem Antrag stattzugeben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.


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