Europarecht

Erfolgloser Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Lettland)

Aktenzeichen  Au 6 S 17.50305

Datum:
27.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 10, Art. 11, Art. 12 Abs. 4, Art. 17 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Es ist nicht davon auszugehen, dass Antragsteller in Lettland aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Art. 10 Dublin III-VO kommt nicht nur zur Anwendung, wenn der Mitgliedstaat, dessen Zulässigkeitsentscheidung angefochten wird, für keinen der Familienangehörigen zuständig ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Eilantrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen eine sofort vollziehbare Anordnung der Abschiebung nach Lettland.
I.
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste mit einem vom 8. Juli 2017 bis 1. August 2017 gültigen Schengen-Visum, ausgestellt von der Republik Lettland (Blatt 55 der Bundesamtsakte), am 14. Juli 2017 aus der Türkei kommend in die Republik Lettland ein. Von dort reiste er zwei Tage später nach Deutschland weiter und beantragte am 10. August 2017 in der Bundesrepublik Deutschland Asyl.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Zulässigkeit des Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 AsylG am 4. September 2017 gab der Antragsteller an, wegen seiner Fußleiden einen türkischen Behindertenausweis zu haben. Er habe Diabetes und nehme hierfür das Medikament Glukofen 1000, er leide an Bluthochdruck und habe Herzrhythmusstörungen. Vor zehn Jahren sei er am Herzen operiert worden, vor drei Jahren habe er einen Herzinfarkt gehabt. In Deutschland sei er deswegen bisher nicht in Behandlung.
Das Bundesamt richtete am 5. September 2017 ein Übernahmeersuchen für den Antragsteller an Lettland, welches am 2. Oktober 2017 angenommen wurde.
Am 18. September 2017 legte der Antragsteller dem Bundesamt Kopien einer MR-Untersuchung, eines Radiologieberichts, eines Echokardiografieberichts, Angaben zur Behinderung sowie eine Krankenakte der Aufnahmeeinrichtung vor.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 2017, am 9. Oktober 2017 durch Aushändigung in der Aufnahmeeinrichtung dem Antragsteller zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Lettland an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Lettland aufgrund erteilten Visums gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Lettland würden nicht zu der Annahme führen, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK oder des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta vorliege. Systemische Mängel seien nicht gegeben. Der pauschale Vortrag guter Beziehungen Lettlands zur Türkei reiche hierfür nicht aus. Hinsichtlich einer drohenden Entdeckung durch seine Verfolger in Lettland sei er auf den Schutz durch die lettische Polizei zu verweisen. Etwaige medizinische Behandlungen könnten auch in Lettland durchgeführt werden. In allen Mitgliedsstaaten der Dublinverordnung herrsche grundsätzlich ein vergleichbarer Mindestbehandlungsstandard. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für ein Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland seien nicht ersichtlich. Schutzwürdige Belange für eine weitere Reduzierung des Einreise- und Aufenthaltsverbots seien nicht ersichtlich.
Hiergegen erhob der Kläger am 16. Oktober 2017 Klage und beantragte, den Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2017 aufzuheben (Au 6 K 17.50304. Über die Klage wurde noch nicht entschieden. Darüber hinaus beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2017 nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Der Antragsteller leide unter erheblichen Herzrhythmusstörungen und habe bereits einen Herzinfarkt erlitten. Nach ärztlicher Einschätzung müsse er deshalb zwingend Stress vermeiden, da ansonsten ein erneuter Herzinfarkt zu befürchten sei. Er werde hierzu im Laufe der Woche eine entsprechende ärztliche Bescheinigung vorlegen. Er leide zudem an einer körperlichen Behinderung im Bereich der Füße. Wegen der in Lettland bestehenden schlechten Lage für Menschen mit Behinderung sei zu befürchten, dass er dort menschenunwürdige Bedingungen vorfände. Zwischenzeitlich befänden sich seine Ehefrau und Kinder ebenfalls in Deutschland und hätten dort Asyl beantragt. Die Abschiebung des Antragstellers vor Abschluss des Verfahrens würde die Familie entgegen dem in der Dublin-III-VO verankerten Grundsatz der Familieneinheit trennen. Wegen der guten Beziehungen Lettlands zur Türkei befürchte er, im Rahmen eines beschleunigten Asylverfahrens, in dem Rechtsbehelfe gegen ablehnende Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung hätten, in die Türkei abgeschoben zu werden.
Die Beklagte hat sich bisher zum Verfahren nicht geäußert.
Die Regierung von … als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten am 24. Oktober 2017 vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts ist unbegründet.
1. Das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage tritt gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung zurück.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Aussetzung bzw. die Aufhebung der Vollziehung aufgrund der im Zeitpunkt seiner Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) vorliegenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei die Interessen eines Antragstellers und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung gegeneinander abzuwägen. Besondere Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu, soweit sie im Rahmen der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung bereits beurteilt werden können.
Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus. Nach der im vorläufigen Eilverfahren nur beschränkt möglichen Prüfung und nach derzeitigem Kenntnisstand bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Die diesbezüglich in der Hauptsache erhobene Klage wird voraussichtlich erfolglos sein.
a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Solche Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft im Sinne von § 27 a AsylG finden sich aktuell in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. Nr. L 180 S. 31 – Dublin III-VO).
b) Vorliegend ist davon auszugehen, dass für die Durchführung des Asylverfahrens nach Maßgabe der Dublin III-VO nicht die Antragsgegnerin, sondern die Republik Lettland zuständig ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG). Die Zuständigkeit Lettlands für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz ergibt sich aus Art. 12 Abs. Abs. 4 Dublin III-VO, weil der Antragsteller mit einem von den lettischen Behörden am 3. Juli 2017 ausgestellten, vom 8. Juli 2017 bis 1. August 2017 gültigem Visum nach Lettland einreiste. Dem Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin vom 5. September 2017 hat Lettland am 2. Oktober 2017 stattgegeben.
aa) Die Antragsgegnerin ist nicht wegen eines dem Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO vorgehenden Kriteriums für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutzes zuständig.
Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird dabei von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO.
Im Hinblick auf die Anwendung der in den Art. 8, 10 und 6 (richtig wohl „16“) der Dublin-III-VO genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, Art. 7 Abs. 3 Dublin-III-VO .
bb) Art. 10 Dublin-III-VO ist hier nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift ist für einen Antragsteller, der in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.
Diese Voraussetzungen liegen nach Aktenlage im entscheidungserheblichen Zeitpunkt – hier der Stattgabe des Gesuchs auf Wiederaufnahme am 2. Oktober 2017 (Art. 7 Abs. 3 Dublin-III-VO) – nicht vor. Weder ergeben sich hierfür Anhaltspunkte aus den Akten des Bundesamtes noch aus dem Vortrag des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren. Bei seiner Anhörung nach § 25 AsylG vor dem Bundesamt am 4. September 2017 gab der Antragsteller an, seine Ehefrau und seine vier Kinder befänden sich im Heimatland (Blatt 61 und 66 der Bundesamtsakte). Bei seiner Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylverfahrens am selben Tag machte er keine hiervon abweichenden Angaben (Blatt 71 der Bundesamtsakte). Sonstige Anhaltspunkte für die Einreise der Ehefrau und Kinder des Antragsstellers vor dem 2. Oktober 2017 sind in der Bundesamtsakte nicht enthalten und wurden auch vom Antragsteller nicht substantiiert vorgebracht.
Darüber hinaus wäre erforderlich, dass die Bundesrepublik Deutschland überhaupt für die Prüfung eines der Anträge seiner Familienangehörigen auf internationalen Schutzes zuständig wäre, da andernfalls durch eine gestaffelte Einreise die Zuständigkeitskriterien ausgehebelt werden könnten. Dem steht auch nicht Art. 6 GG entgegen.
Art. 10 Dublin-III-VO dient der Wahrung der Familieneinheit. Er soll damit verhindern, dass Familien getrennt bleiben, weil für die einzelnen Familienmitglieder unterschiedliche Mitgliedsstaaten zuständig sind. Seinem Schutzzweck kann indes nicht entnommen werden, dass er es Antragstellern bei einer gestaffelten Einreise ermöglichen soll, sich jeweils auf den Aufenthalt eines Familienangehörigen in einem für diesen unzuständigen Mitgliedsstaat zu berufen und so dessen Zuständigkeit herbeizuführen, obwohl für alle Familienmitglieder der Mitgliedsstaat nicht zuständig wäre. Art. 10 Dublin-III-VO kommt folglich nur zur Anwendung wenn für die Familienangehörigen unterschiedliche Mitgliedsstaaten und dabei auch derjenige, dessen Zulässigkeitsentscheidung angefochten wird, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sind.
Für eine Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung der Asylverfahren der Ehefrau und Kinder des Antragstellers (Familienangehörige nach Art. 2 Buchst. g) Dublin-III-VO) ergeben sich nach Aktenlage keine Anhaltspunkte. Auch der Antragsteller hat lediglich ausgeführt, die Ehefrau und Kinder des Antragstellers befänden sich mittlerweile in Deutschland, hätten einen Asylantrag gestellt und seien für die Anhörung am 24. Oktober 2017 geladen worden. Weder wurde diese Behauptung durch entsprechende Unterlagen belegt, noch wurden damit Umstände dargelegt, die auf eine Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung ihrer Asylanträge schließen lassen würde.
Durch die oben dargestellte Auslegung des Art. 10 Dublin-III-VO kann es auch nicht zu einer unzulässigen Trennung der Familienangehörigen kommen. So ist der Antragsteller weder nach der Dublin III-VO noch nach innerstaatlichem Recht daran gehindert, gemeinsam mit seinen Familienangehörigen freiwillig in den für ihn nach der Dublin-III-VO zuständigen Mitgliedstaat auszureisen (vgl. ausführlich VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1285/14 – InfAuslR 2014, 452; HessVGH, B.v. 25.8.2014 – 2 A 976/14.A – AuAS 2014, 247; OVG SH, B.v. 7.4.2014 – 2 LA 33/15). Seiner Ehefrau und Kindern steht es frei, die Zuständigkeit Lettlands auch für die Prüfung ihrer Anträge auf internationalen Schutz durch Anwendung des Art. 10 Dublin-III-VO und einer entsprechenden Erklärung herbeizuführen. An einer freiwilligen gemeinsamen Ausreise sind sie dann nicht gehindert (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 28.4.2015 – 11 ZB 15.50065 – juris).
cc) Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich auch nicht aus Art. 11 Buchst. a) Dublin III-VO.
Stellen mehrere Familienangehörige und/oder unverheiratete minderjährige Geschwister in demselben Mitgliedstaat gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Antrag auf internationalen Schutz, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können, und könnte die Anwendung der in dieser Verordnung genannten Kriterien ihre Trennung zur Folge haben, so gilt für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Norm, dass für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz sämtlicher Familienangehöriger und/oder unverheirateter minderjähriger Geschwister der Mitgliedstaat zuständig ist, der nach den Kriterien für die Aufnahme des größten Teils von ihnen zuständig ist.
Aus den Akten ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass die Anträge der Familienangehörigen auf internationalen Schutz gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe gestellt worden sind, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam hätten durchgeführt werden können. Dies ist im Übrigen auch nicht vorgetragen, geschweige denn glaubhaft gemacht worden. Der Antragsteller hat in der Bundesrepublik Deutschland am 10. August 2017 Asyl beantragt. Noch am 4. September 2017 befand sich seine Familie nach dessen Angaben in der Türkei. Bereits am 5. September 2017 wurde das Wiederaufnahmeersuchen an die Republik Lettland gestellt und ist damit in ein Verfahrensstadium eingetreten, das eine gemeinsame Durchführung nicht mehr möglich macht.
Darüber hinaus liegen derzeit auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Anwendung der in der Dublin-III-VO genannten Kriterien die Trennung des Antragstellers und seiner Familie zur Folge haben könnte, wie von Art. 11 Dublin-III-VO weiter vorausgesetzt.
c) Gründe, von einer Überstellung nach Kroatien gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU abzusehen, sind nicht ersichtlich. Diese Vorschrift setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCH mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin-III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
aa) Dieser Regelung liegt das Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris) zugrunde. Danach gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta entspricht. Allerdings ist diese Vermutung widerleglich. Den nationalen Gerichten obliegt die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCH ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist jedoch nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen in dem jeweils zuständigen Mitgliedstaat widerlegt. An die Feststellung systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von derartigen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im betreffenden Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9). Eine tragfähige Grundlage für die Annahme systemischer Mängel dürfte jedenfalls dann vorliegen, wenn hierfür kompetente Stellen wie der UNHCR und das EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, errichtet durch die Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 132 v. 29.5.2010, S. 11) derartige Mängel feststellen.
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung ist nach Überzeugung des Gerichts nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller in Lettland aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. OVG Saarl, B.v. 15.5.2017 – 2 A 410/17 – juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 29.3.2017 – 15 B 16.50080 – juris Rn. 13; VG Ansbach, B.v. 30.12.2015 – AN 14 S. 15.50476 – juris Rn. 29). Auf die angeführten Entscheidungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen; Gegenteiliges hat auch der Kläger nicht substantiiert vorgebracht.
Der vom Antragsteller angeführte Report „Lettland 2017“ von Amnesty International führt zu keiner anderen Bewertung. Für die Beachtung des Non-Refoulement-Gebots ist der jeweilige Mitgliedsstaat verantwortlich. Lettland als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention unterliegt hinsichtlich seines Asylrechtsvollzugs auch mit Blick auf die Türkei keinen schwächeren Rechtsstandards als Deutschland. Dass das Non-Refoulement-Gebot von der Republik Lettland regelhaft defizitär nicht beachtet würde, kann mit Verweis auf die äußerst knappen Ausführungen im Bericht von Amnesty International nicht in Zweifel gezogen werden. So wird im Human Rights Report 2016 des United States Department of State (Bureau of Democracy, Human Rights and Labor) bestätigt, dass das Asylsystem in Lettland grundsätzlich wirksam und zugänglich ist (https://www.state.gov/ documents/organization/265650.pdf, Seite 11). Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller ein solches Verfahren, ggf. unter Ausschöpfung des dortigen Rechtswegs, nicht möglich wäre, wurden nicht dargelegt. Allein möglicherweise guten Beziehungen Lettlands zur Türkei reichen hierfür nicht aus.
Ebenso wenig zeigt der vom Antragsteller angeführte Bericht von Amnesty International eine Gefahr regelhaft defizitärer Aufnahmebedingungen bei Personen wie dem Antragsteller, die im Bereich der Füße an einer Behinderung leiden. Die im Bericht angeführte Besorgnis des Menschenrechtskommissars bezieht sich auf Personen mit Behinderungen, die in speziellen Einrichtungen untergebracht waren, insbesondere die Situation von Kindern mit geistigen oder psychosozialen Einschränkungen. Dies betrifft erkennbar nicht den Fall des Antragstellers, der – wie sich aus seinem Vortrag beim Bundesamt ergibt – nicht auf den Aufenthalt in speziellen Behinderteneinrichtungen angewiesen ist, sondern Probleme bei längerem Stehen und Gehen hat und extra dicke Schuhsohlen benötigt.
d) Für ein Abhängigkeitsverhältnis i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte. Die Behinderung des Antragstellers im Bereich seiner Füße macht ihn voraussichtlich nicht von der Unterstützung seiner Kinder abhängig. Entsprechendes ergibt sich weder aus den Akten, noch wurde diesbezüglich etwas vorgetragen.
e) Aus den genannten Gründen kann der Antragsteller auch keine Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO beanspruchen. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Bei Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO handelt es sich um eine restriktiv zu handhabende Ausnahmebestimmung, die eine Zuständigkeitsübernahme in Fällen ermöglicht, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern. Die Familieneinheit kann gewahrt werden (siehe oben).
f) Die Abschiebung nach Lettland kann auch im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden. Die Feststellung im angefochtenen Bescheid, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ist voraussichtlich rechtmäßig. Der Antragsteller kann sich auf zielstaatsbezogene – bezogen auf Lettland – oder inlandsbezogene Abschiebungsverbote, die in Bezug auf die Abschiebungsanordnung gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemacht werden können (vgl. BayVGH, B.v. 12.10.2015 – 11 ZB 15.50050 – juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 31.5.2011 – A 11 S 1523/11 – juris; OVG Hamburg, B.v. 3.12.2010 – 4 Bs 223/10 – juris), nicht berufen. Die Familieneinheit kann über eine gemeinsame Ausreise nach Lettland sichergestellt werden (siehe oben).
Der Gesundheitszustand des Antragstellers steht der Abschiebung nach Aktenlage nicht entgegen. Insoweit wird auf die zutreffende Begründung des Bescheids des Bundesamtes verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und darüber hinaus ausgeführt: Es ist nicht ersichtlich, dass die behauptete Erkrankung des Antragstellers an Herzrhythmusstörungen die Abschiebung unmöglich macht. Gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, was hier nicht geschehen ist. Die Vorlage eines entsprechenden Attestes wurde für die laufende Woche (16. Oktober 2017 bis 20. Oktober 2017) angekündigt, ist aber bisher nicht erfolgt. Es ist darüber hinaus Aufgabe der mit der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde, diese für den Antragsteller so schonend wie möglich zu gestalten.
Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls war daher der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vor allem im Hinblick auf die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Klage abzulehnen. Besondere Umstände, die die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage entgegen der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides im Wege der Interessenabwägung erforderlich erscheinen ließen, liegen nicht vor.
2. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) stellt sich ebenfalls als voraussichtlich rechtmäßig dar. Wesentliche familiäre Belange – hier der Verbleib seiner Ehefrau und Kinder im Inland zur Durchführung ihres Asylverfahrens – wurden nicht substantiiert dargelegt. Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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