Europarecht

Kostenerstattung zwischen Trägern der Jugendhilfe

Aktenzeichen  W 3 K 18.1380

Datum:
29.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 13721
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 86 Abs. 1 S. 3, § 86c Abs. 1, § 89 Abs. 1, § 34
SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
SGB X § 108 Abs. 2, § 113 Abs. 1
SGB XII § 111
BGB § 203

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für das Kind A… F… vom 1. Januar 2012 bis zum 15. Februar 2013 angefallenen Jugendhilfekosten in Form der Heimerziehung in Höhe von 45.343,79 EUR zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat die Beklagte 8/13 und die Klägerin 5/13 zu tragen.
III. Der Gerichtsbescheid ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO konnte das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Die Parteien sind hierzu ordnungsgemäß angehört worden.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Erstattungsbegehren der Klägerin über die Summe von 73.003,91 EUR, welche sie für die Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung zugunsten des Kindes A.F. im Zeitraum vom 19. April 2011 bis zum 15. Februar 2013 aufgewendet hat, zuzüglich einer entsprechenden Verzinsung.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Zwar ist der gesamte geltend gemachte Erstattungsanspruch in Höhe von 73.003,91 EUR entstanden; hinsichtlich der das Jahr 2011 betreffenden Kosten in Höhe von 27.660,12 EUR hat sich die Beklagte jedoch zu Recht auf die Einrede der Verjährung berufen, so dass diese insoweit berechtigt ist, die Leistung zu verweigern, und die Klägerin lediglich noch 45.343,79 EUR die Jahre 2012 und 2013 betreffend geltend machen kann. Insoweit ist der Klage stattzugeben, im Übrigen ist sie abzuweisen. Hinsichtlich des geltend gemachten Zinsanspruchs ist sie zur Gänze abzuweisen.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen die Beklagte in Höhe von 73.003,91 EUR. Dies ergibt sich aus § 86 Abs. 1 Satz 3, § 86c Abs. 1 Satz 1, § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch – und hierzu gehört auch die Leistung einer Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung gemäß § 27, § 34 SGB VIII – der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Lebt – wie im vorliegenden Fall – nur ein Elternteil, so ist nach § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII dessen gewöhnlicher Aufenthalt maßgebend. Wechselt die örtliche Zuständigkeit für eine Leistung, so bleibt gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII der bisher zuständige örtliche Träger solange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Allerdings sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen dieser Verpflichtung nach § 86c aufgewendet hat, gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist.
So liegt der Fall hier.
Gemäß § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII ist die Klägerin für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gemäß § 27, § 34 SGB VIII zugunsten von A.F. mit dem Umzug der Kindsmutter am 1. März 2009 in das Stadtgebiet C. zuständig geworden. Demzufolge hat sie den Fall vom zuvor örtlich zuständigen Landkreis Coburg übernommen und mit Bescheid vom 1. Juli 2009 u.a. zugunsten von A.F. die entsprechende Jugendhilfeleistung gewährt. Diese Zuständigkeit endete mit der Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts der Kindsmutter in C.zum 1. Januar 2010, dem Zeitpunkt, zu dem die Kindsmutter etwa die Stadt C. verließ und unbekannten Aufenthalts und im Hinblick auf einen vollstreckbaren Haftbefehl flüchtig war, ohne dass sie einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hätte.
Damit wechselte die örtliche Zuständigkeit (wohl – hierauf kommt es für die Entscheidung des vorliegenden Falls jedoch nicht an -) zunächst gemäß § 86 Abs. 5 Satz 3 i.V.m. § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zum Landkreis Coburg, in dessen Bereich das Kind A.F. vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Streitig zwischen den Parteien ist die Frage, ob die Kindsmutter mit Beginn ihrer Inhaftierung in der JVA W. am 19. April 2011 bis zu ihrer Entlassung am 15. Februar 2013 im Bereich der Beklagten einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Diese Frage ist zu bejahen.
Für das Sozialrecht wird der gewöhnliche Aufenthalt in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I bestimmt. Hiernach hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Prägend ist damit das subjektive Kriterium des zukunftsoffenen oder geplant dauerhaften Verbleibs und das objektive Kriterium der Umstände, die erkennen lassen, dass die Person an dem Ort oder in dem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Dies ist allein im Wege einer vorausschauenden Betrachtung zu ermitteln. Neben dem zukunftsoffenen Verbleiben ist zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch erforderlich, dass der Betroffene dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Stets setzt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eine tatsächliche Aufenthaltsnahme voraus (Eschelbach in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 86 Rn. 2 und 3 m.w.N.; Loos in Wiesner, SGB VIII, Kommentar, 5. Aufl. 2015, § 86 Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 23.12.2015 – 12 B 12.1761 – juris Rn. 61 und 62 m.w.N.).
Der gewöhnliche Aufenthalt kann auch in einer Einrichtung wie z.B. einer Justizvollzugsanstalt begründet werden, da insbesondere Zwang und Unfreiwilligkeit die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht ausschließen (BVerwG, B.v. 8.12.2006 – 5 B 65/06 – juris LS und Rn. 2); allerdings kann ein gewöhnlicher Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt noch nicht während der Untersuchungshaft begründet werden (BVerwG, U.v. 29.9.2010 – 5 C 21/09 – juris LS 3 und Rn. 28), da dies (funktional) keine dem Strafvollzug dienende Einrichtung ist (vgl. hierzu § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII).
Bei der Frage, ob im Rahmen einer Strafhaft in einer Justizvollzugsanstalt ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S. des § 86 SGB VIII, § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I begründet werden kann, kommt es sowohl auf die Dauer der Strafhaft als auch auf die äußeren Umstände an. Bei kurzfristigen Freiheitsstrafen von etwa einem Jahr Dauer ist nicht ohne Weiteres von der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts am Haft-Ort auszugehen (BayVGH, B.v. 12.2.2008 – 12 ZB 07.921 – juris Rn. 9). Demgegenüber hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (B.v. 19.4.2000 – 12 ZB 98.2862 – juris Rn. 4) bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe, die nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt wird, einen Aufenthalt bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibens in der JVA und damit einen dortigen gewöhnlichen Aufenthalt angenommen (vgl. auch BVerwG; U.v. 29.9.2010 – 5 C 21.09 – JAmt 2011, S. 279, 280 für eine siebenjährige Strafhaft bei vollständigem Abbruch der Beziehungen zu den vorigen Aufenthaltsorten). Hinsichtlich der äußeren Umstände ist darauf abzustellen, ob die betreffende Person trotz Inhaftierung ihre Wohnung beibehält oder in Zeiten von Hafturlauben an den früheren Wohnort zurückkehrt (BayVGH, B.v. 12.2.2008 – 12 ZB 07.921 – juris Rn. 9) oder ob alle Brücken nach draußen abgebrochen worden sind (Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 86 Rn. 14).
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ergibt sich, dass die Kindsmutter im betreffenden Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der JVA W. hatte.
Die Kindsmutter hat sich vom 19. April 2011 bis zum 15. Februar 2013 in der JVA W. in Strafhaft aufgehalten, also über einen Zeitraum von einem Jahr und knapp zehn Monaten. Hierbei handelt es sich tendenziell um einen eher kurzen Zeitraum, der als solcher ohne Berücksichtigung der weiteren Lebensumstände – anders als bei einer beispielsweise 15-jährigen Freiheitsstrafe – nicht ohne Weiteres zur Annahme führen kann, der Betroffene habe auf dieser Grundlage einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt begründet.
Allerdings ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Kindsmutter zum 1. März 2009 in das Stadtgebiet der Klägerin gezogen ist, sich anschließend für drei Monate im Landkreis Bamberg und für einige Tage in München aufgehalten hat, vom 21. Oktober 2009 bis etwa Ende des Jahres 2009 bei ihrer Mutter in C. gewohnt hat und anschließend bis zu ihrer Inhaftierung im April 2011 unbekannten Aufenthalts war. Dies macht deutlich, dass sie an keinem dieser Orte dauerhafte Beziehungen aufgebaut hätte, welche in gewisser Weise gefestigt (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2010 – 5 C 21.09 – Jamt 2011, 279 ff., Rn. 23) und über die Zeit der Inhaftierung hinweg tragfähig gewesen wären.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Kindsmutter ab Beginn des Jahres 2010 sämtliche Beziehungen zu ihrem bisherigen Umfeld in C. abgebrochen hat. Sie war ab diesem Zeitpunkt unbekannten Aufenthalts und hat sich damit auch einem Haftbefehl entzogen. Kontakte zu ihrer eigenen Mutter, ihrer Schwester und ihren Kindern waren nicht (mehr) vorhanden. Eine eigene Wohnung hat sie in C. nicht (mehr) unterhalten, selbst von noch vorhandenem Hausrat oder anderem persönlichen Eigentum, welches noch in C. vorhanden gewesen wäre, ist nichts bekannt.
Zudem ist nicht erkennbar, dass die Kindsmutter zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 6. April 2011, dem Zeitpunkt ihrer Inhaftierung (zunächst in der JVA Ch.) anderorts einen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hätte. Diesbezügliche ausführliche Ermittlungen der Klägerin einschließlich der Befragung möglicher Bezugspersonen der Kindsmutter haben zu keinem Ergebnis geführt. Weitere konkrete Ermittlungsmöglichkeiten konnte die Beklagte von der Klägerin nicht verlangen, insbesondere nicht eine Befragung der Kindsmutter, die schon vor Geltendmachung des Anspruchs der Klägerin bei der Beklagten erneut unbekannten Aufenthalts war.
Zudem ist zu beachten, dass selbst der Polizei, die seit Anfang 2010 gegen die Kindsmutter einen Haftbefehl vollstrecken wollte, deren Aufenthalt bis April 2011 nicht ermitteln konnte. Mehr kann die Beklagte von der Klägerin nicht verlangen (vgl. zur gesamten Problematik: BayVGH, B.v. 23.12.2015 – 12 B 12.1761 – juris Rn. 47).
All dies macht deutlich, dass schon vor Beginn der Strafhaft nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv keinerlei Bindungen nach C. mehr vorhanden waren.
Zudem ist nichts erkennbar, was dafür spräche, dass die Kindsmutter während der Strafhaft den eigentlichen Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen in C. oder andernorts außerhalb Würzburgs verortet hätte. Soziale Bezüge aus der Strafhaft heraus nach C. oder andernorts sind nicht ersichtlich. Dass insbesondere keine Beziehungen nach C. vorhanden waren, ist auch daraus erkennbar, dass sie sich nach der Haftentlassung zunächst lediglich kurzzeitig in einer sozialtherapeutischen Einrichtung aufgehalten hat und dann nicht in die Stadt C., sondern für vier Monate in den Landkreis C. gezogen ist und anschließend erneut unbekannten Aufenthalts war.
All dies macht deutlich, dass die Kindsmutter sowohl vor ihrer Inhaftierung als auch nach der Haftentlassung in keinerlei gefestigten Strukturen und sozialen Bezügen gelebt hat, die konkrete Anhaltspunkte dafür gäben, sie hätte während der Dauer der Haftzeit in der JVA W. andernorts einen gewöhnlichen Aufenthalt.
Hieraus ergibt sich, dass die Kindsmutter mit ihrer Inhaftierung in der JVA W. am 19. April 2011 einen gewöhnlichen Aufenthalt in Würzburg begründet hat, dies im Sinne eines dortigen zukunftsoffenen Verbleibs, ohne dass es sich lediglich um ein dortiges vorübergehendes Verweilen gehandelt hätte. Dieser gewöhnliche Aufenthalt wurde mit der Haftentlassung und dem Wegzug aus Würzburg beendet, da keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass die Kindsmutter trotz anderortigen Verweilens hier weiterhin den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen hätte haben wollen.
War aber die Klägerin bis Ende des Jahres 2009 gemäß § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII die örtlich zuständige Trägerin für Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung für A.F. und leistete sie trotz eines örtlichen Zuständigkeitswechsels (zunächst zum Landkreis C., anschließend) ab dem 19. April 2011 bis zum 15. Februar 2013 hin zur Beklagten auf der Grundlage von § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII weiter, so hat sie für diesen Zeitraum auf der Grundlage von § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen entsprechenden Erstattungsanspruch gegen die Beklagte.
Dieser Anspruch ist auch nicht gemäß § 111 Satz 1 SGB X erloschen. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 27.4.2017 – 5 C 8/16 – juris; U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris) kommt es hinsichtlich des Beginns der Ausschlussfrist auf den Ablauf des letzten Tages, an dem die jeweilige Gesamtleistung im Sinne dieser Vorschrift erbracht worden ist, an. Im vorliegenden Fall ist dies der 31. März 2016, der Tag, zu welchem die Klägerin mit Bescheid vom 21. März 2016 die Hilfe der Erziehung zugunsten von A.F. eingestellt hat. Da die Klägerin ihren Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten am 27. Dezember 2016 geltend gemacht hat, ist dieses innerhalb der Jahresfrist des § 111 Satz 1 SGB X erfolgt, so dass der diesbezügliche Erstattungsanspruch nicht erloschen ist.
Allerdings kann die Klägerin diesen Erstattungsanspruch für die im Jahr 2011 aufgewendeten Leistungen in Höhe von 27.660,12 EUR gegenüber der Beklagten nicht mehr geltend machen, weil diese sich der Klägerin gegenüber insoweit zu Recht auf die Einrede der Verjährung berufen hat.
Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjähren Erstattungsansprüche in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. In Fällen der vorliegenden Art trifft aber der erstattungspflichtige Leistungsträger keine Entscheidung über seine Leistungspflicht im Sinne dieser Vorschrift. In Kostenerstattungsfällen nach § 89c Abs. 1 SGB VIII trifft im Verhältnis zum Hilfeberechtigten allein der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger eine Entscheidung über einen Leistungsanspruch, nicht aber der (nur) erstattungspflichtige Träger. Damit kann der erstattungsberechtigte Leistungsträger auch keine Kenntnis von einer solchen Entscheidung erlangen und von daher ist die in § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X getroffene Verjährungsregelung in Fällen der vorliegenden Art nicht unmittelbar anwendbar (OVG Saarland, U.v. 23.5.2012 – 3 A 410/11 – juris Rn. 31).
Allerdings galt nach § 113 Abs. 1 SGB X in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung eine Verjährungsfrist von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch entstanden ist. Die Änderung der Vorschrift hin zu der nunmehr gültigen Fassung war Folge der durch das 4. Euro-Anpassungsgesetz vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1983) eingeführten Neufassung des § 111 Satz 2 SGB X; beide Vorschriften sollten kompatibel gestaltet werden (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 3.12.2009 – 12 BV 08.2147 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Damit ist die Regelung des § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X in der derzeit gültigen Fassung hinsichtlich des Beginns der Verjährungsfrist lückenhaft, wenn – wie im vorliegenden Fall – im Erstattungszeitraum lediglich der bisher zuständige erstattungsberechtigte Träger gegenüber dem Hilfeempfänger tätig geworden ist und sodann im Innenverhältnis gegenüber dem zuständig gewordenen Träger einen Erstattungsanspruch geltend macht.
Diese Regelungslücke ist nicht beabsichtigt. Den Gesetzesmaterialien ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Kostenerstattungsansprüche nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII von den Bestimmungen über die Verjährungsfrist bzw. über deren Beginn willentlich ausgenommen hat (BayVGH, U.v. 3.12.2009, a.a.O., juris Rn. 18 und 20; OVG Saarland, U.v. 23.5.2012 – 3 A 410/11 – juris Rn. 42).
Diese hinsichtlich des Verjährungsbeginns bestehende unbeabsichtigte und damit planwidrige Regelungslücke ist mangels einer Regelung im Kinder- und Jugendhilferecht durch eine entsprechende Anwendung der sozialhilferechtlichen Verjährungsvorschrift des § 111 Abs. 1 SGB XII zu schließen mit der Folge, dass die vierjährige Verjährungsfrist in Fällen der vorliegenden Art nach Ablauf des Kalenderjahrs beginnt, in dem der Kostenerstattungsanspruch entstanden ist. Denn § 111 Abs. 1 SGB XII regelt den Verjährungsbeginn für im Hinblick auf die zu entscheidende Interessenlage vergleichbare Fälle und kann deshalb zur Lückenschließung herangezogen werden (BayVGH, U.v. 3.12.2009 – a.a.O. – juris Rn. 21; OVG Saarland, U.v. 23.5.2012 – a.a.O. – juris Rn. 45 und 46 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 26.11.2014 – OVG 9 B 59.11 – juris; VG Würzburg, U.v. 24.1.2013 – W 3 K 11.1060 – juris).
Demgegenüber ist für eine entsprechende Anwendung des § 195 BGB schon deshalb kein Raum, weil diese Vorschrift lediglich die nach bürgerlichem Recht geltende regelmäßige Verjährungsfrist bestimmt, nichts jedoch zum Beginn der Verjährungsfrist enthält. Auch die Anwendung des Art. 71 AGBGB scheidet aus, da sich die Verjährung vermögensrechtlicher Ansprüche von Hoheitsträgern nach dem jeweils sachnäheren speziellen Recht richtet, das hier mit einer entsprechenden Anwendung des § 111 Abs. 1 SGB XII besteht, zumal Landesrecht zur Schließung einer im Bundesrecht enthaltenen unbeabsichtigten Regelungslücke nicht herangezogen werden kann (BayVGH, U.v. 3.12.2009 – 12 BV 08.2147 – juris Rn. 22 m.w.N.).
Nach § 111 Abs. 1 SGB XII verjährt der Anspruch auf Erstattung der aufgewendeten Kosten in vier Jahren, beginnend nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem er entstanden ist. Hierbei ist abschnittsweise auf das jeweilige Jahr abzustellen, in welchem die Leistung erbracht worden ist (VG Bayreuth, U.v. 15.6.2016 – B 3 K 15.1001 – juris Rn. 60; Schoch in LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 111 Rn. 2).
Auf dieser Grundlage beginnt die Verjährung für den Erstattungsanspruch hinsichtlich der im Jahr 2011 erbrachten Leistungen nach Ablauf des Jahres 2011; sie endet regelmäßig nach Ablauf des Jahres 2015. Der Erstattungsanspruch für die im Jahr 2012 erbrachten Leistungen verjährt regelmäßig (Verjährungsbeginn nach Ablauf des Jahres 2012) nach Ablauf des Jahres 2016, der Erstattungsanspruch für die im Jahr 2013 erbrachten Leistungen (Verjährungsbeginn nach Ablauf des Jahres 2013) regelmäßig nach Ablauf des Jahres 2017.
Allerdings ist diesbezüglich zu beachten, dass die jeweilige Verjährung gehemmt werden kann und sich damit der Eintritt der Verjährung verschiebt.
Nach § 113 Abs. 2 SGB X gelten für die Hemmung, die Ablauf-Hemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.
Grundlegend ist hierbei die Vorschrift des § 203 BGB. Schweben hiernach zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Nach Satz 2 der Vorschrift tritt die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung ein. Nach § 209 BGB wird der Zeitraum, währenddessen die Verjährung gehemmt ist, in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet.
Der Begriff des Schwebens von Verhandlungen ist weit auszulegen. Zunächst muss der Gläubiger seine Forderung gegenüber dem Schuldner geltend machen und darlegen, worauf er sie stützt. Anschließend ist für das Schweben von Verhandlungen ein Meinungsaustausch zwischen Schuldner und Gläubiger erforderlich, der den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen betrifft und der den Gläubiger annehmen lassen kann, sein Begehren werde vom Schuldner inhaltlich geprüft und nicht endgültig abgelehnt. Eine formularmäßige Bestätigung des Eingangs des Schreibens des Gläubigers reicht hierfür allerdings nicht, ebenso wenig wie eine reine Höflichkeitsfloskel als Reaktion auf dieses Schreiben. Demgegenüber ist es für das Schweben von Verhandlungen hinreichend, wenn der Schuldner den Gläubiger auffordert, ihm weitere Details zu nennen, damit er den Sachverhalt prüfen kann (Ellenberger in Palandt, BGB, Kommentar, 79. Aufl. 2020, § 203 Rn. 2 und 4; Lakkis in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, juris PK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 203 BGB [Stand: 26.6.2019] Rn. 4 bis 6).
Schweben Verhandlungen in diesem Sinne, wirkt die Hemmung grundsätzlich auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Gläubiger seinen Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend gemacht hat (BGH, B.v. 19.12.2013 – IX ZR 120/11 – juris LS und Rn. 2; Grothe in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 203 Rn. 8; vermittelnd: Lakkis in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 203 BGB [Stand: 26.6.2019] Rn. 10: Rückwirkung des Beginns der Verjährungshemmung auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger zumindest dann, wenn der Schuldner alsbald, also zeitnah, auf die Gläubigeranforderung eingegangen ist). Die Hemmung der Verjährung endet durch die Verweigerung der Fortsetzung von Verhandlungen, was durch ein klares und eindeutiges Verhalten einer der Parteien zum Ausdruck kommen muss (Ellenberger, a.a.O., Rn. 4).
Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass die Verjährung für den das Jahr 2011 betreffenden Erstattungsanspruch nach Ablauf des Jahres 2015 eingetreten ist, denn bis zu diesem Zeitpunkt hat sich die Klägerin nicht an die Beklagte gewandt und den Anspruch geltend gemacht. Die Beklagte hat sich mit Schreiben vom 6. April 2018 auf die Verjährung berufen, so dass ihr damit ein Leistungsverweigerungsrecht zusteht und die Klägerin den Anspruch nicht mehr geltend machen kann.
Hinsichtlich der die Jahre 2012 und 2013 betreffenden Erstattungsansprüche ist die Verjährung gehemmt worden, so dass diese Ansprüche nicht verjährt sind.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 22. Dezember 2016, bei der Beklagten am 27. Dezember 2016 eingegangen, ihre Ansprüche hinreichend klar und deutlich geltend gemacht. Dieses Schreiben benennt den Anspruch und erläutert die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen. Hierauf hat die Beklagte mit Schreiben vom 9. Januar 2017, also alsbald, reagiert und um Übersendung der Jugendhilfeakten gebeten, „um über die Anerkennung der Kostenerstattungspflicht entscheiden zu können“. Bereits dieser Antwort durfte die Klägerin die Absicht der Beklagten entnehmen, den geltend gemachten Anspruch inhaltlich überprüfen zu wollen. Dies gilt umso mehr, als die Beklagte im selben Schreiben hinsichtlich eines Kostenerstattungsanspruchs bezüglich der weiteren Kinder der Kindsmutter (zu Recht) auf die Ausschlussfrist des § 111 SGB X verwiesen hat, nicht jedoch hinsichtlich des Kindes A.F.. Mit Eingang dieses Schreibens bei der Klägerin schwebten bereits Verhandlungen im Sinne des § 203 Satz 1 BGB. Weitere Hinweise der Beklagten zu ihrer Bereitschaft, die geltend gemachte Forderung inhaltlich zu prüfen, finden sich in deren Schreiben vom 8. Februar 2017 (Anforderung weiterer im Einzelnen genannter Informationen) und vom 20. April 2017 (Bitte um Geduld, da über die Kostenerstattung bislang noch nicht abschließend entschieden worden sei). Auch im Schreiben vom 19. Dezember 2017 bat die Beklagte um weitere Unterlagen „zur weiteren Überprüfung“. Demgegenüber ist in diesem Schreiben entgegen der Meinung der Beklagten noch keine endgültige Zurückweisung des geltend gemachten Anspruchs und damit die Beendigung der Verjährungshemmung zu sehen. Diesbezüglich beruft sich die Beklagte auf den letzten Absatz des gut zweiseitigen Schreibens, wonach sie bis zu einer schlüssigen Darlegung des Gegenteils nicht von einem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter während der Inhaftierung in der JVA W. in W. ausgehe. Denn gerade die schlüssige Darlegung des Gegenteils wurde in diesem Schreiben zuvor thematisiert und hierzu weitere Unterlagen angefordert. Deshalb durfte die Klägerin annehmen, die Beklagte wolle den Fall nochmals prüfen, wenn die Klägerin entsprechende schlüssige Darlegungen vornehme.
Erst mit dem darauffolgenden Schreiben vom 6. August 2018 hat sich die Beklagte erstmals auf Verjährung berufen und trotz Vorlage weiterer Ausführungen seitens der Klägerin (Schreiben vom 29.8.2018) unter dem 12. Oktober 2018 an ihrer ablehnenden Rechtsauffassung „festgehalten“. Erst durch diese Vorgänge musste der Klägerin klar sein, dass die Beklagte nicht zu weiteren Verhandlungen bereit war, so dass mit Eingang des Schreibens bei der Klägerin am 9. August 2018 die Hemmung der Verjährung endete.
Allerdings hat die Klägerin vor Ablauf der in § 203 Satz 2 BGB genannten Drei-Monats-Frist am 25. Oktober 2018 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben, wodurch gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB erneut eine Hemmung eingetreten ist.
Die Hemmung aufgrund der Geltendmachung des Anspruchs mit Schreiben vom 22. Dezember 2016 und der sich anschließenden alsbaldigen entsprechenden Verhandlungen wirkt zurück auf den Zeitpunkt des Eingangs des Schreibens vom 22. Dezember 2016 bei der Beklagten am 27. Dezember 2016, so dass die Erstattungsansprüche für die in den Jahren 2012 und 2013 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen noch nicht verjährt sind und die Klägerin diese geltend machen kann.
Die Höhe der geltend gemachten Ansprüche hat die Klägerin in einer ausführlichen Aufstellung vom 9. November 2018 monatsweise aufgeschlüsselt auf 73.003,91 EUR beziffert. Diese Kosten, die die Beklagte schon zuvor im Rahmen der vorgenommenen Akteneinsicht in die komplette Jugendhilfeakte erfassen konnte, hat diese nicht im Einzelnen bestritten oder in Frage gestellt. Aus dieser auch für das Gericht nachvollziehbaren Aufstellung ergibt sich, dass die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 27.660,12 EUR für den Zeitraum vom 19. April 2011 bis zum 31. Dezember 2011 geltend gemacht hat. Insoweit beruft sich – wie oben dargelegt – die Beklagte zu Recht auf Verjährung und insoweit war die Klage abzuweisen. Der für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 15. Februar 2013 geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch beläuft sich auf 45.343,79 EUR; insoweit kann sich die Beklagte – wie oben dargelegt – nicht auf Verjährung berufen, so dass die Klägerin ihn geltend machen kann und die Beklagte insoweit zu einer entsprechenden Leistung zu verurteilen war.
Der auf der Grundlage von § 108 Abs. 2 SGB X geforderte Zinsanspruch steht der Klägerin nicht zu. Nach dieser Vorschrift ist ein Erstattungsanspruch der Träger der Eingliederungshilfe, der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe von anderen Leistungsträgern für bestimmte im Einzelnen genannten Zeiträume auf Antrag mit Vier vom Hundert zu verzinsen.
Dieser Verzinsungsanspruch zugunsten ausschließlich der in der Vorschrift genannten Leistungsträger auf der untersten Stufe des Systems der sozialen Sicherung bezweckt den Schutz der finanziellen Leistungsfähigkeit dieser Leistungsträger, die keinen finanziellen Nachteil dadurch erleiden sollen, dass sie häufig als „Vorschusskasse“ der anderen Sozialleistungsträger in Anspruch genommen werden (BVerwG, U.v. 22.2.2001 – 5 C 34/00 – juris Rn. 9). Deshalb besteht dieser Zinsanspruch nicht bei Erstattungsansprüchen unter gleichgeordneten Leistungsträgern, sondern nur bei Erstattungsansprüchen gegenüber – so § 108 Abs. 2 Satz 1 SGB X wörtlich – „anderen Leistungsträgern“. Ausgeschlossen ist damit ein Zinsanspruch im Verhältnis der in § 108 Abs. 2 Satz 1 SGB X aufgezählten Leistungsträger untereinander (Burkiczak in Schlegel/Voeltzke, jurisPK-SGB X, Stand: 26.10.2018, § 108 Rn. 31 m.w.N.).
Da die Klägerin als örtlich zuständig gewesene Trägerin der Jugendhilfe Ansprüche gegen die Beklagte als später zuständig gewordene Trägerin der Jugendhilfe geltend macht, somit also gegen einen gleichgeordneten Leistungsträger, kann sie sich auf § 108 Satz 2 SGB X nicht berufen. Insoweit war die Klage abzuweisen.
Aus alledem ergibt sich, dass die Beklagte zu verurteilen ist, der Klägerin die für das Kind A.F. im Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 15. Februar 2013 angefallenen Jugendhilfekosten in Höhe von 45.343,79 EUR zu erstatten. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 2 Satz 2 ZPO.


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