Europarecht

Fristverlängerung wegen Flucht

Aktenzeichen  M 19 K 19.50509

Datum:
8.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14680
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 2
AsylG § 15,§ 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
VwGO § 102 Abs. 2, § 124, § 124 a Abs. 4
VwVfG § 48, § 49, § 51 Abs.1 S.1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 19 K 19.50510 2020-01-08 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Der Klageantrag ist gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als Antrag auszulegen, die Beklagte zum Wiederaufgreifen des durch den bestandskräftigen Bescheid vom 30. August 2018 abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens zu verpflichten. Denn die bloße Anfechtung des Bescheids vom 26. April 2019 ändert an der bestandskräftigen Entscheidung der Beklagten vom 30. August 2018 nichts und bringt den Kläger seinem in der Sache verfolgten Rechtsschutzziel, die Beklagte im Ergebnis zu verpflichten, ihm u.a. Flüchtlingsschutz zu gewähren, nicht näher. Ist eine Abschiebungsanordnung bestandskräftig geworden, muss der Betroffene in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen, wenn er eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage geltend machen will (vgl. BayVGH, B.v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810 – juris Rn. 5 m.w.N.; VG Ansbach, B.v. 14.11.2019 – AN 17 S 19.51068 – juris Rn. 22; VG München, B.v. 27.2.2019 – M 11 E 19.50113 – juris Rn. 10). Lehnt – wie hier – die Beklagte das Wiederaufgreifen ab, ist in der Hauptsache insoweit eine Verpflichtungsklage statthaft, die darauf gerichtet ist, die Beklagte zum Wiederaufgreifen und damit zu einer (ersten) Prüfung asylrechtlicher Ansprüche zu verpflichten.
2. Diese zulässige Verpflichtungsklage ist allerdings nicht begründet.
Ein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens gemäß § 51 VwVfG ist nicht ersichtlich. Weder aus dem Vortrag des Klägers noch aus anderweitigen Anhaltspunkten lässt sich eine Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung erkennen, die eine neue Beurteilung unter den Voraussetzungen des § 51 VwVfG veranlassen könnten.
Nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind (Nr. 3).
a) Im vorliegenden Fall ist keiner der in dieser Vorschrift genannten Wiederaufgreifensgründe gegeben. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass sich die dem Bescheid vom 30. August 2018 zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Klägers geändert hätte.
Es ist insbesondere nicht die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – Dublin III-VO – zwischenzeitlich abgelaufen (vgl. VG Regensburg, B.v. 13.3.2019 – RO 9 E 19.50172 – juris Rn. 25; VG München, U.v. 16.12.2015 – M 12 K 15.50788 – juris Rn. 21). Die Beklagte hat die Überstellungsfrist mit Schreiben vom 22. Februar 2019 an das italienische Innenministerium zulässigerweise wegen Flüchtigseins auf 18 Monate verlängert. Die Überstellungsfrist endet damit erst am 20. Februar 2020.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 75) genügt für eine Verlängerung der Überstellungsfrist, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist – hier am 28. Februar 2019 – den zuständigen Mitgliedstaat – hier mit Schreiben vom 22. Februar 2019 – darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. Liegt der Tatbestand des Flüchtigseins einmal vor, so kann eine Verlängerung bis zur Maximalfrist erfolgen, auch wenn der Betreffende später wieder bei den Behörden erscheint (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris-Rn. 133).
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Überstellungsfrist u.a. auf höchstens 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Dadurch, dass der Kläger im Zeitpunkt der geplanten Abholung (am 22. Februar 2019) abwesend war, war er „flüchtig“. Der Begriff des „Flüchtigseins“ wird in der Dublin III-VO nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH (U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn.70) ist eine Person flüchtig, „wenn sie sich den für die Durchführung ihrer Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln“ (so auch: VG Regensburg, B.v. 2.4.2019 – RO 5 S 19.50123 – juris Rn. 22; VG Bayreuth, B.v. 30.1.2019 – B 8 S 19.50007 – juris). Der EuGH verlangt demnach ausdrücklich als subjektives Motiv die Entziehung vor der Überstellung und lässt es insoweit für ein Flüchtigsein nicht genügen, „dass diese Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne dass die Behörden über ihre Abwesenheit informiert worden sind, so dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann“ (Rn. 50). Umgekehrt verlangt er aber nicht, dass durch die „Fluchthandlung“ die Person für die staatlichen Stellen in jeder Hinsicht unerreichbar ist. Das notwendige subjektive Motiv darf vermutet werden (Rn. 62), wenn die Person die Wohnung verlassen und – trotz Belehrung hierüber – gegebenenfalls eine Erlaubnis hierzu nicht eingeholt und die Behörden nicht informiert hat (Rn. 64).
Das schließt aber nicht aus, dass das maßgebliche Entziehungsmotiv auch durch anderweitige Umstände nachgewiesen werden kann. Zwar wird eine Abwesenheit für eine nur kurze Zeit (etwa für einen Arztbesuch, einen Einkauf oder eine sonstige private Erledigung) grundsätzlich nicht für die Annahme, der Kläger sei flüchtig, genügen (vgl. VG Bayreuth, U.v. 23.10.2017 – B 3 K 17.50068 – juris Rn. 40; VG Greifswald, U.v. 28.2.2017 – 5 A 143/16 As HGW – juris Rn. 22; VG Berlin, B.v. 25.1.2018 – 31 L 586.17 A – juris Rn. 13; VG Aachen, B.v. 21.11.2017 – 6 L 1601/17.A – juris Rn. 9). Denn weder kann vom Kläger erwartet werden, sich rund um die Uhr in der Einrichtung aufzuhalten, noch ist er verpflichtet, jede auch noch so kurze Abwesenheit anzuzeigen. Etwas anderes gilt aber, wenn im Einzelfall weitere Umstände hinzutreten, die ein anderes Ergebnis rechtfertigen. So liegt es hier. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Kläger über die geplante Überstellung nach Italien informiert und aufgefordert worden war, sich ab einer bestimmten Uhrzeit zur Verfügung zu halten (Schreiben vom 25. Januar 2019, zugestellt am 29. Januar 2019). Die gleichwohl von der Polizei festgestellte – und von Kläger auch eingeräumte – Abwesenheit stellt bereits ein starkes Indiz dafür dar, dass sich der Kläger durch seine Abwesenheit der Überstellung entziehen wollte. Ist dem Kläger die geplante Überstellung bekannt, so obliegt es ihm im Rahmen der Mitwirkungspflicht nach § 15 AsylG, plausibel darzulegen, dass er nicht flüchtig war, indem er konkret ausführt, wann er sich wo zu welchem Zweck aufgehalten haben, und diese Angaben gegebenenfalls unter Beweis zu stellen (vgl. VG Minden, Beschluss vom 16. März 2018 – 10 L 258/18.A – juris Rn. 22; VG Cottbus, Beschluss vom 05. Juni 2018 – 5 L 212/18.A – juris Rn. 16).
Vorliegend trägt der Kläger vor, dass er sich zusammen mit seiner Ehefrau (der Klägerin im Verfahren M 19 K 19.50510) in die Gebetsräume im Untergeschoss seines Wohngebäudes begeben habe. Dies habe er nach seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung getan, weil er nicht nach Italien überstellt werden und insoweit Gott um Hilfe bitten wollte, dass ihn die Polizei nicht finde. Damit hat der Kläger das subjektive Merkmal des Flüchtingseins erfüllt. Er hat sich, wenngleich auch im gleichen Gebäude, an einem anderen als dem ihm auferlegten Aufenthaltsort aufgehalten, gerade damit er nicht überstellt werde. Er hat nicht vorab mitgeteilt, wo er sich aufhält. Es besteht auch keine Pflicht der Behörden, etwa das gesamte Gebäude zu durchsuchen oder sich jedenfalls in den allgemein bekannten Aufenthaltsräumen – wozu möglicherweise auch die Gebetsräume gehören – nach dem Kläger umzusehen, zumal die Gebetsräume sich im Untergeschoss und damit in nicht unerheblicher Entfernung zum Wohnraum des Klägers befand. Es kommt dabei nicht darauf an, ob etwa wegen des Antreffens der zehnjährigen Tochter des Klägers die Behörden vermuten dürften, dass der Kläger diese nicht längerfristig alleine lässt und insoweit zurückkehren wird. Es wäre die Obliegenheit des Klägers gewesen, sicherzustellen, dass während seiner Abwesenheit eintreffende Behördenmitarbeiter über seinen Aufenthaltsort informiert werden – sei es durch eine schriftliche Nachricht oder durch entsprechende (erfolgreiche) Instruktion eines anderen Mitbewohners. Hieran fehlt es. Es ist daher davon auszugehen, dass sich der Kläger durch seine Abwesenheit gezielt und bewusst dem Zugriff entzogen hat, um seine Überstellung zu verhindern. Er war daher flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
Die Überstellungsfrist wurde zulässigerweise verlängert und Italien ist daher verpflichtet, den Kläger innerhalb der auch derzeit noch laufenden Überstellungsfrist wieder aufzunehmen.
b) Die Abschiebung nach Italien kann auch im Sinne des § 34a AsylG weiterhin durchgeführt werden. Abschiebungshindernisse sind nicht erkennbar.
c) Andere nach Eintritt der Bestandskraft des Bescheids vom 30. August 2018 entstandene Gründe, welche die Annahme einer Änderung der Sach- oder Rechtslage zu Gunsten des Klägers im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG oder eine Aufhebung des Bescheids nach §§ 48, 49 VwVfG zu tragen vermögen und daher einer Überstellung nach Italien entgegenstehen könnten, bestehen ebenfalls nicht. Von systemischen Mängeln im italienischen Asylsystem ist grundsätzlich nicht auszugehen (vgl. BayVGH, B.v. 9.9.2019 – 10 ZB 19.50024 – juris Rn. 5), vorliegend auch deshalb nicht, weil der Kläger nicht als vulnerable Person anzusehen ist.
d) Über seine Verpflichtung nach § 51 VwVfG hinaus hat das Bundesamt zu Gunsten des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 VwVfG geprüft. Nach § 48 VwVfG kann die zuständige Behörde einen rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakt ungeachtet seiner Bestandskraft im Ermessenswege innerhalb eines Jahres jederzeit zurücknehmen. Einen Anspruch hierauf hat der vom Bescheid Betroffene grundsätzlich jedoch nicht. Ein solcher ergäbe sich nur im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null, die hier in keiner Weise erkennbar ist (vgl. VG Ansbach, B.v. 14.11.2019 – AN 17 S 19.51068 – juris Rn. 23).
3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).


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