Europarecht

Kindererziehungszeiten in der BRD – Gewöhnlicher Aufenthalt

Aktenzeichen  S 18 R 1185/14

Datum:
8.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 70923
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Abs. 3, § 307d Abs. 1
SGB I SGB I § 30 Abs. 3 S. 2

 

Leitsatz

Die Abgrenzung des gewöhnlichen Aufenthaltes im In- und Ausland im Zusammenhang mit Kindererziehungs und Berücksichtigungszeiten nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. (amtlicher Leitsatz)
2 Ein den Anspruch begründender gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wäre gem. § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I nur dann gegeben, wenn der erziehende Elternteil und das Kind bei Beginn und während der Dauer der Erziehungszeit faktisch den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse dauerhaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gehabt hätten. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage gegen die Bescheide vom 8. August 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2014 und 13. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015 wird abgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Die Klage hat keine Aussicht auf Erfolg.
Die von der Klägerin erhobenen Klagen gegen die Bescheide der Beklagten sind als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (vgl. dazu Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 16.06.2015, Az B 13 R 24/14 R; BSGE 99, 122 = SozR 4-2600 § 201 Nr. 1; BSG SozR 4-2600 § 57 Nr. 1 RdNr. 11) statthaft und auch sonst zulässig, jedoch unbegründet.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sowohl die Ablehnung des Überprüfungsantrags auf Anerkennung der Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten für den Zeitraum vom 01.12.1978 bis 15.03.1980 für das am 1978 geborene Kind D. (vgl. hierzu 1.), als auch die Ablehnung der Gewährung eines Zuschlages an persönlichen Entgeltpunkten für die Kindererziehung dieses Kindes (vgl. hierzu 2.), ist weder in formeller noch in materieller Hinsicht zu beanstanden.
1. Die Klägerin hat zur vollen Überzeugung der Kammer keinen Anspruch auf Anerkennung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten für das Kind D., geboren am 1978, in dem Zeitraum vom 01.12.1978 bis 15.03.1980, da die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 i. V. m. § 56 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) nicht vorliegen und auch kein Ausnahmetatbestand gemäß § 56 Abs. 3 S. 2 SGB VI gegeben ist.
Zur vollen Überzeugung der Kammer ist im streitgegenständlichen Zeitraum weder eine Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, noch liegt ein Tatbestand vor, der einer solchen Erziehung gleichsteht. Der Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), der auf die Anerkennung dieser Zeiten gerichtet war, wurde zu Recht abgelehnt, auch der Bescheid vom 09.10.1990 ist insoweit nicht zu beanstanden.
Nach § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VI sind Kindererziehungszeiten Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Gemäß § 56 Abs. 1 S. 2 SGB VI wird für einen Elternteil eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn
1. die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
2. die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht
3. der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.
Streitig zwischen den Beteiligten ist in diesem Zusammenhang ausschließlich, ob die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat, bzw. wo im streitgegenständlichen Zeitraum der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des § 56 Abs. 3 S. 1 SGB VI i. V. m. § 30 Abs. 3 S. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) der Klägerin und ihrer Tochter gewesen ist.
Zur Überzeugung der Kammer lag nach Würdigung der Ergebnisse der Ermittlungen und der mündlichen Hauptverhandlung ein gewöhnlicher Aufenthalt im streitgegenständlichen Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland nicht vor. Vielmehr hatte die Klägerin ihren Wohnsitz und den gewöhnlichen Aufenthalt mit ihrem Kind D. in Mexiko City.
Gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.
Unter Zugrundelegung der Abmeldebescheinigung der Meldebehörde der Gemeinde B. vom 14.11.1978, die der Bevollmächtigte selbst vorgelegt hatte, meldete sich die Klägerin ab dem 13.11.1978 samt Kinder ab und gab als ersten Wohnsitz Mexiko City an. Unstreitig zwischen den Beteiligten erfolgte die Rückkehr nach Deutschland erst wieder am 19.03.1980. Weiterhin gab die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 07.07.2016 bzw. im Schriftsatz vom 11.03.2015 an, dass sich ihr Mann vor dem Verzug der Klägerin nach Mexiko City nur zum Zwecke einer Fortbildung zeitlich befristet in Deutschland aufhielt. Da sein eigentlicher fester Arbeitsplatz bei der Firma S. in Mexico bestand, musste dieser, als das Training in Deutschland beendet war, arbeitsbedingt wieder nach Mexiko zurückkehren, daher erfolgte der Umzug nach Mexiko.
Ein den Anspruch begründender gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wäre nur dann vorgelegen, wenn der erziehende Elternteil und das Kind bei Beginn und während der Dauer der Erziehungszeit faktisch den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse dauerhaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gehabt hätten (s.a. Gürtner in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 89. EL März 2016, Rn. 44 – 45).
Durch den Wegzug nach Mexiko wurde der faktische Schwerpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin und deren Tochter während der Erziehungszeit aber dauerhaft vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach Mexiko City verlagert.
Soweit der Bevollmächtigte vorträgt, dass mit dem Wegzug kein gewöhnlicher Aufenthalt in Mexiko City begründet wurde, kann dies die Kammer nicht überzeugen.
Die Dauerhaftigkeit des Aufenthaltes ist dann gegeben, wenn und solange dieser nicht auf Beendigung angelegt ist, also zukunftsoffen ist (Gürtner, a. a. O.). Ausschlaggebend bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit sind zunächst nur die tatsächlichen Umstände während der streitigen Kindererziehungszeit. Ein Domizilwille, der mit den tatsächlichen Umständen nicht übereinstimmt, ist dabei rechtlich unerheblich (BSG, Az. 5 RJ 28/94 in NZS 1995, S. 468; BSGE 70, 138 = BeckRS 1992, 304112; BSG SozR 3 – 5850 § 3c Nr. 2), genauso wie tatsächliche oder rechtliche Änderungen, auch solche im Leistungszeitraum (BSG SozR 3 – 2600 § 56 Nr. 7).
Im Zeitpunkt des Umzugs war, auch unter Zugrundelegung des Vortrags des Bevollmächtigten, nicht klar, ob und wann der Klägerin eine Rückkehr nach Deutschland möglich ist. Der Verbleib in Mexiko war objektiv nicht während der streitgegenständlichen Kindererziehungszeit auf eine Beendigung – anders als der zeitlich befristete Aufenthalt des Mannes der Klägerin in Deutschland – ausgelegt. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob der Mann der Klägerin, wie vom Bevollmächtigten im Schriftsatz vom 11.03.2015 vorgetragen, „zeitnah“ nach seiner Rückkehr einen neuen Antrag auf „Entsendung“ gestellt habe. Denn zum einen stellt sich die Frage, warum dieser Antrag nicht bereits vor dem Umzug gestellt worden ist, wenn die Eheleute ohnehin nicht dauerhaft in Mexiko leben wollten. Zum anderen ändert dieser Antrag auch nichts an der „Zukunftsoffenheit“ des Aufenthalts im Ausland, da nicht klar war, wann und ob diesem Antrag des Ehemanns überhaupt entsprochen wird.
Auch die behaupteten Besuche in Deutschland und die behauptete Pflege der Mutter der Klägerin rechtfertigen nach Auffassung der Kammer keine andere Beurteilung, denn vorübergehende Aufenthalte, z. B. zu Urlaubs-, Besuchs- oder Behandlungszwecken ändern nichts an der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. auch BSG, Az. 5 RJ 28/94 in NZS 1995, 468; BSGE 70, 138 = BeckRS 1992, 304112; BSG SozR 3 – 5850 § 3c Nr. 2).
Festzuhalten ist daher, dass im streitgegenständlichen Zeitraum ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland nicht vorgelegen und somit ein Anspruch gemäß § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 i. V. m. § 56 Abs. 3 S. 1 SGB VI in materieller Hinsicht nicht bestand.
Auch ein Anspruch gemäß § 56 Abs. 3 S. 2 SGB VI auf Anerkennung der Zeiten liegt nicht vor.
Die Gleichstellung einer tatsächlich im Ausland erfolgten Erziehung mit einer inländischen ist nach § 56 Abs. 3 S. 2 SGB VI nur dann möglich, wenn sich der erziehende Elternteil mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort, also im Ausland, ausgeübten Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten im Inland hat. Die hierfür erforderliche Entsendung der Klägerin bzw. in Anwendung der erweiternden Auslegung durch das Bundessozialgerichts ausreichende „Quasi-Entsendung“ wurde weder dargelegt, noch ist eine solche aktenkundig.
Ein Anspruch auf Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten im streitgegenständlichen Zeitraum liegt daher nicht vor.
2. Ein Anspruch auf Gewährung eines Zuschlages an persönlichen Entgeltpunkten für die Kindererziehung für das Kind D., geboren am 1978, gemäß § 307d Abs. 1 SGB VI ist ebenfalls nicht gegeben. § 307d Abs. 1 SGB VI lautet:
„(1) Bestand am 30. Juni 2014 Anspruch auf eine Rente, wird ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehung für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind berücksichtigt, wenn
1. in der Rente eine Kindererziehungszeit für den zwölften Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt angerechnet wurde,
2. kein Anspruch nach den §§ 294 und 294a besteht.“
Da der Klägerin im zwölften Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt der Tochter der Klägerin D. keine Kindererziehungszeit zustand, ist das Tatbestandsmerkmal des § 307d Abs. 1 Nr. 1 SGB VI nicht erfüllt.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Klägerin weder die Voraussetzungen für eine Kindererziehungszeit noch für den Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehung im geltend gemachten Zeitraum bezüglich der Tochter D. erfüllt.
Da sich die Bescheide der Beklagten somit als rechtmäßig erwiesen haben, ist die Klage insgesamt abzuweisen.
II.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben