Europarecht

Erfolgreicher Eilrechtsschutz wegen Fristablaufs gegen Überstellung nach Schweden

Aktenzeichen  M 30 SE 20.50574

Datum:
1.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30669
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123
AsylG § 29, § 34a
Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

1. Durch Einlegung des Eilantrages wird die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO unterbrochen, denn dem eingelegten Rechtsbehelf kommt nicht nur hemmende  sondern unterbrechende Wirkung zu. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird ein Eilverfahren nicht durch gerichtliche Entscheidung, sondern durch übereinstimmende Erledigungserklärung beendet, kommt es auf den Zeitpunkt des Zugangs dieser Prozesserklärungen bei Gericht an. (Rn. 22 – 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 5. März 2020 wird angeordnet.
II. Es wird festgestellt, dass die am 3. November 2020 beabsichtigte Abschiebung der Antragsteller nicht durchgeführt werden darf.
III. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren Eilrechtsschutz in Bezug auf unmittelbar bevorstehende Abschiebungsmaßnahmen.
Am 5. März 2020 haben die Antragsteller gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 26. Februar 2020, Gesch.Z. …, mit dem der Asylantrag der Antragsteller nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgrund Zuständigkeit Schwedens nach Dublin III-VO als unzulässig abgelehnt (Nr. 1), das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verneint (Nr. 2) und die Abschiebung nach Schweden angeordnet wurde (Nr. 3), Klage erhoben (M 30 K 20.50202). Hinsichtlich der Einzelheiten wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Bescheidsbegründung verwiesen.
Gleichzeitig mit Klageerhebung hatten die Antragsteller beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Nr. 3 des Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung nach Schweden anzuordnen (M 30 S 20.50203). In Folge einer Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt gemäß § 80 Abs. 4 VwGO erklärte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller mit Schreiben vom 20. April 2020, eingegangen bei Gericht am 24. April 2020, die Hauptsache für erledigt. Das Bundesamt teilte mit Schreiben vom 30. April 2020 auf gerichtliche Anfrage vom 27. April 2020 mit, der Erledigung zuzustimmen. Gemäß Beschluss vom 5. Mai 2020 – M 30 S 20.50203 – wurde das Verfahren eingestellt.
Mit Schreiben vom 17. Juli 2020 teilte das Bundesamt den Widerruf der Aussetzungsentscheidung und ein nunmehr für den 17. Januar 2021 vermerktes Ende der Überstellungsfrist mit.
Nachdem die Antragsteller Kenntnis davon erhielten, dass am 3. November 2020 ihre Abschiebung nach Schweden erfolgen solle, reichte der Prozessbevollmächtigte am 29. Oktober 2020 das vorliegende Begehren auf Eilrechtsschutz ein. Zur Begründung wird im Telefaxen vom 29. Oktober und 31. Oktober 2020 ausgeführt, u.a. dahingehend, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei. Hierbei sei auf den 24. April 2020 als Datum des Eingangs der Erledigungserklärung bei Gericht abzustellen, spätestens dem Datum des Eingangs der Zustimmung zur Erledigungserklärung durch das Bundesamt am 30. April 2020, nicht jedoch auf den nur deklaratorischen Einstellungsbeschluss des Gerichts. Die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes nach § 80 Abs. 4 VwGO sei nicht konform mit der Dublin III-VO und daher rechtlich unwirksam in Bezug auf die Fristberechnung. Im Übrigen berücksichtige die Regierung von Oberbayern weder die extrem verschärfte Corona-Situation insgesamt noch die umgangsweise Schwedens in besonderer Weise und Entwicklung der Pandemie in Schweden, insbesondere angesichts der Vorerkrankung der Antragstellerin zu 1). Ebenfalls unberücksichtigt bliebe die gesundheitliche Verfassung der Antragstellerin zu 1). Diesbezüglich wurde auf das im Klageverfahren vorgelegte Attest vom 25. September 2020 sowie ein beigefügtes, neuerliches Attest vom 29. Oktober 2020 des kbo Isar-Amper-Klinikums Bezug genommen. Danach befinde sich die Antragstellerin zu 1) aktuell in einem psychisch instabilen Zustand, wobei bei Auftreten einer psychisch belastenden Situation jederzeit mit einer Krankheitsexazerbation zu rechnen sei. Die Patientin sei aktuell aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung unfähig, sich selbständig ausreichend um eigene Belange zu kümmern. Ein Ortswechsel, eine Überführung in ein anderes Land oder eine Separation von der Familie werde aktuell psychiatrischerseits als unzumutbar gesehen. Es bestehe die Gefahr der Selbsttötung, welche sie im Falle der Abschiebung aus Deutschland auch angekündigt habe. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Attesten sei seitens des Bundesamtes nicht erfolgt.
Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller beantragt daher:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, es der Regierung von Oberbayern, hilfsweise dem Landesamt für Asyl und Rückführungen vorläufig zu untersagen, die Antragsteller nach Schweden zurückzuschieben.
Das Bundesamt hat mit Stellungnahme vom 14. Oktober 2020 im Klageverfahren zum Attest vom 25. September 2020 u.a. ausgeführt, es läge kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis oder ein inländisches Vollstreckungshindernis vor, da die Behandlung der diagnostizierten Erkrankung im Zielstaat Schweden wegen der Möglichkeit der Weiterbehandlung in Schweden sei eine akute Suizidalität nicht anzunehmen. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, die Überstellung durch ärztliches Personal und/oder Sicherheitspersonal begleiten zu lassen, um das Risiko eventueller akut auftretender Suizidhandlungen zu minimieren. Mit Vermerk vom 30. Oktober 2020 wird ausgeführt, eine Separation von der Familie sei nicht beabsichtigt, ein taggleicher Transfer jedoch aus organisatorischen Gründen nicht möglich. Die durch die Abschiebung des Kindsvaters der Antragsteller zu 2) und 3) und Manns der Antragstellerin zu 1) bereits am 2. November geplante Abschiebung führe nur zu einer vorübergehenden Trennung, die zumutbar sei. Hinsichtlich der erwachsenen Söhne der Antragstellerin zu 1) seien diese von Art. 2 Buchst. g) Dublin III-VO nicht umfasst. Zudem wird zum aktuellen Attest vom 29. Oktober 2020 ausgeführt. Im Hinblick auf etwaige suizidale Tendenzen werde derzeit eine Sicherheitsbegleitung durch zivilgekleidete Frauen geprüft. Telefonisch führte das Bundesamt am 1. November 2020 ergänzend aus, es werde in ständiger Praxis zur Fristberechnung auf das Beschlussdatum bei übereinstimmender Erledigung abgestellt, schon um der Unsicherheit bei einem Widerruf der Erledigungserklärung zu begegnen. Die hemmende Wirkung aufgrund § 34a Abs. 2 AsylG gelte bis zum Einstellungsbeschluss. Sollte das Gericht dennoch insoweit von einem Ablauf der sechs Monate ausgehen, greife aufgrund der zwischenzeitlichen Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO eine weitere Unterbrechung mit Beginn der Neuberechnung erst ab Ende der Aussetzungsentscheidung.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten der Verfahren M 30 SE 20.50574, M 30 S 20.50203 und M 30 K 20.50202 und die – in elektronischer Form beigezogene – Behördenakte des Bundesamtes sowie die beigezogenen Gerichtsakten und Behördenakten der weiteren Familienmitglieder Bezug genommen.
II.
Das antragstellerische Eilrechtsschutzbegehren ist zulässig und begründet, da die Überstellungsfrist nach Dublin III-VO bereits abgelaufen ist.
1. Soweit vorliegend Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO mit dem Begehren, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es der Regierung von Oberbayern, hilfsweise dem Landesamt für Asyl und Rückführungen vorläufig zu untersagen, die Antragsteller nach Schweden zurückzuschieben, erhoben wurde, ist dies – insbesondere aufgrund ausdrücklicher Erklärung des Prozessbevollmächtigten im Telefonat vom 29. Oktober 2020, den Antrag etwaig als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen – vielmehr als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 5. März 2020 zu verstehen.
a) Statthafter Eilrechtsschutz in Bezug auf die fehlende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung ist an sich ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (allg. Meinung), vgl. auch § 34a Abs. 2 AsylG. Soweit in der vorliegenden Konstellation nach einer Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes nach § 80 Abs. 4 VwGO teilweise ein Rückgriff auf § 123 VwGO erfolgt (vgl. VG München, B.v. 14.8.2020 – M 10 K 20.50407; VG Arnsberg, B.v. 28.4.2020 – 9 L 148/20.A), besteht hierfür – auch vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG – aus Sicht des vorliegend erkennenden Gerichts keine Veranlassung, da der sich folgenden Fristproblematik anderweitig begegnet werden kann.
b) Das antragstellerische Begehren wurde fristgerecht bei Gericht erhoben.
Nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Dem haben die Antragsteller durch ihren Eilantrag vom 5. März 2020 zunächst Rechnung getragen (M 30 S 20.50203). Durch die Beendigung dieses Eilrechtsschutzverfahrens – ausgelöst durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt gemäß § 80 Abs. 4 VwGO – ergab sich nach Widerruf dieser Aussetzungsentscheidung (und nunmehr unmittelbar drohender Abschiebung am 3. November 2020) für die Antragsteller die Veranlassung erneuten Eilrechtsschutzes. Dass hierfür vorliegend die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht eingehalten wurde, führt nicht zur Unzulässigkeit des Eilrechtsschutzes. Nach Ansicht des Gerichts greift diese Fristenregelung im vorliegenden Fall nicht, da schon vom Wortlaut her keine – erneute – Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung erfolgt ist. Regelungen, die eine gesetzliche Ausschlussfrist beinhalten, sind jedoch entsprechend eng auszulegen und einer erweiterten oder gar analogen Anwendung nicht ohne weiteres zugänglich. Greift aber nach einer zwischenzeitlichen Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG mit seiner Wochenfrist nicht (mehr), gilt vielmehr die allgemeine, gerade nicht fristgebundene Regelung des § 80 Abs. 5 VwGO. Dies mag den Grundgedanken der Verfahrensbeschleunigung und Rechtssicherheit im Dublin-Verfahren zuwiderlaufen (so VG Arnsberg a.a.O.), ist aber die Folge der Anwendung des § 80 Abs. 4 VwGO durch das Bundesamt, das den „geregelten“ Verfahrensgang i.S.v. des AsylG i.V.m. Dublin III-VO gerade durch die Aussetzungsentscheidung und dessen Widerruf durchbrochen hat. Dies hat dem nach § 34a Abs. 2 AsylG entsprechend – ursprünglich fristgerecht – erhobenen Eilrechtsschutzbegehren den Boden für eine gerichtliche Entscheidung entzogen (vgl. VG München, B.v. 19.5.2020 – M 30 S 20.50174 – nicht veröffentlicht; VG München, B.v. 20.5.2020 – M 19 S 20.50161 – beck-online; str., teilweise wird die Auffassung vertreten, für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO wäre trotz Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO durch das Bundesamt noch ein Raum und Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung (so z.B. VG Arnsberg, a.a.O.)). Dadurch wurde der Weg für eine spätere Verfahrensverzögerung mangels erneuter kurzer Frist für einen weiteren Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO freigemacht. Dies kann nicht zu Lasten der Antragsteller gehen.
Hielte man hingegen die Wochenfrist auch in Konstellationen wie der vorliegenden an sich für einschlägig (vgl. VG München, B.v. 14.8.2020 – M 10 K 20.50407 – beck-online), dürfte es sodann an einer erneuten Rechtsbehelfsbelehrung:i.S.v. § 58 Abs. 2 VwGO – mit der Folge einer Jahresfrist – fehlen (vgl. VG Saarlouis, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – beck-online Rn. 26; vgl. VG Freiburg, B.v. 26.6.2020 – A 10 K 1685/20 – beck-online). Zwar wurde mit der Bescheidsbekanntgabe eine richtige Rechtsbehelfsbelehrung:mit Hinweis auf die Wochenfrist erteilt. Vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG erscheint jedoch eine erneute Belehrung nach Widerruf der Aussetzung der Vollziehung i.S.v. § 80 Abs. 4 VwGO geboten.
2. Der somit zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 26. Februar 2020 mit der nach § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides ist begründet, da die in der Hauptsache erhobene Klage M 30 K 20.50202 voraussichtlich Erfolg hat.
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes abzuwägen hat. Insoweit sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragsteller regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs geht die Interessensabwägung vorliegend zu Gunsten der Antragsteller aus, da für die erhobene Klage gegen den Bescheid vom 26. Februar 2020 aufgrund des maßgeblichen Zeitpunkts (§ 77 Abs. 1 AsylG) nunmehr hohe Erfolgsaussichten erkennbar sind und sich die Abschiebungsanordnung der Antragsteller nach Schweden gemäß § 34a AsylG im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als (mittlerweile) rechtswidrig erweisen wird.
War gemäß der nicht zu beanstandenden Ausführungen des Bundesamtes im Bescheid vom 26. Februar 2020 Schweden zwar für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO, ist die Zuständigkeit jedoch auf die Bundesrepublik Deutschland aufgrund Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO mit Ablauf des 24. Oktober 2020 übergegangen.
a) Durch die Einlegung des Eilantrages vom 5. März 2020 wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO zunächst unterbrochen (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – juris). Dem eingelegten Rechtsbehelf kommt insoweit nicht nur hemmende Wirkung, sondern unterbrechende Wirkung zu (BVerwG, a.a.O. Rn. 11 a.E.).
b) Neubeginn der sechsmonatigen Frist ist entgegen der Auffassung des Bundesamtes jedoch nicht das Datum des Beschlusses vom 5. Mai 2020 im Verfahren M 30 S 20.50203, sondern das Datum des Vorliegens übereinstimmenden Erledigungserklärungen.
Aufgrund der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamtes vom 27. Juni 2017 – Az. 234-7604/1.17 – mit der Zustimmung der Erledigung in der Hauptsache, die nach Auffassung des Gerichts zweifelsfrei auch für Eilverfahren gilt – der Begriff Hauptsache meint das Rechtsschutzbegehren in der jeweiligen Angelegenheit in Abgrenzung zu Nebenentscheidungen über Kosten, Vollstreckbarkeit etc. -, lag somit bereits am 24. April 2020 mit dem Eingang der Erledigungserklärung der Antragsteller per Telefax zugleich eine entsprechende Zustimmung dem Gericht vor. Die spätere verfahrensindividuelle Zustimmung zur Erledigungserklärung durch das Bundesamt vom 30. April 2020 auf das gerichtliche Schreiben vom 27. April 2020 hin, war insofern nicht mehr von Bedeutung.
Wird ein Eilverfahren – wie vorliegend – nicht durch gerichtliche Entscheidung, sondern durch übereinstimmende Erledigungserklärung beendet, hat dies zwar grundsätzlich eine ex-tunc Wirkung, jedoch nicht mit der Folge, dass die unterbrechende Wirkung der Eilantragstellung ex-tunc beseitigt wird, vielmehr fängt die sechsmonatige Überstellungsfrist neu zu laufen an. Zwischen den Beteiligten ist streitig und im vorliegenden Fall streitentscheidend, auf welchen Zeitpunkt genau abzustellen ist.
Nach ständiger Rechtsprechung und allgemeiner Meinung kommt dem Einstellungsbeschluss gemäß § 92 Abs. 3 VwGO analog in Bezug auf die Einstellung des Verfahrens nur deklaratorischer Charakter zu (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.1988 – 4 B 74-98 – beck-online m.w.N.; Zimmermann-Kreher in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2020, § 161 Rn. 12). Vielmehr beendet das Vorliegen übereinstimmender Erledigungserklärungen das Verfahren unmittelbar (BVerwG, U.v. 15.11.1991 – 4 C 27/90 – juris Rn. 20; Clausing in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand 38. EL Januar 2929 § 161 Rn. 17 – beck-online; Brandt in Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Auflage 2018, 5. Die gerichtliche Entscheidung nach übereinstimmender Erledigungserklärung – juris Rn. 50). Dabei kommt es auf den Zeitpunkt des Zugangs dieser Prozesserklärungen bei Gericht an.
Der Wortlaut des § 34a Abs. 2 Satz 3 AsylG steht dem nicht entgegen. Dieser stellt auf eine gerichtliche Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ab, die in den Fällen übereinstimmender Erledigungserklärungen gerade nicht vorliegt.
Der – bereits zitierten – vom Bundesamt in Feld geführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Mai 2016 – 1 C 15/15 – lassen sich für die vorliegende Konstellation nur insoweit Ausführungen entnehmen, dass dem Mitgliedstaat in Fällen der Inanspruchnahme von Rechtsschutz stets die volle Überstellungsfrist zur Vorbereitung und Durchführung zur Verfügung stehen muss (BVerwG, a.a.O. Rn. 11 mit Verweis auf Rechtsprechung des EuGH). Dem kann durch die vorliegend vertretene Ansicht grundsätzlich hinreichend Rechnung getragen werden. Soweit dies in einzelnen Konstellationen um wenige Tage nicht der Fall sein mag, liegt dies im Wesentlichen in der Sphäre der Antragsgegnerin begründet.
Zwar mag es einfacher und praktikabler sein, auf das Datum des Gerichtsbeschlusses abzustellen, aus Gründen der Rechtssicherheit ist dies aber nicht wirklich geboten. Schließlich erhält das Bundesamt einen Abdruck der Erledigungserklärung zur Kenntnis, auf dem sich mitunter bereits der Eingang bei Gericht durch Eingangsstempel oder Telefaxkopfzeile erkennen lässt, bzw. spätestens durch die Ausführungen im Einstellungsbeschluss hinreichend Kenntnis vom zeitlichen Eingang der Erledigungserklärung bei Gericht und kann so die sechsmonatige Frist berechnen. Soweit eine in der Behördenpraxis oftmals vorab erklärte Zustimmung zur zu erwartenden Erledigungserklärung oder eine entsprechend allgemeine Prozesserklärung vorliegen, kann dies in Einzelfällen zu einer Verkürzung der vollen sechs Monate um wenige Tage führen, wenn dem Bundesamt insoweit der genaue Eingang der antragstellerischen Erledigungserklärung (noch) nicht bekannt ist. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass bei allgemeinen Prozesserklärungen in gewisser Weise auch Unwägbarkeiten in Kauf genommen werden. Gleiches gilt bei vorab erteilten Zustimmungen. Soweit das Bundesamt darauf verweist, dass die Möglichkeit eines Widerrufs der Erledigungserklärung im Raume stünde, verfängt dies nicht. Eine solche Konstellation könnte auftreten, wenn keine allgemeine Prozesserklärung oder vorab erteilte Zustimmung vorliegen, da nur bis dahin ein Widerruf überhaupt möglich wäre (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.1991 – 4 C 27/90 – beck-online; BVerwG, B.v. 20.7.1972 – IV CB 13.72 – juris). Wenn es dann aber einer individuellen Zustimmung durch das Bundesamt bedarf, besteht für das Bundesamt die Gewissheit, dass die sechsmonatige Frist jedenfalls nicht vor Abgabe ihrer Zustimmung zur Erledigungserklärung innerhalb von zwei Wochen, vgl. § 92 Abs. 1 Satz 3 entspr. VwGO, beginnt, so dass die vollen sechs Monate verbleiben. Der genaue Zeitpunkt für die Fristberechnung ist dann dem Einstellungsbeschluss zu entnehmen bzw. bei der mittlerweile üblichen Übermittlung per EGVP durch das Bundesamt dem entsprechenden Protokoll über den Eingang auf dem Server des Gerichts.
Lagen am 24. April 2020 somit übereinstimmende Erledigungserklärungen bei Gericht vor, die das Eilverfahren beendeten und den Beginn der Überstellungsfrist erneut in Gang setzten, endete die Überstellungsfrist gemäß Art. 42 Buchst. b Satz 1 Dublin III-VO mit Ablauf des 24. Oktober 2020.
c) Die im vorliegenden Verfahren aufgrund der Corona-Pandemie erfolgte zwischenzeitliche behördliche Aussetzung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO vermochte nicht, die Überstellungsfrist zu unterbrechen.
Insoweit schließt sich das Gericht der überzeugenden – überwiegenden – Meinung anderer Gerichte an und nimmt auf die dortigen Begründungen Bezug (vgl. VG München, B.v. 7.7.2020 – M 2 K 19.51274 – juris; VG München, GB.v. 28.9.2020 – M 11 K 20.50073 nicht veröffentlicht; OVG Schleswig-Holstein, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – beck-online; VG Saarlouis, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – beck-online; VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 – A 9 K 343/20 – beck-online; VG Ansbach, B.v. 23.7.2020 – AN 17 E 20.50215 – bzw. U.v. 23.9.2020 – AN 14 K 18.50955 – je beck-online; VG Würzburg, U.v. 11.8.2020 – W 8 K 19.50795 – beck-online; VG Aachen, U.v. 10.6.2020 – 9 K 2584/19.A – beck-online; a.A. VG Gießen, B.v. 8.4.2020 – 6 L 1015/20.GI.A; VG Stade, B.v. 14.4.2020 – 1 B 1487/19 – nicht veröffentlicht; VG Berlin, B.v. 16.7.2020 – VG 28 L 203/20 A – beck-online; BAMF in Entscheiderbrief 09/2020).
3. Im Übrigen hat das Gericht Zweifel daran, ob die beabsichtigte getrennte Abschiebung der Antragsteller vom Mann und Kindsvater mit der Folge, dass die Antragstellerin zu 1) für mindestens anderthalb Tage mit den noch minderjährigen Kindern auf sich gestellt wäre, angesichts der hinreichend attestierten psychisch instabilen Verfassung der Antragstellerin zu 1) noch zumutbar gewesen wäre. Jedenfalls hätte es nicht nur für die Dauer der tatsächlichen Abschiebung einer Sicherheitsbegleitung und Begleitung durch medizinisches bzw. psychologisches Personal bedurft, sondern für den gesamten Zeitraum ab Trennung der Familie in den frühen Stunden des 2. November 2020 bis zur Zusammenführung in Schweden einer je situationsadäquat bemessenen, mitunter engmaschigen psychologischen Betreuung.
4. Angesichts der bereits unmittelbar bevorstehenden Abschiebung sah sich das Gericht veranlasst, ergänzend festzustellen, dass die Abschiebungsmaßnahme am 3. November 2020 nicht erfolgen darf.
5. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben